Von Aniella Benu 

 

Ich lasse mich in den Lehnstuhl zurücksinken und bevor ich meine Augen schließe, schaue ich zu Alex hinüber, der friedlich vor sich hinschlummert.

Auch wenn ich das Knarren einer Tür in meinem Kopf leise vernehme, lasse ich mir noch die Zeit zu warten, bis der alte Mann vor mir wieder aufwachen wird.

Mein bester Freund.

Meine Gedanken schweifen in die Vergangenheit, als alles begann.

 

*

Kurz nach meinem vierten Geburtstag kam mein kleiner Bruder zur Welt. Bereits die Zeit bis zu seiner Ankunft versetzte mich in närrische Freude, ich war stolz darauf, ein großer Bruder zu werden. Max war ein süßes Baby und ich war ganz vernarrt in ihn.

 

Es machte mir nie etwas aus, mich mit ihm zu beschäftigen und auf ihn aufzupassen. Als er anfing zu laufen, lief er mir wie ein kleiner Schatten hinterher. Er lachte viel, unser kleiner Sonnenschein.

Darum traf es mich hart, als er mit zwei Jahren erkrankte und sich nie wieder erholte.

 

Am Ende durfte ich sein Zimmer nicht mehr betreten. Verschüchtert schlich ich durch das Haus und wagte es nicht, einen Ton von mir zu geben.

 

Max erlebte seinen dritten Geburtstag nicht mehr. Irgendwann wurde er abgeholt. Meine Eltern fuhren mit mir in ein fremdes Haus. Sie sagten was von Abschied nehmen und dass ich still sein sollte, während sie in einem Raum verschwanden.

Da sah ich sie zum ersten Mal:

Die rote Tür verschloss sich vor meinen Augen, verschlang alles, was ich liebte. Dahinter war Max, das wusste ich, nun auch meine Eltern.

Ich starrte lange auf den Lichtschein, der unter der Tür in den dämmrigen Flur drang.

 

Wir kehrten nach Hause zurück. Ohne Max.

 

Damals begriff ich, dass man den Raum hinter der roten Tür nicht immer wieder verlassen konnte. Manche Menschen konnten nicht wieder zurück.

 

In meiner Trauer um Max hatte ich begonnen, von einem Haus zu träumen, in dem es hinter vielen Türen unbekannte Räume zu erkunden gab.

Für Max hatte es nicht so viele Türen gegeben, sein Haus war nun verschlossen, er verschwand hinter der gefürchteten roten Tür und das viel zu früh.

Ich schrieb es auf, um es nicht zu vergessen, aber es war viel zu schnell vorbei, denn es gab nichts mehr nachzutragen.

 

Ich bekam kein neues Geschwisterchen, obwohl meine Eltern es gewollt hätten; Es sollte wohl nicht sein.

Drei Jahre später gab es aber bei unseren unmittelbaren Nachbarn einen kleinen Nachkömmling. Seine große Schwester Marie, ging mit mir in eine Klasse und berichtete mir davon, lud mich zu einem Besuch zu sich nach Hause ein. Dieser Einladung folgte ich irgendwann zögernd.

Er hieß Alexander und er erinnerte mich an Max.

Ich verliebte mich in den kleinen Alex sofort.

Ich besuchte den kleinen Kerl so oft ich konnte und auch er hatte bald einen Narren an mir gefressen.

Da ich mich geschickt anstellte, durfte ich später auf ihn aufpassen und sobald er laufen konnte, hing er wie eine Klette an mir. Was mich durchaus nicht störte. Ich fand neben meinen Interessen und Pflichten auch immer Zeit für den kleinen Jungen, der mein Herz erobert hatte.

Als Alex in mein Leben trat, begann ich, ein neues Tagebuch zu schreiben.

Ich beschloss, Alex durch sein Leben zu begleiten, ihm Türen zu zeigen, die es sich lohnte zu öffnen und Wege zu ebnen, die ihm zu schwierig erschienen.

Ich stellte mir vor, es wäre Max, dem ich die Welt zeigte. Ich ging in seinem Haus ein und aus und er hieß mich stets willkommen.

Trotz unseres Altersunterschieds wurden wir mit der Zeit beste Freunde.

Je älter Alex wurde, desto weniger spielte der Altersunterschied eine Rolle.

Am Anfang war ich sein Idol, er betete mich an und ich genoss es, ihn zu beschützen und zu trösten, wann immer er Trost brauchte. Ob es wegen schulischer Probleme war, Ärger mit den Eltern oder sein erster Liebeskummer, ich half ihm immer so gut ich konnte.

Als ich mit Anfang zwanzig heiratete, war er verängstigt, ob unsere Freundschaft nun zerbrechen würde, aber ich hielt an ihm fest, er war und blieb mein kleiner Bruder im Geiste.

Nun war es Alex, der in meinem Haus ein- und ausging. Da unsere Ehe leider kinderlos blieb, war Alex immer gern gesehener Gast.

Er wurde erwachsen. Ich war stolz, als er mich bat, sein Trauzeuge zu sein.

Nun begegneten wir uns mehr und mehr auf Augenhöhe.

Wir teilten immer noch Freud und Leid, nicht alles lief problemlos, auch nicht bei Alex, denn ihr erstes Kind verstarb, noch bevor es das Licht der Welt erblickte.

Ich lotste meinen Freund stets an der roten Tür vorbei. Heilfroh konnten wir ihn von seinen trüben Gedanken abbringen und ihm wieder Lebensmut einhauchen. Ihm und seiner Frau.

Wir waren mit ihnen überglücklich, als sie kurze Zeit später doch noch zwei gesunde Kinder bekamen.

Seitdem Alex seine Familie gegründet hatte, trafen wir uns regelmäßig einmal die Woche abwechselnd bei ihm oder mir. Ein Abend nur für uns beide, so wie früher.

