Von Kerstin Bodenmiller

Völlig außer Atem schlägt er die Tür hinter sich zu. Seine Lungen brennen wie Feuer und er spürt ein Stechen in der Seite, das seinen Körper unangenehm zusammenzieht und es ihm unmöglich macht, sich gänzlich aufzurichten. Er presst beide Hände gegen die linken Rippen und eilt ins Wohnzimmer, stellt dort mit fahrigen Bewegungen den alten Röhrenfernseher an. Um nichts auf der Welt will er heute seine Lieblingssendung verpassen, heute bietet sie garantiert fesselnde Unterhaltung. Dafür war er die fünf Blocks von der U-Bahnstation nach Hause gerannt. Und wie er gerannt ist, bei seinem Übergewicht kaum vorstellbar. Die Mattscheibe des alten Fernsehers flimmert auf und fast zeitgleich mit dem Bild ertönt die Anfangsmelodie seiner ersehnten Sendung. Nichts verpasst, welch ein Glück. Erleichtert sinkt er auf das Sofa herab. Mit zitternden Händen zieht er einen Schal aus der Innentasche seines von Regen triefenden Mantels, der auf wundersame Weise nur leicht feucht ist und legt ihn neben sich aufs Sofa, anschließend streift er Mantel und Schuhe ab und wirft beides achtlos zu Boden. Endlich kann er sich entspannen.

 

Ein weiterer langer, trister Arbeitstag geht zur Neige, doch er ist in keiner Weise niedergeschlagen. Er lebt in einer der schönsten und größten Städte der Welt, eine Stadt die niemals schläft. Eine Stadt voller wundervoller Menschen, die schon vor langem vergessen hatten wie es ist, sich um das eigene Umfeld zu kümmern oder darauf zu achten, was um sie herum geschieht. Eine Stadt voller Menschen, deren Aufmerksamkeit auf die leuchtenden Bildschirme von Smartphones gerichtet ist statt auf den Menschen neben sich. In der jeder jeden beleidigt, es alles zu kaufen gab, jede Vergnügung nur einen Steinwurf entfernt ist. Ja, er liebt dieses Leben in der Großstadt. Die Anonymität der Menge. Ein breites Grinsen tritt in sein Gesicht, als er das Bürogebäude verlässt und sich in die Reihen unzähliger Menschen einreiht, von denen keiner auch nur den Hauch eines Lächelns im Gesicht trägt. Konnten sie nicht sehen, wie wundervoll die Welt hier war?

 

Die U-Bahnstation zur Linie 3 liegt noch einen Block entfernt, als starker Regen einsetzt. Er blickt in den wolkenverhangenen Himmel hinauf, tiefes Grau wie die Fassade der Häuser um ihn herum. Sein Herz macht einen Sprung. Bei diesem Wetter werden die ohnehin schon niedergeschlagenen Menschen geradezu depressiv, ein Fest für sein Gemüt. Er stellt sich in einen Hauseingang, um dem Regen zu entkommen und beobachtet die Leute, die nun rascheren Schrittes durch die Straßen eilen. Auch hier nur Grau in Grau, schwarze Kostüme, dunkle Anzüge, Banker, Bibliothekare, Versicherungsvertreter. Langweilige Existenzen, die ohne es zu merken ihr Äußeres an die triste Beton- und Stahlwelt der Stadt angepasst haben. Auch er hat sich diese Farben zu eigen gemacht. Ein durchschnittlicher Typ, nahezu unsichtbar in dieser Welt. Und war Unsichtbarkeit nicht die Superkraft, die sich jeder insgeheim wünschte?

