Von Andreas Schröter

Es war kurz nach dem Krieg – Anfang 1947 –, als Maria und ich uns kennenlernten: im Kirchenchor unserer Gemeinde. Ich war 21, sie 19. Es gab damals noch nicht viele Möglichkeiten, eine Freundin zu finden. Und weil ich wusste, dass sie im Chor mitmachte, ging ich eben auch hin, obwohl mir kaum etwas ferner lag, als fromme Kirchenlieder zu singen. Maria, die ich bis dahin nur aus der Ferne kannte, war das allerschönste Mädchen, das ich jemals gesehen hatte. Lange, fast schwarze Haare, dabei aber hellblaue Augen, was einen unwiderstehlichen Kontrast ergab. Aber noch besser gefiel mir ihr Lachen, das sie bei jeder noch so kleinen Gelegenheit erklingen ließ.

Ja, ich war verliebt. Ich war so verliebt, wie ich es vorher nicht gewesen war und wie ich es niemals mehr im ganzen Leben sein sollte.

Drei Monate später wurden wir ein Paar. Es war sie, die meine Hand nahm, und es war sie, die mir einen kleinen Kuss auf den Mund gab – versehen natürlich mit ihrem strahlenden Lachen. Mein Gott, ich würde sie auf Händen tragen, wohin immer sie wollte.

Es dauerte zwei Jahre, bis wir heirateten und natürlich ein eigenes Heim wollten, obwohl das angesichts unserer Einkommen utopisch war. Doch dann passierte das Unglaubliche: Wir sahen die Anzeige für ein 200 Jahre altes Haus, das lediglich einen Spottpreis kosten sollte. Ich war davon überzeugt, dass sich in der Zeitung ein Druckfehler eingeschlichen hatte. Maria war sofort außer sich vor Begeisterung: „Ich wollte sowieso lieber ein altes Haus mit Atmosphäre als einen dieser nichtssagenden neumodischen Klötze.“

Der Besichtigungstermin war seltsam. Der Makler erschien über alle Maßen nervös. Dafür gab es aber überhaupt keinen Grund, denn das Haus, das etwas einsam am Waldrand stand, war in einem viel besseren Zustand, als wir erwartet hatten. Sicher, hier und da würde man Hand anlegen müssen – zum Beispiel schien die Treppe ins Obergeschoss etwas morsch – aber solche Makel wären hinnehmbar. Er pries den Ausblick zum Wald, den großen Garten, die Terrasse und den Kamin.

„Okay“, sagte ich, „das macht alles einen sehr schönen Eindruck, lassen Sie uns noch kurz einen Blick ins Obergeschoss werfen.“

Die Nervosität des Maklers wuchs augenblicklich. „Äh ja“, druckste er herum, „auf eine Kleinigkeit müsste ich Sie doch noch hinweisen …“

„Ja?“, fragte ich, weil er nicht weiterredete.

Der Makler sammelte sich und sagte: „Das Zimmer rechts neben der Treppe oben sollten Sie nicht betreten.“

Ich stutzte. Was sollte der Blödsinn? Hatten die Vorbesitzer dort ihre Leichen versteckt? „Warum nicht?“

„In den 200 Jahren, die dieses Haus steht“, sagte er mit Grabesstimme, „ist noch nie jemand aus diesem Zimmer wieder herausgekommen, der es betreten hat.“

Nach dieser Eröffnung herrschte fünf ganze Sekunden lang eisige Stille. Dann prustete Maria nicht nur auf ihre bekannte Art los, sondern stürmte die Treppe hoch, die dabei bedenklich knarzte, riss die Tür zum verbotenen Zimmer auf und verschwand darin. Mit einem Knall, der für den Vorgang etwas zu laut erschien, fiel die Tür ins Schloss.

Der Makler und ich warteten. Wir warteten fünf Minuten, eine halbe Stunde, eine ganze Stunde. Natürlich klopfte ich immer wieder an die Tür und rief Marias Namen. Nichts. Es herrschte Totenstille. Das alles war komplett lächerlich. Ich hatte schon nach einer Minute an der Klinke gerüttelt. Doch die Tür war fest verschlossen. Sie wirkte weitaus stabiler als die Treppe, und es schien nicht so, als ließe sie sich leicht öffnen. Im Auto musste noch ein Wagenheber sein und vielleicht auch anderes schweres Werkzeug wie ein großer Hammer.

