Von Kornelia Wulf
Das Taxi bremst vor der roten Ampel. Ich schmiege den Rücken an das Lederpolster, drehe träge den Kopf zur Seite und schaue nach rechts durch die blanke Scheibe. Aha, denke ich, Alter Damm schon. Im Halbschatten hoher Ahornbäume scheint der Straßenzug fast schon zu schlafen. Sinnend reib ich mit dem Finger über die Schläfe, während mein Blick die Bauten abtastet.
Alles vertraut. Und gleichzeitig fremd.
Die Hausfronten aufgefrischt mit neuem Putz erinnern mich an ein saniertes Gebiss. Und das, was dem Bleaching die Strahlkraft nimmt, wird lückenlos als Blendwerk ersetzt. Wo Bäcker Meyer den Teig per Hand verknetete, entdecke ich nun einen Fastfoodtempel, in dem die Massen ihr Brot nicht brechen. Nein. Sie schlingen. Stopfen mit beiden Händen nach, als handele es sich um das letzte Mahl. Daneben. Eine Glaswand. Dahinter Menschen, die über ein Endlosband rennend im Schweiße ihres Angesichts das Food verbrennen. Wo sind nur die Fische geblieben? Dort wo ich jetzt das McFit Logo lese, schwang sich früher der Schriftzug von Zoo Werner.
Und ich sehe mich vor riesigen Aquarien stehen, die Nase auf dem Schaufenster plattgequetscht. All diese bunten Körper, die durch das klarblaue Wasser gleiten! Meine Augen können sich nicht von ihren Schuppen lösen, auch wenn der Ranzen schwer auf dem Rücken drückt. Sie ziehen mich an wie ein schimmernder Magnet.
Ich spüre, wie der Fahrer sanft die Kupplung tritt, langsam in den Kant Weg einbiegt. Mein alter Spielplatz! Nur ein paar Roststellen überlackiert, ansonsten völlig unsaniert. Mein Blick streift Schaukel und Klettergerüst, bleibt an der Bank vor dem Sandkasten hängen.
Und ich sehe mich neben Julia sitzen. Julia- der Hit der 6a. Verzweifelt bemüht, den Blick zu verrenken, um die Augen nicht auf die kleinen Hügel hinab zu senken, die sich unter dem Rippstrick wölben. Und ich spüre den feuchten Schmatz auf der Wange, körnigen Schnodder auf der Haut. Die Schüppe in der Faust strahlt Max mich an, den sie mir heute wieder aufs Auge gedrückt hat. Immer muss ich auf meinen Bruder aufpassen. Hau endlich ab, höre ich mich grollen, oder du schaufelst dir gerade dein eigenes Sandgrab!
Woher kommen nur diese Gedanken? Vielleicht, weil der Schlaf mich nicht einfangen wollte, gestern in der Nacht, obwohl der Tag so chillend begann? Um Sechs hatte ich mich in den Fiat gesetzt, den Navi auf „nach mir die Sintflut“ eingestellt. Endlich geschafft, drei Tage frei, nach all den Überstunden, die ich nicht mehr zählen konnte. Leise pfeifend stand ich am Ufer des Bergsees, starrte in kristallklares Wasser. Bis auf den Grund.
Denn wer will schon im Trüben fischen?
Plötzlich fühlte ich ein Zucken in meiner Rute, drehte behutsam an der Kurbel. Ein prächtiges Exemplar hing an der Angel. Die Schuppen an meine Wange gedrückt, hörte ich das kleine Fischherz Staccato gleich klopfen. Ich ließ ihn vom Haken mit einem „so long.“ Ein gehauchter Kuss auf die orangenen Kiemen. Dann gab ich ihn seinem Gewässer zurück, als ein Beep den Moment zerstörte.
Warum hatte ich den Ton nur nicht auf stumm gestellt?
Eine WhatsApp. Von Onkel Karl. Kein Teil der Verwandtschaft, nein, man könnte ihn Freund der Familie nennen.
