Von Sabrina Schultheis

„Hallo? Ist da jemand?“.

Ich blieb ruhig. Ich lag in einem kahlen Raum, steinern und feucht. Müsste die Wand meinen Ruf nicht eigentlich mit einem grauen Echo zurückwerfen? „Hallo?“, rief ich erneut und lauschte- kein Ton. Während ich versuchte, einen Laut wahrzunehmen, merkte ich etwas völlig Unerwartetes: Schmerzen. Ich hatte schreckliche Schmerzen, sie überzogen meinen gesamten Körper. Ich atmete ruhig und versuchte, mich zu konzentrieren.

Wo war ich? Wie war ich hierhingekommen? Und woher genau kamen meine Schmerzen?

Völlige Überforderung wollte mich übermannen. Ich konnte kaum noch atmen, als läge mir ein riesiger Stein auf der Brust. Ich wurde hektisch und versuchte verzweifelt, mehr Luft zu bekommen. Doch plötzlich schoss mir ein wichtiger Gedanken durch den Kopf: Dagegen atmen! Ich hielt für mehrere Sekunden die Luft an und versuchte dann, bewusst möglichst langsam zu atmen. Währenddessen fühlte es sich an, als würden meine Lungen explodieren, doch ich wusste, nur so würde ich wieder Kontrolle erlangen. Ich würde mich jedem Problem nacheinander widmen. Zuerst die Schmerzen: Sie schienen im Hals zu beginnen, aber nicht nur dort pochte es ekelerregend. Mein Kopf hämmerte, meine Fesseln zogen, mein Rücken quälte mich.

Die nächsten beiden Fragen waren miteinander verbunden: Wo war ich? Wie war ich hierhingekommen? Alleine hatte ich mich mit Sicherheit nicht in diese Situation gebracht, jemand musste mich übermannt haben.

War da nicht vorhin noch dieses nette junge Mädchen? Dieses blonde sympathische Ding, das mich… das mich gewaschen hatte…

 

Sie atmete dreimal tief ein und aus, erst dann hatte sie den Mut, den eisernen Schlüssel im Schloss zu drehen und die schwere Türe nach innen aufzuschieben. „Ich möchte ihr helfen. Wenn ich es mache, dann macht es kein anderer. Wenn ich es mache, habe ich die Chance, es auf eine nette Art und Weise zu tun.“, redete sie sich ein. Doch als sie den dunklen und beinahe leeren Raum erneut sah, erstarb ihre Atmung. Sie spannte all ihre Muskeln an, um wieder Kontrolle über sie zu erlangen, dann trat sie endlich ein. Sie sah die Patientin, das arme Ding, auf der Liege gefesselt. Mit angsterfüllten Augen sah sie sie an. „Ich bin hier, um mich um dich zu kümmern, ja? Du musst wirklich keine Angst vor mir haben.“. Doch die Beklommenheit schienen zwischen den beiden Frauen hin und her zu wabern und in beiden nur zu wachsen.

 

Da war sie wieder. Sie sah so nett aus, aber warum sperrte sie mich hier ein? „Hilf` mir doch!“, wollte ich auf ihren kläglichen Versuch, mich zu beruhigen, antworten. Ich sollte keine Angst haben? Das grenzte ja schon ans Lächerliche. Ich war hier an kaltes Metall gefesselt, das Mädchen kam urplötzlich rein und sagte mir, ich solle keine Angst haben.

 

„Du musst aufhören, so zu zappeln, sonst wird es nur viel schlimmer. Ich kann dir nicht helfen, wenn du so unruhig bist.“ Langsam und bedächtig ging sie auf die Patientin zu. Sie hielt den Waschlappen hoch, so dass sie ihn sehen konnte. Dann würde sie sicher schon verstehen, dass sie da war, um sie zu waschen.

