Von Robert Reitz
Man kannte sie als ‘die irre Irmi’.
Diesen Namen hatte sie schon lange und nicht erst seit dem Ereignis mit den zwei Schwerverletzten im Zug, in welchem sie aus metaphysischen Gründen unterwegs gewesen war.
Für ein wenig seltsam wurde sie schon gehalten, seit sie eine Jugendliche war; damals rauchte sie Äpfel und Pilze, hörte aber mit Anfang zwanzig damit auf, weil sie eben genug davon hatte, rund um die Uhr das gesamte Sonnensystem zu verstehen.
In dem Häuschen, das sie von ihrem ersten Mann geerbt hatte, lebte sie schon, seit sie dreiundzwanzig war. Und etwa zu dieser Zeit wurde sie das erste Mal die irre Irmi genannt, weil sie ihren Vorgarten überdachte, damit sie bei strömendem Regen ihr Gemüse gießen konnte, ohne dabei nass zu werden.
Kinder hatte sie keine, obwohl sie bis zum Schluss mit siebzehn Männern aus sieben verschiedenen Ländern zusammen gewesen war, die großteils und mittendrin plötzlich verschwunden waren. Sieben von ihnen starben stets während des Abendessens eines natürlichen Todes, was auch die Obduktionen bestätigten, und von den anderen konnte keiner mehr gefunden werden, obwohl die Polizei ab der vierten Vermisstenmeldung mit Hunden den Wald durchforstete und ein halbes Dutzend Mal ihren Garten umgraben ließ. Immer wenn das geschah, nutzte Irmi die Gelegenheit und legte zusätzliche Krautbeete an, damit die Arbeit der Polizei nicht umsonst gewesen war.
Keiner ihrer Männer hatte sich genügend geeignet, mit ihr zusammen den menschlichen Genpool zu verbessern, weshalb die Erzeugung von Nachkommen wiederholt aufgeschoben werden musste. Als gottesfürchtige Frau hielt sie sich, obwohl das alles wilde Ehen waren, eisern an das Gebot Bis dass der Tod euch scheidet – aber ewig Zeit hat ja eben auch keiner.
Nach ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag verlagerte sie ihre Lebenskraft von den Männern wieder auf den Garten, was ihren Ruf als ‘irre Irmi’ zementierte, wozu wesentlich beitrug, dass auf ihrem Grundstück mehrfach Hunde und Katzen aus der Nachbarschaft in die Luft geflogen waren – bis die Polizei ihr schließlich die Sicherung des Geländes mit Tretminen untersagte.
Kurz danach beschloss sie, die Mystik in den Mittelpunkt ihres Daseins zu rücken und war die erste Person, die in der Gemeindekirche von Rödlingen Hausverbot bekam, wofür sie nur einen einzigen Besuch des Gottesdiensts benötigte.
Irmi stellte im Laufe ihrer Teilnahme berechtigte Fragen, die thematisch Jesus und die Dinosaurier betrafen. Wenn es Gott hauptursächlich um die Menschen ging, fragte sie während der Eucharistie laut in die Runde der Experten, warum hatte er zunächst hundertsiebzig Millionen Jahre lang seine Zeit mit den Dinosauriern verplempert? Da nölten sofort einige blöd herum, dass sie still sein müsse, und der Pfarrer schien nicht erfreut über ihre Frage. Weswegen sie gleich die Zweite stellte. Warum hatte Gott, fragte sie, wenn er viele unterschiedliche Völker erfunden habe, nachfolgend nur eins davon als sein Volk auserwählt – und auch nur diesem einen seinen Lieblingssohn geschickt, um jene fröhliche Botschaft zu verkünden? Und den ganzen anderen eben nicht? Den Indianern und den Chinesen beispielsweise? Sodass all diese erst mühselig als Heiden weiterleben mussten, bevor sie es beigebracht bekamen? In ihren Augen war das Zeitverschwendung oder vielleicht war Gott auch nur ein fauler Sack.
Daraufhin fand sie sich, aus dem Gotteshaus für immer hinausgeworfen, auf dem Rödlinger Friedhof wieder, der sich rund um die Rödlinger Kirche erstreckte.
Bitterlich enttäuscht von der mangelhaften Gesprächsbereitschaft der christlichen Glaubensgemeinschaft, entsann sie sich eines buddhistischen Mönchsklosters im Umfeld der Nachbarstadt, das sie aufzusuchen gedachte, um dort Antworten auf ihre Fragen zur Schöpfung zu erhalten. Das Kloster erreichte sie jedoch nicht, weil die Fahrt mit der Privatbahn Rödlingen-Rödelsbach eine unerfreuliche Entwicklung nahm. Schuld daran war allein, tat Irmi später kund, dass sie vor dem Mittagessen losgefahren sei, noch mit leerem Magen, was eben nicht vernünftig ist und zu einem Notfall führen kann. Schon Minuten nach der Abfahrt habe sie ein Mordshunger gepackt. Irmi kramte, zur Mahlzeit fest entschlossen, aus ihrem Lederranzen das Weißbrot und die Picksalami, hielt aber inne, als sie das Schild erblickte, das da im Wagen hing.
“Das war der schuldige Grund”, erläuterte sie bei der Vernehmung den Tathergang. “Ebendarum musste ich aufstehen und bin zur Notbremse hingegangen und hab die gezogen und hab dann auch gleich schon mein Klappmesser, das mir der Uwe hinterlassen hat, aufspringen lassen und habs eben so in der Faust … mit was soll ich denn sonst die Salami schneiden? Und wieso hätte ich das wissen müssen, dass der Schaffner inzwischen hinter mir steht?”
Während sie sich umdrehte, habe der Zug mit einem gewaltigen Ruck gebremst, wodurch sich, weil der Schaffner nach vorn stolperte, die Klinge in seinen Hals gebohrt habe; danach war er umgekippt, sodass sie ihm aufhelfen wollte und zugegebenermaßen nicht mehr daran dachte, dass sie ja das Messer noch in der Hand hielt, mit dem sie ihm dann unwillentlich ein paar Finger der linken Hand abtrennte; vor Wut schleuderte sie das doofe Klappmesser schwungvoll weg und habe natürlich nicht direkt in die Richtung geschaut, in die sie es schleuderte, und wo aus reinem Pech diese Frau saß, aber immerhin sei das Messer nicht allzu tief in deren Hinterkopf eingedrungen, sondern nur oberflächlich stecken geblieben. Insgesamt war es aber doch ein Glück, dass Irmi schon vorher die Notbremse gezogen hatte; so war der Rettungsdienst schnell da (und die Polizei leider auch wieder).
“Und was stand auf dem Schild?”, fragte der Beamte. “Weshalb Sie die Notbremse zogen?”
“Während der Fahrt nicht essen!”, antwortete Irmi. “Und daran hab ich mich gehalten!”
V3, ca 5800