Von Marco A. Rauch

Mit lautem »Knacks« bricht das Holz, die Männer stürmen in die Wohnung. Wie Wölfe auf der Jagd schwärmen sie aus und erobern jeden Raum. Fünfmal schallt das Wort »gesichert« durch die Luft, dann kehrt Stille ein, wo eben noch Hoffnung sich verbreiten wollte. Nach und nach versammeln sich die Anwesenden vor dem Elternbett, starren frustriert auf das Bild, das sich ihnen bietet. Ein Mann, eine Frau, zwei Kinder. Jedem ein Heptagramm in die Stirn geritzt, die Augen mit Streichhölzern weit aufgerissen, liegen sie fein säuberlich aufgebahrt. Die Erwachsenen nebeneinander, ihre Beine breit, dazwischen die Kinder.

Die beiden Männer ganz vorne sehen sich an. Der rechts stehende, Paul Nehrling, nickt seinem Kollegen Tom zu. Der greift zum Funk. »GS1 an Basis, Sperling ist ausgeflogen. Vier Pakete zum abholen.«

Kurzes Rauschen, dann antwortet die Gegenseite. »Verstanden, GS1. Paketdienst ist unterwegs.«

Wieder schwärmen die Männer aus, in jedem Raum wacht einer am Fenster, bis der erwähnte Paketdienst eintrifft. Kleine Kameras filmen derweil jede Regung, jede Bewegung, fahnden selbst nach dem kleinsten Fehlverhalten.

Am nächsten Morgen ist Nachbesprechung in der Einsatzzentrale. Ausbilder Henning Malkes präsentiert die Ergebnisse. »Guten Morgen, ich habe die gestrige Übung ausgewertet. Ich verteile gleich Blätter mit den individuellen Ergebnissen. Dann können wir das nochmal im Detail besprechen. Aber grundsätzlich bin ich zufrieden, ab heute bilden Sie offiziell die Sondereinsatzgruppe GS1. Gratuliere.«

Jubel fährt durch den Raum, die Männer applaudieren und lachen.

»Meine Herren, meine Herren! Ich verstehe Ihre Freude, aber machen Sie sich nichts vor. Der Job ist hart und wenn Sie das erste Mal echte Opfer sehen, werden Sie vielleicht neue Grenzen erfahren. Seien Sie also gewappnet.«

Die Männer bemühen sich um Ernsthaftigkeit, doch das Lachen auf ihren Gesichtern scheint nicht so recht weichen zu wollen. Die letzten Wochen waren mit intensiven Trainings und Schulungen eine völlig ungewohnte Herausforderung gewesen und von den anfangs zwölf Anwärtern hatten es am Ende fünf geschafft. Paul Nehrling ist einer von ihnen. 30 Jahre alt, verheiratet, ein Kind. Seit einem Jahr Polizeihauptmeister. Von der Sorte Bulldogge, wie er hinter seinem Rücken genannt wird. Wenn er sich in etwas verbissen hat, lässt er nicht mehr los. 

Als Paul am Nachmittag nach Hause kommt, läuft ihm seine 6-jährige Tochter Hanna entgegen.

»Papa, Papa, schau mal, was ich gemalt habe!«

»Hallo Spätzchen, das ist aber schön, ist das für mich?« Er hebt sie auf seine Arme, betritt das Haus und schließt mit dem Fuß die Tür. 

»Ich bin kein Spätzchen, ich bin sechs!« Empört sieht sie ihn an.

»Oh, entschuldige, mein Engel. Malst du mir noch ein Bild?« Aus den Augenwinkeln sieht er seine Frau Eva. Sie lehnt mit einem erwartungsvollen Blick am Türstock zur Küche.  

»Ok«, ruft Hanna und eilt ins Wohnzimmer.

Die Erwachsenen umarmen und küssen sich. »Und?«, fragt sie.

Sein Blick zeigt Frustration, er senkt ihn zu Boden. Eva durchfährt ein kurzer Schub Mitgefühl, schon sucht sie tröstende Worte in ihrem Kopf.

»Ich bin drin!«, ruft er, die Arme weit auseinander, ein Grinsen auf dem Gesicht.