Als ich mich jedoch umdrehte, um es zu holen, kam von dem Zimmer ein Geräusch, wie wenn eine Tür entriegelt wird. Auch schwang die Tür einen winzigen Spalt auf. Sofort stürmte ich darauf zu …

***

 

… Nachdem ich zwei Wochen im Koma gelegen hatte, kam ich im Krankenhaus wieder zu mir. „Entschuldigen Sie, ich wollte wirklich nicht so hart zuschlagen“, war einer der ersten Sätze, die ich zu hören bekam, „aber ich musste Sie doch schützen“. Der Makler hatte offenbar sehr oft an meinem Bett gewacht.

„Was ist mit Maria?“

Der Mann schwieg, und ich sackte in meine Kissen zurück. „Wir müssen sofort zum Haus“, sagte ich.

„Das geht nicht“, antwortete er, „ich habe das Haus zwei Tage später anderweitig verkauft, und die Herrschaften wünschen, nicht gestört zu werden.“

Immerhin hatte der Makler eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgegeben, und ich kann mich über das Engagement der Beamten, Maria zu finden, nicht beklagen. Ihr Foto stand in allen Zeitungen, es gab Flyer und Plakate mit ihrem Konterfei, das an Laternenmasten hing. Eine junge Polizistin, die mich im Krankenhaus besuchte, versicherte mir, dass auch das Haus Zimmer für Zimmer untersucht worden sei. Auf meine Frage „Waren Sie auch in dem Zimmer rechts neben der Treppe im Obergeschoss?“ antwortete sie allgemein: „Wie ich schon sagte: Wir haben alle Zimmer überprüft.“

Zwei Wochen später wurde ich entlassen. Natürlich fuhr ich sofort allein zum Haus, doch es war von einem drei Meter hohen massiven Zaun umgeben, den es bei unserer Besichtigung noch nicht gegeben hatte. Oben war er mit spitzen Pfählen bewehrt. 

Ich fuhr in der ersten Zeit beinahe täglich zum Haus – in der Hoffnung, die neuen Eigentümer zu finden. Doch das Haus blieb abweisend und dunkel. Es schien niemand darin zu wohnen. Ich wandte mich an die Presse und an die Stadtverwaltung, doch nirgendwo fand ich Gehör. Man verwies mich auf die Bemühungen der Polizei. Ich wurde mehr und mehr zu dem Dorf-Verrückten, der eben nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Maria war getürmt, wahrscheinlich mit einem neuen Liebhaber, so war die Meinung der Menschen, die sich immer mehr durchsetzte.

Ich wusste, dass es nicht so war. Schließlich war ich dabei, als sie verschwand. Sie werden mich verurteilen, dass ich nicht noch mehr tat, ins Haus zu gelangen. Ein Einbruch vielleicht, ein kleiner Sprengsatz, ich weiß nicht. Heute sage ich: Ich hätte wirklich alles Menschenmögliche versuchen müssen – viel mehr jedenfalls, als ich damals tat. Die Wahrheit ist, dass ich zu jener Zeit mehr und mehr in eine Depression glitt, die mich in die Knie zwang. Ich fand kaum die Kraft, morgens aufzustehen und zur Arbeit zu fahren.

Drei Jahre später, 1952, machte ich einen Schlussstrich. Ich musste einfach loslassen. So ging es nicht weiter. Ich zog in ein anderes Städtchen 50 Kilometer weit weg.