Ruhig und behutsam begann sie nun ihre Aufgabe, währenddessen sprach sie auf den Menschen ein, den sie behandelte: „Ich fange hier an deinem Hals an. Oh weh, das sieht schrecklich aus, du musst unermessliche Schmerzen haben. Aber weißt du, ich habe das ja schon mehrfach erlebt und ich weiß, wenn die Wunde erst einmal verheilt ist, dann kannst du fast wieder ein normales Leben führen.“

„Normales Leben?“, wollte ich schreien, „spinnst du?“ Kein Wort drang aus meinem Mund, ich konnte nicht sprechen und das würde ich auch nie wieder können! Was sollte das für ein Leben sein? Wild zappelte ich herum, sie musste mir zuhören! Sie musste mich verstehen und vor allen Dingen musste sie eines: Mir helfen!

„Hey, bitte bleib ruhig liegen! Deine Hände schmerzen sonst nur noch mehr. Was willst du denn?“. Eigentlich war ihr die Antwort auf diese Frage klar, denn was ihre Patientin wollte, war doch klar zu erkennen, auch ohne jeden Laut. Sie wollte hier weg, sie wollte gerettet werden, sie wollte wieder sprechen können. Sie verstand all das- aber sie konnte es nicht ändern, obwohl sie gewollt hätte. Sie drehte sich um, sie musste nachsehen, ob sie beobachtet wurde. Dann entschloss sie sich dazu, ehrlich zu sein. Sie ging und schob die schwere Tür zu, so dass sie beide alleine waren, dann setzte sie sich auf den Rand der Metallpritsche.

„Pass auf, es ist so: Wir haben einfach keine Chance.“

„Wo sind wir? Was ist hier los?“ schienen die Augen ihrer Patientin zu fragen. „Wir sind hier eingesperrt. Er… weißt du… er ist Arzt und sein Ziel ist eigentlich wirklich ein großes… Nur leider sind seine Methoden- nun ja, sagen wir mal: gewöhnungsbedürftig.“

„Wo bist du?“, gellte ein sonorer Ton durch die Katakomben. „Er hat mich erwischt!“, sie sprang auf und begann hektisch und lieblos, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Sie wischte hart mit dem Waschlappen über ihren Arm. Die Türe öffnete sich und im grellen Licht des Raumes davor stand eine große und dunkle Gestalt, die im wahrsten Sinne teuflisch wirkte. Eigentlich dachte sie, sie hätte sich mittlerweile an den Anblick gewöhnt, doch je mehr sie über ihn erfuhr, desto schrecklicher wirkte er auf sie. „Was machst du da?“, fragte er in unwirschem Ton. Unterwürfig antwortete sie ihm: „Nur das, was Sie verlangten. Sie sagten, ich solle die Patientin waschen.“ „Richtig! Waschen habe ich gesagt, vom Reden habe ich hingegen nichts gesagt. Du weißt genau, du sollst schweigen.“ „Bitte verzeiht!“ Mit einem kurzen „Geh!“ verscheuchte der Teuflische die Pflegerin. Schnell sammelte sie die Waschutensilien zusammen und verschwand geräuschlos.

 

Nun war ich also mit diesem Wesen alleine. Seine Aura war kalt und gruselig und ich wusste genau, dass ich ihm hilflos ausgeliefert war. „Na, dann wollen wir doch mal sehen…“, begann er und untersuchte mich genau. Seltsamerweise fing er an den Füßen an, er kitzelte mich, als wollte er meine Reflexe testen, gab einige „Hm“ und „Aha“ von sich und notierte eifrig etwas auf einem dreckigen Blatt Papier.

Als er an meinem Bauch angekommen war, konnte ich einen Blick auf den Zettel erhaschen, doch die Kürzel, die er nutzte, kannte ich nicht. „Was machen Sie da?“, wollte ich schreien, doch nur ein kehliger Atmer drang aus meinem Munde.

Er untersuchte auch noch den Rest meines Körpers, verharrte besonders lange an meiner Kehle und drehte sich mit dem letzten Strich seiner Notizen um und verließ den Raum wieder. Er ließ die Türe geöffnet und so sah ich das Loch der Freiheit genau, doch ich konnte es einfach nicht erreichen. Plötzlich stand die nette blonde Pflegerin wieder da, auch sie hatte Stift und Zettel in der Hand.