»Oh, du!« Entrüstet boxt sie an seine Schulter, beide lachen und fallen sich in die Arme. »Nach dem Essen musst du mir alles erzählen, ich war den ganzen Tag wie auf Kohlen.«

Nach dem Essen bringt Paul seine Tochter ins Bett und liest ihr eine Gutenachtgeschichte vor. Als er das Buch zuklappt, fragt sie: »Papa? Gibt es böse Monster?« Ihr Gesicht widerspiegelt Unsicherheit, was sie glauben soll.

»Ja, Engel, hier und da gibt es Monster, aber weißt du was? Die fange ich alle ein, du brauchst also keine Angst zu haben.«

»Versprochen?«, fragt die Kleine, während Paul ihre Decke bis zum Kinn hochzieht.

»Versprochen.« Liebevoll küsst er sie auf die Stirn. »Schlaf gut, mein Engel.«

Ein paar Wochen später hat die GS1 ihre Feuertaufe bestanden. Eine Geiselnahme in einer Bankfiliale konnte unblutig zu Ende gebracht werden. Dank Pauls klugem Geschick als Vermittler haben die zwei Kidnapper schließlich aufgegeben. In der anschließenden Nachbesprechung geht es entsprechend gut gelaunt zu und jeder empfindet Achtung gegenüber der »Bulldogge«.

»Einen Beitrag zur Gesellschaft leisten, das ging ja mal nach hinten los, Paul. Aber ich glaube, mit dem Spruch hast du sie bekommen: ‚Wollen Sie wirklich ihr Leben hinter Gittern verbringen, immer einen Schwanz im Arsch‘?« Alle lachen, Tom Kolles wischt sich über die Augen. Er ist einer der fünf. 

»Mir ist nix Besseres eingefallen«, ruft Paul und tut recht unschuldig.

»Ja, ja, von wegen, spricht da etwa eine Neigung aus dir?«, erwidert Tom und grinst provozierend.

Ein Raunen geht durch den Raum, angespannte Stille folgt darauf. Doch Paul zeigt Tom nur den Mittelfinger und sofort lachen alle wieder. Die Hackordnung steht fest, Gefühle von Euphorie und Unbesiegbarkeit beherrschen den Raum und verlangen nach neuen Herausforderungen. 

»Herrschaften, ich freue mich für Sie alle.« Ausbilder Malkes applaudiert, dann kommt er zum Punkt. »Da Sie nun die Feuertaufe hinter sich haben, wird es Zeit, den Gruppenleiter zu bestimmen. Jede Einsatzgruppe hat eine Hierarchie, der Gruppenleiter hat die Aufgabe, alles im Auge zu behalten und den Einsatz sicher durchzuführen. Aufgrund seiner bisherigen Leistungen und dem Dienstgrad ernenne ich Paul Nehrling zum neuen Gruppenleiter. Gratuliere.«

Die Männer applaudieren kurz, einige nicken. Die Wahl ist eine logische Konsequenz.

 

Bereits wenig später darf sich die Truppe erneut beweisen. Ein mutmaßlicher Dschihadist hält sich in Nürnberg auf und soll festgesetzt werden. Die Männer postieren sich in einem Wohnmobil vor dem Gebäude, beobachten, fertigen Aufzeichnungen an. Mit Spürsinn wartet Paul auf den richtigen Moment, prüft und handelt. Die Erfolgsstory nimmt Fahrt auf. Sein Ruf als präziser »Beißer« macht die Runde und hievt die GS1 schnell von einer Option hoch zur Empfehlung.

 

Eine Woche später kommt ein Einsatzbefehl. Geiselnahme in einem Privathaus. Besorgte Nachbarn haben angerufen, weil sie Maskierte durch die Fenster gesehen haben wollen. Die Polizei schickt einen Späher ungesehen zu den Nachbarn, dieser bestätigt den Verdacht. Als Paul die Adresse erfährt, schluckt er heftig. Er spürt, wie sich Panik anschickt, ihn zu überkommen. Seine Arme, Beine, alles wird heiß. Er spürt sein Herz schneller pumpen, Schweiß unter den Achseln. Die Einsatzregeln des Lehrbuchs flirren durch seinen Kopf, er ringt innerlich um die richtige Entscheidung. Wenn Sie persönlich und/oder emotional in einen Fall involviert sind, haben Sie die Pflicht, ihn abzugeben. Doch am Ende gibt es für ihn nur eine Option. In der Einsatzbesprechung instruiert Paul sein Team und versucht dabei, möglichst ruhig zu wirken. Als der Plan steht, ziehen sie los.

