Von Peter Burkhard

Heinz nahm einen kräftigen Schluck Bier, ließ den Humpen auf die Platte des Stammtisches krachen und donnerte in die Runde: „Niemals. Jedenfalls nicht, solange ich lebe!“
„Na, das werden wir ja sehen“, maulte Sepp, der ihm gegenüber saß und überheblich grinste. „Auch du bist nur ein Mensch und wirst zuletzt nachgeben, wie die anderen auch. Da gehe ich jede Wette ein.“
Damit traf er seinen Saufkumpan im Innersten.
Auf seine geballten Fäuste gestützt wuchtete Heinz seinen Oberkörper über den halben Tisch. „Du getraust dich, meine Standhaftigkeit in Zweifel zu ziehen? Worum wetten wir?“
„Um deine Tiere, die kannst du sowieso nicht mehr halten, wenn du verlierst. Ich setze meine teure Armbanduhr dagegen.“ Seelenruhig zog Sepp den linken Ärmel hoch und präsentierte seinen edlen Zeitmesser.
„Okay, ich bin einverstanden, aber ich werde die Wette gewinnen, das schwöre ich dir. Und ihr“, er blickte triumphierend in die Gesichter der Männerrunde, „seid meine verdammten Zeugen!“
Noch zur selben Stunde löste sich vor dem Gasthaus Zum Wilden Mann die Gruppe der aufgebrachten Kameraden auf, von denen keiner ahnte, wie die Abmachung der beiden Hitzköpfe ausgehen sollte.

Mitten auf Heinz Feierabends quadratischem Grundstück, einem Flecken Land von respektabler Größe, befand sich sein Geburtshaus. Dem Zerfall trotzend, stand es hier seit mehr als hundert Jahren und, davon war der Alte nicht abzubringen, niemand sollte es wagen, Hand daran zu legen. Die letzten, welche versucht hatten, ihm seinen Besitz abzuluchsen, waren Vertreter eines Immobilienunternehmens gewesen, welches auf seinem Boden und den angrenzenden Grundstücken riesige Wohnblocks errichten wollte. Deren Bemühungen blieben prompt vergeblich, denn anders als die Landbesitzer um ihn herum war Heinz keinesfalls bereit, der Verlockung des großen Geldes nachzugeben.

An einem verregneten Junimorgen, der Frühaufsteher war eben daran, die zwei Schwarznasenschafe und seine Gänseschar zu füttern, fuhren an der Nordseite seines Grundstücks Bautrupps mit Baggern auf. Im Verlauf von wenigen Tagen rissen sie die drei benachbarten Einfamilienhäuser aus den Sechzigerjahren nieder, sortierten und entsorgten den Bauschutt und planierten das gesamte Gelände.
Heinz haderte mit seinem Schicksal, er wusste genau, was dies zu bedeuten hatte: Der Kampf zwischen David und Goliath hatte begonnen. Wütend und mit wachsender Verzweiflung beobachtete er das Geschehen und wandte sich Hilfe suchend an seinen Sohn, in dem er seinen einzigen Verbündeten vermutete.
„Du wirst sehen, Lars, die werden rundherum alles platt machen, nur um Betonklötze in die Höhe zu ziehen. Am Schluss werde ich enden wie ein Gefangener, geächtet und abgeschnitten von der Umwelt.“ Mutlos schob der alte Mann den gebratenen Reis von sich, dem er sonst nur mit Mühe widerstehen konnte.
Der Junior nickte und stocherte mit der Gabel im Teller herum. „Ganz bestimmt werden die das tun und wenn du nicht einlenkst, kannst du dir die Sonne in Zukunft an deine Fensterscheiben malen. Paps, ich verstehe dich vollends, aber ich halte deinen Widerstand für zwecklos und schlussendlich schadest du nur dir selbst.“
Heinz ballte seine rechte Hand zur Faust und fuhr dazwischen: „Gib dir keine Mühe, in diesen Mauern sind wir beide aufgewachsen und habe ich mein Lebtag gehaust. Unter diesem Dach will ich sterben. Basta!“
Lars, der gekommen war, um seinem Nächsten zuzuhören, erhob sich wortlos, räumte das Geschirr weg und wandte sich kopfschüttelnd zum Gehen. „Ich werde wieder kommen, wenn du dich beruhigt hast. Schlaf gut, Paps.“

Der rebellische Vater sollte recht behalten. Schon bald nach dem Abriss der ersten Häuser wurden die stillgelegte Sportanlage östlich und eine verwaiste Fabrikanlage im Süden seines Grundstücks ebenfalls dem Erdboden gleichgemacht. Unaufhaltsam und bedrohlich veränderte sich die gewohnte Umgebung des Alten. Sie schien nur darauf zu lauern, auch seinem maroden Häuschen den Garaus zu machen. Selbst seine Nachbarn, auf deren Kontakt mit ihm er nie viel gegeben hatte, waren binnen Kurzem alle weg. Und, davon war er überzeugt: Es war ihnen völlig schnurz, was mit ihm und seinem kleinen Domizil geschehen würde.
Einmal, Heinz rackerte in seinem Garten, stand unerwartet eine weißhaarige Frau, welcher er noch nie zuvor begegnet war, vor seinem Grundstück. Sie hielt sich am Gatter der Umzäunung, sah ihm bei der Gartenarbeit zu und wartete, als ob sie eine Verschnaufpause nötig hätte.
„Alles okay bei ihnen?“, rief Heinz ihr zu und ließ seinen Spaten ruhen. Die Frau nickte, zog einen gelblichen Briefumschlag aus ihrer Einkaufstasche und streckte ihn ihrem verblüfften Gegenüber hin.
„Was wollen sie? Ich benötige nichts und will auch nicht bekehrt werden. Also gehen Sie!“
Doch der ungebetene Zaungast dachte nicht daran und gab dies dem mürrischen Krauter durch Handzeichen zu verstehen. Als sie partout nicht gehen wollte, stiefelte Heinz unwirsch auf sie zu.
„Haben Sie nicht gehört oder sind Sie schwer von Begriff? Sie sollen mich in Ruhe lassen.“
Die alte Frau fuchtelte mit dem Umschlag. „Ich werde gleich wieder gehen, aber vorher möchte ich Ihnen dies hier geben. Lesen Sie es in aller Ruhe, es wird Ihnen keinen Schaden bringen.“
Widerwillig nahm der Griesgram das Kuvert entgegen und brummelte etwas von „und jetzt gehen Sie endlich, ich habe zu tun“, bevor er ihr den Rücken zuwandte und sie achtlos stehen ließ.