Du musst sofort kommen, stand auf dem Display. Gestern haben sie deine Mutter in die Klinik gebracht. Auf diese spezielle Station für verwirrte Alte, na du weißt schon, welche ich meine. Ihr Kopf weigert sich, länger mitzumachen. In den letzten Wochen hatte sie sich in der Wohnung verschanzt und mir verwehrt, nach ihr zu sehen. Auch durfte ich für sie nicht mehr einkaufen gehen. Sie hat mich durch den Türspalt angestarrt wie einen Feind und mich einfach nicht reingelassen. Wie Dir bekannt hatte deine Mutter mir diese spezielle Vollmacht erteilt. Sie kann nicht zurückkehren, sagt der Arzt, muss in ein Heim. Du solltest dich schleunigst um die Auflösung der Wohnung kümmern. Der Schneider – kannst du dich an diesen Geldsack noch erinnern? – letzten Monat hat der die Miete schon wieder erhöht.
Ein leises Rucken, der Wagen hält an. Mein Blick streift die 17,50 auf dem Taxameter. Ich nestele in meiner Börse herum, überreiche mit einem „stimmt schon“ den blauen Schein.
Keine Chance mehr, jetzt heißt es aussteigen.
Im Hausflur trifft mich die Helligkeit. Alles hübsch aufgefrischt. Alle Wandflächen in einem blendenden Weiß. Wo sind nur die dunklen Flecken geblieben?
Und ich sehe mich durch den Hausflur rennen. Spüre das Herz in der Brusthöhle hämmern. Nur raus hier, befiehlt mein Kopf mir. Bis ich ein warnendes „Vorsicht!“ höre und mit der Müller aus dem Parterre zusammenstoße. Ihre Arme entwickeln Propellerkräfte, um sie vor dem drohenden Sturz zu retten, als der Leinenbeutel an die Flurwand knallt. Aus dem Stoff rinnen rote Tropfen heraus. Gerade hatte sie sich zum Käse Kirschsaft gekauft.
Ich steige die Treppenstufen herauf. Woher nur diese Steifheit, die sich über Hüfte, Knie hinab zu den Zehen ausweitet. Als hätte ich die Beine mit einem Roboter getauscht. Ein stumpfes Empfinden unter der Haut. In meinem Kopf breitet sich eine Gleichmutsblase aus. Nur das Hecheln hält sie nicht auf. Reiß dich zusammen, flüstere ich mir zu, längstens ein Stündchen, dann ab ins Hotel.
Langsam dreht sich der Schlüssel im Schloss. Vielleicht klemmt die Tür, hoffe ich noch, als sie sanft nachgibt und ein seltsamer Sog mich nach innen zieht. In der Diele empfangen mich prall gefüllte Abfallbeutel. Ein dichter Geruch belagert den Raum. Aus dem Zugband ragt ein fauler Apfel heraus. Ich muss an weißes Fruchtfleisch und Fliegen denken.
Schluss, rufe ich mir zu, Reißleine ziehen. Und ein knapper Blick in Bad und Küche bestätigt es mir. Gleich Morgen werde ich den Entrümpelungsdienst organisieren. Schlafzimmer, Wohnzimmer, ich öffne die Türen. Eine Flut von Fotos an jeder Wand. Von überall strahlt Max mich an.
Mein Blick gleitet an der Putzkammer vorbei, an dem Gästezimmer, fast eben so klein, fokussiert sich auf die Klinke, rechts neben der Küche. Die Finger umschließen kühles Metall. Nur ein kurzer Druck. Und die auf ewig verbotene Tür springt auf.