Es ist friedlich an diesem Nachmittag, idyllisch wirkt das viele Grün der Vorgärten. Leise wie ein Rudel Wölfe nähern sich vier bewaffnete Personen dem Haus, schleichen über Nachbargärten, beziehen Posten. Paul kämpft derweil gegen die Nervosität und den Drang, sofort zu handeln. Ein letztes Mal instruiert er seine Männer. »Keiner tut etwas ohne meinen Befehl, vor allem wird nicht geschossen, bevor ich es sage. Ist das klar?« Alle bestätigen, Paul gibt das Signal. »Tom, los!«

Kurz darauf hält ein Postwagen vor dem Grundstück, Tom steigt in gelber Dienstkleidung aus und geht zur Tür. In seiner Hand ein Brief. Er klingelt. Gepolter. Dann nähert sich innen jemand. Toms Muskeln spannen sich an, bereit, zur Waffe zu greifen. Die Tür öffnet sich, ein kleines Mädchen sieht fragend zu dem Postmann. »Wer ist das?«, schallt eine Jungenstimme von innen, kurz darauf steht er neben seiner Schwester.

Für einen Moment ist Tom irritiert, dann findet er seine Fassung. »Die Post, ich habe einen Brief. Ist eure Mama da?«

Das Mädchen sieht zu Boden, der Junge schweigt, kneift die Mundwinkel zusammen. In der Wohnung ist es ruhig.

»Wo ist eure Mama?«, fragt Tom nochmal, lauscht dabei unauffällig ins Innere.

Das Mädchen sieht zu ihm hoch und antwortet: »Sie ist bei Gott.«

»Zugriff, sofort Zugriff!«, plärrt Paul über den Funk, greift mit zitternden Händen zur Waffe und stürmt auf das Haus zu. 

Es dauert nicht lange, da ist das Gebäude gesichert. Die Kinder erzählen, ihre Mutter sei zum Friedhof gegangen und habe erklärt, dort wache Gott über die Menschen. Der Großvater, der auf die zwei aufpassen sollte, hatte zunächst mit ihnen gespielt und war dann müde geworden. Als Paul den Alten schlafend auf dem Sofa liegen sieht, neben ihm eine Affen-Maske, bricht er zitternd zusammen. Später stellt sich heraus, das Mädchen der Familie geht mit Pauls Tochter in die erste Klasse. Sie treffen sich manchmal zum Spielen. 

Die Nachbesprechung des Einsatzes dauerte sehr lange. Paul hatte gegen eindeutige Regeln des Lehrbuchs verstoßen. Was an diesem Tag keiner aussprach, die Bulldogge hatte die Nerven verloren und war zu einem Sicherheitsrisiko geworden. Jeder hörte die Worte von Ausbilder Malkes in seinem Kopf. Der Job ist hart, sie werden vielleicht neue Grenzen erfahren. So war es dann auch.

Der Fall sorgte bundesweit für Schlagzeilen. Eltern- und Pädagogenverbände empörten sich über die leichtfertige Gefährdung von Kindeswohl, ein Kopf musste her. Obwohl die Polizei für die katastrophale Aufklärung verantwortlich war, stand die GS1 im Fokus.

Paul wurde degradiert und aus der Truppe entfernt. Der Befehl kam von ganz oben. Keine Polizei kann sich ein Sicherheitsrisiko leisten, hieß es. Über den Flurfunk war zu vernehmen, das Team und besonders Tom habe auf Veränderung gedrängt. Er wurde neuer Teamleiter.

Nach einer Auszeit hat sich Paul weitergebildet und ging zum Zoll. Dank seiner guten Spürnase machte er sich schnell einen Namen. Wenn seine Tochter Hanna ihn abends fragt, ob er böse Monster gefangen hat, kann er das fast immer bejahen. Und er lächelt dabei, denn er weiß, selbst eine Bulldogge kann nicht in einem Haifischbecken überleben.

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