Nach einer gewissen Zeit ging es mir gesundheitlich besser: 1954 hatte ich meine eigene Autowerkstatt und lernte Heike kennen. Sie war lieb, freundlich und mir zugetan. Wir konnten nie heiraten, weil ich ja offiziell immer noch mit Maria verheiratet war. Irgendetwas sträubte sich in mir, diese Ehe offiziell annullieren zu lassen. Das machte Heike in all den Jahren schwer zu schaffen. 1958 kam unsere kleine Susanne zur Welt, Norbert folgte 1960. Die Jahre vergingen, und obwohl ich nur noch sehr selten einen Abstecher zum Haus unternahm, wurde ich den Gedanken an Maria nie los. Ihr unbändiges Lachen, ihr schwarzes Haar, ihre hellblauen Augen …

1994 kam mein erster Enkel zur Welt: Luis. Vier weitere folgten in den nächsten Jahren. 2010, ich war 85 Jahre alt, wurde bei mir ein Herzklappenfehler diagnostiziert. Ich würde etwas kürzertreten müssen. 2021 starb meine liebe Heike an Corona, und mein Lebensmut sank wieder. Was sollte jetzt noch passieren? Weil ich allein nicht mehr gut zurechtkam, meldeten meine Kinder mich im Seniorenheim an. Ich bin inzwischen 99 Jahre alt, und morgen werde ich dort einziehen. Meine gesundheitlichen Probleme haben zugenommen, und – so viel ist sicher – allzu lange werde ich dort nicht mehr leben.

Für meinen letzten Tag „in Freiheit“, wie ich es manchmal für mich selbst ausdrücke, habe ich mir einen Ausflug zu dem alten Haus am Waldrand vorgenommen, das Maria und ich uns vor nun genau 76 Jahren angesehen haben.

Als ich mit dem Taxi dort ankomme, wirkt der hohe Zaun, der es kurz nach unserer Besichtigung umgab, verfallen und an einigen Stellen brüchig. Irgendwo ist ein ganzes Stück herausgebrochen und ich kann mich hindurchzwängen. Der Taxifahrer, den ich gebeten habe, zu warten, schaut betont gleichgültig nach vorne aus dem Fenster, obwohl er sich wahrscheinlich fragt, welche seltsame Fracht er heute transportieren muss.

Auch die Eingangstür zum Haus ist unverschlossen. Ich trete ein. Es wirkt muffig und verstaubt. Hier hat schon lange niemand mehr gelebt. Die Treppe ins Obergeschoss ist offensichtlich genauso baufällig wie bei unserem Besuch 1949, aber sie existiert noch, und ich wage ein paar tastende Schritte nach oben. Eine Stufe bricht ab, und ich habe Mühe, nicht zu stürzen. Es wäre vernünftiger umzukehren, aber ich gehe weiter und schaffe es tatsächlich ins Obergeschoss.

Ich gehe auf die verbotene Tür zu …

… drücke die Klinke hinunter …

… die Tür öffnet sich …

… Ich trete in das Zimmer ein …

Dicke Stores hängen an den Fenstern und lassen kaum Licht herein. Es gibt ein vollgestopftes Bücherregal, eine Ahnengalerie an der Wand mit grimmig ausschauenden Gesichtern, ein Tischchen mit einer Kerze, die nicht brennt, und ein Sessel …

… In dem Sessel sitzt eine uralte Frau, die mich anschaut …

… Ich sehe sie nicht richtig. Ihr Körper wirkt seltsam durchscheinend. Durch ihn hindurch schimmert der Stoff des Sessels …

… Sie hat schlohweißes Haar und hellblaue Augen …

Nun sagt sie etwas. Ich kann sie kaum verstehen. Ihre Stimme ist brüchig und leise, fast so, als komme sie aus weiter Ferne. „Da bist Du ja endlich. Ich glaube, das Haus gefällt mir. Wir sollten es nehmen.“ Dann stößt sie ein Geräusch aus, das ein Lachen sein könnte, aber sich eher anhört wie der startende Dieselmotor eines Treckers. In den Ecken des Zimmers zeichnen sich schemenhaft weitere Gestalten ab. Einige von ihnen strecken ihre Arme nach mir aus.

Ein unbeschreibliches Grauen packt mich, das von den Haarspitzen bis zu den Fußsohlen reicht.

Ich drehe mich zur Tür um. Ich muss hier raus.

Doch da ist keine Tür mehr …

Version 3

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