»Heute bei uns, Alex?«, fragte ich ihn einmal. Er lächelte mich an und nickte.

»Ich freu mich drauf. Wollen wir angeln gehen vorher? Oder eine Partie Schach spielen? Na, wir können es uns ja noch überlegen. Ab drei habe ich Zeit.«

Noch standen wir mitten im Leben und hatten nicht mit den Mühen des Alters zu kämpfen. Die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, bestimmten meistens unseren Tagesablauf. Genauso gefiel es uns, es war erfüllend und machte Spaß. Jeder von uns öffnete täglich neue Türen, nicht nur die Kinder. Wir erkundeten gemeinsam, was uns die neuen Räume brachten und waren immer positiv in unserem imaginären Lebenshaus unterwegs, immer auf der Suche nach unbekannten Zielen, neuen Herausforderungen.

Unsere Männerabende fanden praktisch immer statt und wir tauschten uns regelmäßig über die Arbeit und das Familienleben aus, kleinere und größere Probleme. Wir waren ein perfektes Team. Bis heute hatte sich daran nichts geändert.

 

*

 

Ich höre, wie sich Alex bewegt und blinzele zu ihm hinüber.

Nein, noch schlummert er.

Bestimmt träumt er etwas, was ihm Freude bereitet, denn ein angedeutetes Grinsen huscht über sein ansonsten entspanntes Gesicht.

Ich merke, dass ich ebenfalls lächle. Solange wie wir Zeit miteinander verbracht haben, war mein größter Wunsch, dass es Alex gutgeht.

Ich weiß, ich muss jetzt Abschied nehmen, aber ich habe meinen Job gut erledigt. Selbst mein Bruder im Herzen ist ein alter Mann geworden. Das war nicht jedem vergönnt. Max zum Beispiel.

 

Es ist komisch, dass sich das nur in frühester Jugend und in hohem Alter bemerkbar macht.

Wie ähnlich sind sich diese Zeiten doch. Zwischendurch hat es nie eine Rolle gespielt.

 

Meine Augen gehen bei diesen Gedanken richtig auf, mein Blick liegt auf Alex.

Er schlägt seine Augen auf und fixiert mich fragend, als wenn er meinen Blick gespürt hat.

»Was ist?«, fragt er sofort. »Bin ich dir zu still heute? Ich habe geträumt, wie du mich auf dem Schlitten durch die Gegend gezogen hast. In der Kurve warst du zu schnell und ich bin umgekippt. Das …«

Ein Ächzen von meinen Lippen unterbricht seine Rede und er reißt die Augen auf.

»Was hast du?«, fragt er erschrocken und richtet sich alarmiert auf.

Ich winke ab, schiebe dann meine Brille den Nasenrücken hoch, weil sie ein Stück herabgerutscht ist.

»Ich fühle mich heute müde, mein Freund«, nuschele ich leise, aber er hat mich verstanden und sein Blick wechselt zu Besorgnis.

»Ich kann wieder gehen, dann kannst du dich ausruhen«, bietet er mir an, aber ich schüttele den Kopf.

»Ich wollte mit dir reden, Alex«, tue ich ihm kund. Er schaut mich erwartungsvoll an.

»Du kennst doch die Geschichte von Max und der roten Tür?«, fahre ich fort und er nickt zustimmend und abwartend.

»Weißt du … Ich hatte ein Tagebuch für Max angefangen.« Ich atme schwer. »Ich wollte es ihm geben, wenn er erwachsen ist. Nur ist er das ja nie geworden. Dann habe ich dich kennengelernt.« Wieder muss ich tief Luft holen.

»Für dich habe ich auch so ein Buch. Ich hatte lange Angst, dass mir die rote Tür auch dich wegnehmen würde. Darum habe ich dir nie davon erzählt.« Endlich ist es raus.

Alex schaut mich verblüfft an.

»Du hast für mich ein Tagebuch geführt?«, fragt er erstaunt.

Ich nicke.

»Ich habe das Büchlein in meinem Nachttisch. Vorne steht dein Name drin und dein Geburtstag. Es gehört dir und deinen Kindern. Vielleicht möchte ja jemand darin weiterschreiben?«

Ich sehe ihn mit einem zufriedenen Blick gemischt mit Wehmut an, aber er will es noch nicht verstehen.
Er lacht.

»Schreib du es lieber weiter. Wir können es ja zwischendurch lesen, wenn du es entbehren kannst.«

Er stemmt sich aus seinem Sessel hoch.

»Ich glaube, ich gehe doch wieder nach nebenan und schlafen. Die Woche war anstrengend, Markus. Nächste Woche unternehmen wir etwas, das haben wir so lange nicht gemacht. Wir sollten auch mal wieder grillen, was meinst du?«

Er steht auf bei seinen Worten und grinst mich an. So, wie er es früher auch immer getan hat.

Ich muss schlucken, weil ich weiß, dass es kein nächstes Treffen mehr geben wird.

Ich halte meinen imaginären Hausschlüssel schon in der Hand, mit dem ich mein Haus des Lebens abschließen werde.

Endgültig.

Ich kann nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen schießen, als ich ihm nachblicke, wie er mit mühsamem Gang das Zimmer verlässt und wünsche ihm im Stillen alles Gute.

Ich höre die Tür klappen und schließe die Augen.

Hinter mir spüre ich den Windzug.

Die rote Tür aus meiner Erinnerung steht offen, ich weiß es.

Irgendwann finde ich den Mut, drehe mich zu ihr um, gehe gedanklich auf sie zu und überschreite die Schwelle.

Mein letzter Gedanke gibt mir Trost:

 

Ich hatte ein gutes Leben.

 

 

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© Aniella Benu 2025