In den folgenden Wochen geschah Erstaunliches.
Heinz las den Brief und suchte daraufhin den Kontakt zu Fanny, der Besucherin am Zaun. Bald darauf und nicht selten sahen ihn die Menschen im Nachbardorf locker plaudernd mit seiner neuen Bekanntschaft spazieren gehen. Der zornige alte Mann wandelte sich und obwohl die schnell wachsenden Neubauten immer größere Schatten auf sein Eigentum warfen, gewann er zunehmend an Gelassenheit.
Eines Abends war Lars bei seinem Vater eingeladen. Noch beim Einlass in sein Haus flüsterte Heinz seinem Sohn ins Ohr: „Wir sind heute zu dritt beim Essen und es gibt Neues zu berichten.“
Lars, hocherfreut über den neu gewonnenen Umgang seines Vaters, spielte den ganzen Abend den Charmeur. „Du scheinst ja kleine Wunder bei meinem alten Herrn zu bewirken. Ich habe den Eindruck, dass er in letzter Zeit eine richtige Veränderung durchgemacht hat. Toll, wirklich, es macht mich glücklich.“
„Ja“, antwortete Fanny, „wir verstehen uns ausgezeichnet und tun uns gegenseitig gut. Sag es ihm, Heinz, erzähle ihm von unseren Plänen!“
„Also gut.“ Er zögerte kurz und griff nach Fannys Hand, dann überwand er sich. „Mein Sohn, ich werde meinen Grund und Boden verkaufen.“
„Was?!“ Lars wieherte und schüttelte ungläubig den Kopf. „Sag das noch einmal.“
„Ich werde ihn verkaufen, wenn …“ Nochmals hielt Heinz trotzig inne. „Nur, wenn diese Immobilienheinis auf meine Bedingungen eingehen werden.“

Als das kleine Haus viele Wochen später kurz vor dem Abriss stand, lebte Heinz bereits seit geraumer Zeit mit Fanny im Nachbardorf und Sepp hatte die Schafe und das Federvieh längst abgeholt.
Mit Unterstützung zweier Kumpels war Lars zu nächtlicher Stunde damit beschäftigt, letzte Habseligkeiten seines Vaters vor der Abfuhr zu retten. Dabei fiel sein Blick auf einen kleinen Stapel Briefe. Er öffnete den zuoberst liegenden, eine Kopie des Kaufvertrages und überflog deren Zeilen. Das Papier besagte, dass die Immobiliengesellschaft seinem Vater die restlose Erfüllung seiner Bedingungen über den Verwendungszweck des Grundstücks zusicherte. Lars kannte die Einzelheiten und legte das Blatt auf die Seite. Dann entnahm er einem gelblichen, bereits geöffneten Umschlag einen Brief und begann die in sorgfältiger Schrift geschriebenen Zeilen zu lesen:
Lieber Herr Feierabend
Ich bin Fanny Braun, die Witwe Ihres vor sechs Jahren verstorbenen Arbeitskollegen Willy und ich habe vernommen, was die Leute im Dorf über Sie und Ihr Schicksal reden. Ich hatte leider bisher nie die Gelegenheit, Sie persönlich kennenzulernen, aber Willy hat über Sie immer nur Gutes berichtet. Bitte erlauben Sie mir, mit Ihnen über Ihre vertrackte Situation zu sprechen. Es ist mir ein echtes Bedürfnis, gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, die Sie aus Ihrer Not herausführen könnten.
Lars ließ das Schreiben verwundert sinken und stierte für einige Momente regungslos vor sich hin. Nachdem er noch die restlichen Zeilen gelesen hatte, faltete er den Brief zusammen und legte ihn zurück zu den Gegenständen, die er für seinen Vater zusammentrug.
Anschließend trat er vor sein Elternhaus, wo in einem alten Fass ein helles Feuer loderte und knisternd Funken in den sternenklaren Himmel schickte. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und blickte schweigend ins unendliche Universum.

* * *

Anderthalb Jahre später an einem milden Samstagnachmittag fand in einer Ecke der neu eröffneten Grünanlage eine bescheidene Feier statt. Heinz und seine Gefährtin saßen als Ehrengäste in der vordersten Reihe der zahlreich Anwesenden, exakt dort, wo Monate zuvor noch seine kleine Trutzburg gestanden hatte. Viele waren gekommen: lokale Politiker, Neuzuzügler, die Pfarrer beider christlichen Konfessionen und die Stammgäste des Wilden Mannes, unter ihnen Sepp, Fannys Bruder. Als Lars unter Beifall und mit unübersehbarem Stolz das Tuch von der rostigen Stele zog, auf welcher als Initiant und Spender der Name seines Vaters prangte, spürte dieser Fannys innigen Händedruck.
Ihm war, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass er das Richtige getan hatte.

Vom nahen Tümpel war das Schnattern streitender Enten zu vernehmen.

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