Und ich sehe mich neben der Spielkiste hocken, vorsichtig einen Klotz auf den anderen setzen. Langsam richtet er sich auf, der Turm aus Holz, reicht fast schon bis zu Max´ Nabel herauf, der die Zungenspitze zwischen die Lippe schiebt und seinen Baustein obenauf legt. Verstohlen lins ich auf meine Swatch. Verdammt, wo bleibt sie nur? Ich will doch zu Frank, meinem Freund, aber wie immer hat sie mich an die Kette gelegt. Sie müsse noch Brot und Fisch einkaufen. Ich solle auf Max aufpassen, den nervigen Knirps. Sein Strahlen weitet sich über Stirn und Wange aus. Der Turm berührt nun fast die Nasenspitze. Diskret rücke ich seine Steine gerade, damit der Turm nicht nach Pisa auswandert. Leise seufzend schaue ich zu meinem Schreibtisch hinüber, hoffe auf Mitleid von meinem Herbert. Ein Geschenk von Onkel Karl zum zehnten Geburtstag. Das Seufzen bleibt mir in der Kehle stecken. Warum liegt er auf seinem Rücken? Beweg deine Flossen, schreie ich stumm, aber er treibt leblos in seinem Fischglas. Um ihn herum nur trübes Wasser, in dem ein paar gräuliche Bröckchen schwimmen. Ich spüre die Knirpsfinger auf meiner Schulter. Herbert hatte Hunger, sagt er, und heute Mittag gab es Bockwurst. Eine ganze Halbe habe ich ihm abgegeben.“
Ich kann nicht mehr sagen, was mich bewegte. Mich nur an diesen einen Gedanken erinnern. Der klebt fest in meinem Hirn. Dieser Schwachkopf hat meinen Herbert gekillt. Erst langsam, dann schneller lief ich im Kreis. Den Arm lang gestreckt, bis mein Finger den Turm knapp erreichte. Und wenn ich den Stein in der Mitte berührte, hörte ich ihn quieken. Pure Heilsalbe für meine Seele. Ich weiß nicht mehr, wie es passieren konnte. Er grapschte nach meinem Pulli, begann zu stolpern. Vielleicht hatte sich sein Fuß verfangen? In den verwirrten Teppichfransen? Dann nur noch ein furchtbares Krachen, als sein Genick gegen die Schreibtischkante prallte.
Am nächsten Tag sah ich Mutter zusammenpacken. Schulkram, Kleidung, meine Spielsachen. Alles wurde von Vater ins Gästezimmer gebracht. Mutter hat den Schlüssel in die Hand genommen, die Tür vom Kinderzimmer fest verschlossen, und ihn in ihrem Nachttisch verstaut. Als ich in ihr Gesicht schaute, wusste ich es genau. Alle Fragen dazu sind tabu. Wenn ich zu früh aus der Schule kam, lockte die Tür, als riefe sie leise, komm zu mir. Ich presste mein Ohr auf das Blatt, hörte Mutter wispern, stundenlang. Und wenn die Braue das Schlüsselloch fand, sah ich einen Keks in Mutters Hand. Den reichte sie in Luft hinein.
Irgendwann hallte der Ruf in mir zu laut und ich habe den Schlüssel aus dem Nachttisch geklaut. Mutter war gerade nicht da. Vielleicht auf dem Friedhof oder wieder beim Arzt? Die Bartzacken drückten in meine Ballen. Schon wollte der Schlüssel das Schloss berühren, als sie plötzlich hinter mir stand. Arme und Hände begannen zu zittern. Die Farbe schien aus der Gesichtshaut zu weichen, bis sie zur leeren Leinwand ausbleichte. Dann dieser Ton – manchmal schmerzt er in meinem Ohr. So spitz, dass er sich in die Decke bohrte.
Und Vater schaute mich traurig an.
„Ach Junge, willst du auch noch deine Mutter umbringen?“
Fluchtartig verließ ich die Elternsphäre.
„Jetzt ganz weit weg!“, schrie der Affekt.
Und nach der Kollision mit Frau Müllers Saftflasche
„Ab nach Alaska. Vielleicht darfst du dir dort eine Fischfarm kaufen.“
Der Polizist hat mich in der Nacht zurückgebracht, als er mich schlafend auf dem Bordstein fand. Vor dem Schaufenster von Zoo Werner.
Fortan versuchten meine Gastgeber höflich zu bleiben.
Nach dem Abi hat es mich in die Ferne gezogen. Niemals bin ich zurückgekommen. Habe nur eine Stippvisite hierhin gemacht. An dem Tag, als mein Vater starb.
Mit lauerndem Blick umkreis ich den Turm. Mein Finger schnellt zum Stein in der Mitte vor. Langsam lasse ich ihn fallen. Den müden Arm. Den alten Ballast. Greife hinauf zum obersten Stein. Puste den Staub in den Kinderraum, bevor er in meine Hosentasche gleitet.
Eine Erinnerung muss bleiben.
V3