 

Und dann sieht er sie, einem Feuerschein in dunkler Nacht gleich ist er von der ersten Sekunde an wie gebannt von der Gestalt, die gerade das Verwaltungsgebäude gegenüber verlässt. Er blinzelt und macht einen Schritt nach vorn in den Regen, kann er seinen Augen doch nicht trauen. Eine atemberaubendere Schönheit wie diese ist ihm noch nie begegnet. Die Frau blickt kritisch in den Himmel hinauf, schlägt ihren Schal um und schreitet mit energischem Schritt voran. Ihre schier endlos langen Beine, die auf fast unverschämt hohen Schuhen trittsicher den Weg beschreiten, stecken sehr zu seiner Freude in Seidenstrümpfen. Nur leidenschaftliche Frauen tragen heute noch Seidenstrümpfe. Sie trägt ein kurzes, enges Kostüm, das ihre vollen Brüste und die schlanke Taille betont. Der Rock reicht gerade so über die Rundung ihres aus seiner Sicht vollkommenen Hinterteils. Engelsgleiche Züge zeigen sich unbeeindruckt vom Regen und werden von tiefschwarzen Locken umrahmt. Die Lippen tragen das sinnlichste Rot, das er je gesehen hat. Ohne Zweifel, sie muss eine Göttin sein, die den Weg auf die Erde gefunden hat. Wie hypnotisiert überquert er die Straße und folgt diesem Prachtexemplar weiblicher Schönheit, den Blick auf den kurzen Rock gerichtet, unter dem jede Bewegung einladend die Begierde des Betrachters nährt.

 

Nach wenigen Metern bleibt die Frau plötzlich stehen. Ein Bettler hebt einen Almosenbecher zu ihr hinauf. Der Mann hält inne und beobachtet überrascht, wie die Frau mit einer raschen Bewegung den Becher aus der Hand des Bettlers schlägt. Der Becher rollt über den Asphalt und verteilt die spärlichen Münzen, die der Alte mühselig den steinernen Herzen der Menschen abgewonnen hat. Der Bettler blickt schockiert zu ihr auf. Sie erwidert seinen Blick mit tiefster Abscheu, spuckt ihm vor die Knie und läuft weiter.

Der graue Verfolger braucht eine Sekunde, ehe er das Gesehene realisiert. Dann sprintet er vor, vorbei an dem Alten, der auf allen Vieren seine Münzen einsammelt. Er holt auf, riecht nun ihr starkes, schweres Parfüm. In seiner Hose regt sich sein bestes Stück und sein Herz beginnt zu rasen. Dieser kalte Blick, diese Überheblichkeit, sie ist zweifelsohne eine Göttin!  Ein Prachtexemplar menschlicher Abgründe. Zu welchen Taten ist sie fähig? Welch niederträchtiges Biest mag unter dieser Fassade schlummern? Ihre bloße Existenz erregt ihn.

 

Seine Göttin steigt die Treppen hinunter in die U-Bahn und erneut macht das Herz des Mannes einen Sprung. Vielleicht würden sie dieselbe Linie nehmen? Er ist nun nahe an sie herangekommen. Von nahem, ohne störenden Regen im Gesicht, ist sie noch verführerischer als oben auf der Straße. Leichte Röte schenkt ihren Wangen ein jugendliches Strahlen. Er muss aufpassen, dass er nicht zu sabbern beginnt. Erneut wird die Frau ausgebremst, eine alte Dame bittet um Hilfe am Ticketschalter. Sie schlägt die Hand der Dame beiseite und fährt sie wüst an, sie solle doch sterben, wenn sie mit der Welt nicht mehr zurechtkam. Der Mann kann schwören, dass die Alte gerade um einige Nuancen bleicher geworden ist und sein Grinsen wird breiter. Oh, welch Geschenk ihm an diesem trüben Tag gegeben wird, einer Frau wie dieser begegnet man selten.  Ihre Arroganz ist ein Leuchtfeuer und er ist die Motte, die gerade darauf zu hält.