„Ab jetzt ist er für den Rest des Tages außer Haus, so viel steht fest. Pass auf, ich habe dir etwas mitgebracht. Auf diese Zettel hier schreibe ich alle Buchstaben des Alphabets, ja? Und damit können wir dann reden.“

„Reden? Wie soll das denn funktionieren?“, dachte ich, doch blieb mir nichts Anderes übrig und so ließ ich sie weiter erklären.

„Kannst du deine Hände anheben? Nur ein bisschen?“ Ich versuchte und schaffte es. „Das ist toll, jetzt machen wir das so: Ich zeige immer auf einen Buchstaben, wenn du den meinst, hebst du die rechte Hand, wenn nicht, dann die linke. Wir probieren es mal mit deinem Namen, ja?“

Nein, nein, ja, nein, nein, nein, nein, nein, ja… So manövrierten wir uns durch das Alphabet, bald schon hatte ich meinen Namen buchstabiert. „Hallo Clara.“, sagte die Pflegerin, „mein Name ist Elisabeth. So, jetzt hast du die Möglichkeit, mich etwas zu fragen.“ Die Frage, die ich stellen wollte, war kurz und knapp: Wo?

„Wo wir sind? Wir sind in einer kleinen Klinik, die der Herr Professor gerade aufbaut.“

Warum?

„Warum er die Klinik aufbaut? Tatsächlich um den Menschen zu helfen. Er übt und lehrt hier das Umsetzen von Organen, so dass die Männer, die für uns an der Front kämpfen, geheilt werden können.“

Warum ich?

„Warum gerade du auserwählt wurdest? Das ist eigentlich ganz einfach. Er sucht gerade nach Menschen mit herausragenden Organen. Du hast so schön gesungen, als du an ihm vorbeigegangen bist, da war es um ihn geschehen.“

Meine Stimme?

„Ja, es ist richtig, er hat deine Stimmbänder entfernt, um sie bei einer anderen Person einzusetzen. Noch befinden wir uns in der Testphase, aber irgendwann kann er damit Soldaten wieder eine Stimme geben, es ist faszinierend!“

Warum du?

„Warum ich? Die Frage verstehe ich nicht. Warum ich hier bin?“

Stummes Nicken.

„Ich habe im Krankenhaus zu arbeiten begonnen und der Professor hat sich meiner angenommen, als ich sonst nichts hatte.“

Böse.

„Nein, er ist nicht böse, er möchte den Menschen helfen und nichts kann funktionieren, wenn man vorher nicht übt. Die Experimente sind notwendig, um Menschen zu retten.“

Meine Stimme.

„Ja, ich weiß, du verstehst das nicht, aber du brauchst deine Stimme nicht. Was hast du denn schon Wichtiges zu erzählen? Soldaten hingegen, die aus dem Krieg kommen, die sind wichtig, die haben was zu sagen, denen muss man zuhören.“

Dein Ernst?

„Aber selbstverständlich ist das mein Ernst.“

Du?

„Was ist jetzt schon wieder mit mir? Warum ich meine Stimme nicht hergegeben habe? Ich habe schon Einiges abgegeben, aber meine Stimme muss ich behalten, damit kann ich mehr bewirken.“ Sie hob ihren Pullover an und ich konnte an ihrem Bauch und auch an ihrem Rücken einige Narben entdecken.

„Aber ich habe nicht nur Dinge gegeben, ich habe auch einiges neu bekommen, zum Beispiel…“

Und schon hob sie ihren Rock an und ich konnte sehen, dass die Haut dort an ihrem Bein nicht ihre eigene war.

„Nach einem Splitter einer Bombe sah mein Oberschenkel schrecklich aus, der Professor hat mich gerettet. Danach hat er mich aufgenommen und nun arbeite ich sehr gerne für ihn.“

Rette mich.

„Ich rette dich nicht, ich rette Menschen, die es verdienen.“

Und damit stand sie auf und ging.

Einfach so.

Und ich- ich war wieder alleine, nur mit mir- ohne Stimme.

Es konnte nicht allzu lange gedauert haben, bis ich abgeholt wurde- zum nächsten Experiment.

Und zu meinem letzten.