 

Sie geht zum Gleis der Linie 3 und nun weiß er, dass es Schicksal ist, ihr begegnet zu sein. Eine höhere Macht wollte, dass er sie heute treffen würde. Er folgt ihr zum Gleis, darauf bedacht, in ihrer Nähe zu bleiben. Es ist sehr voll und dicht gedrängt und mit seinen Körpermaßen fällt es ihm schwer, sich seinen Weg zu bahnen. Endlich bleibt sie im Einstiegsbereich stehen und er stellt sich hinter sie. Spürt die Wärme, die von ihrem perfekten Körper ausgeht. Dicke Tropfen haben sich in ihrem Haar gesammelt und schimmern wie kleine Diamanten im fahlen Schein der Neonleuchten. Ihr Duft überflügelt alles. Sie greift nach oben, eine zierliche Hand mit feuerroten Fingernägeln und löst den Schal, der dem schlanken Hals Sicherheit vor dem Regen bot. Zu gerne würde er jetzt den Hals berühren. Stattdessen greift er vorsichtig an den Schal, der nun lose über ihrer Schulter hängt und streicht über den feinen Stoff. Er betrachtet die Gestalt vor sich und in seiner Hose drückt sich nun fast schmerzvoll seine Begierde gegen die Jeans. Angestrengt überlegt er, wie er sie ansprechen kann. Wie spricht man eine Gottheit an? Das Signal des einfahrenden Zuges ertönt, die Lichter tauchen im Tunnel auf. Götter spricht man nicht an. Und gerade, als der Wagen vorfährt, gibt er der Schönheit mit der flachen Hand einen sanften Stoß in den Rücken.

 

Der Nachrichtensprecher leiert wie jeden Tag gelangweilt die weltbewegenden Schlagzeilen von Übersee herunter, bevor er zu den lokalen Neuigkeiten kommt. Und da sieht er sie wieder, ein Bild seiner Göttin, die er wenig zuvor noch hatte fallen sehen, ehe sie in ihrem eigenen Blut und Gekreisch der Umstehenden zurück in die Hallen der Götter gekehrt war. Sie ist dafür sicher dankbar, denkt er sich. Götter gehören nicht auf die Welt. Er zieht den Schal an sein Gesicht heran und saugt den Duft ihres schweren Parfüms ein, während er mit der anderen Hand seine Hose öffnet und den harten Beweis seiner Erregung fest umschlossen liebkost. Den Blick hält er dabei auf das Foto seiner Göttin gerichtet. Laut Nachrichtensprecher handelt es sich um einen Unfall an einem überfüllten Gleis, der die junge Linda Martens das Leben gekostet hat, Diskussionen über Sicherung an Bahnsteigen würden laut werden, unwichtiges Gejammer. Er murmelt den Namen seines Opfers, ehe er in wohligem Zittern den Höhepunkt seiner Befriedigung erreicht.

 

Er kommt frisch geduscht ins Wohnzimmer zurück. Der Fernseher ist aus und nur die kleine Tischlampe spendet noch Licht. Der Klang des Regens, der gegen die Fenster schlägt und das Rumpeln der Waschmaschine mit der durchnässten Kleidung des Tages füllen den Raum. Er hebt den Schal vom Sofa auf und lässt ihn zärtlich durch die Finger gleiten, während er ins Schlafzimmer geht. Dort nimmt er sich aus der Kommode einen Stift und ein kleines, mit Ornamenten verziertes Kärtchen heraus, auf das er sorgfältig den Namen Linda schreibt, den Schal zusammenlegt und mit dem eben geschriebenen Kärtchen versieht. Er öffnet eine weiter Schublade der Kommode. Dort liegen viele Schals und Tücher, und jedes Teil trägt ein Namenschild wie das eben geschriebene. Nach kurzer Überlegung legt er den Schal zwischen zwei Tücher mit den Namen Agnes und Karen und betrachtet zufrieden seine Sammlung. „Gute Nacht, meine Göttinnen“, flüstert er zärtlich und streicht liebevoll über die unterschiedlichen Stoffteile, ehe er die Schublade schließt und glücklich auf sein Bett niedersinkt. Er liebt die Großstadt. Nirgendwo auf der Welt war man so frei und ungebunden, konnte so ungetrübt seinem Verlangen nachgehen. Vielleicht würde er bereits morgen einer neuen Göttin begegnen. Mit einem Lächeln auf den Lippen schläft er ein.

 

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