Von Marcel Porta

Es passierte am letzten Tag des Monats April. Einem Samstag. Vor einem Jahr. Und nichts, absolut nichts deutete auf einen außergewöhnlichen Tag hin.

Es war sonnig und ich verbrachte den Nachmittag mit meiner Frau Ilse im Garten. Abends stand „Die Macht des Schicksals“ von Verdi auf dem Programm. Ausnahmsweise nur für mich, da Ilse zu einem Klassentreffen im Nachbarort verabredet war. So machte ich mich gegen 18 Uhr auf den Weg, verabschiedete mich von Ilse.

Die Ouvertüre erklang und ich freute mich einmal mehr, dass ich in der Nähe eines derartig guten Opernhauses wohnte. In dessen Orchester zudem mein Sohn Ron eine Anstellung gefunden hatte. Auch heute spielte er und ich traf mich in der Pause mit ihm. Ich konnte ihm wieder einmal ehrliche Komplimente für die gelungene Aufführung und die grandiose Orchesterleistung machen.

 

Nach der Pause, mitten im vierten Akt der Oper, wurde mir plötzlich schwindlig. Kurz verlor ich die Besinnung, und als ich wieder aufwachte, wusste ich sofort, dass ich nicht mehr in der Oper saß. Nicht nur, weil keine Musik mehr erklang und es stockdunkel war. Der Raum, in dem ich mich befand, strahlte eine Fremdheit aus, die ich mir nicht erklären konnte, da sämtliche Sinneseindrücke versagten. Wahrscheinlich war dies der Grund für das unglaublich beängstigende Gefühl, das mich überfiel.

Als ich mich bewegen wollte, musste ich feststellen, dass ich festgeschnallt war und meine Arme und Füße nicht bewegen konnte. So sehr ich auch zerrte und zog, ich konnte meine Gliedmaßen nicht rühren. Offensichtlich waren es jedoch keine Fesseln, die mich bewegungsunfähig machten. Irgendwie hatte ich es mit einer geistigen Blockade zu tun. Also musste ich auf andere Weise versuchen, freizukommen. Und natürlich stand mir dieses Ziel vor Augen.

 

So intensiv wie möglich stellte ich mir vor, den rechten Arm zu heben. Dann erst wagte ich es und riss die Arme plötzlich nach oben. Ohne jeden Erfolg. Wenn ich etwas erreichen wollte, musste ich anders vorgehen. Wieder schuf ich in meinem Geist das Bild meines rechten Arms, der sich langsam hob, und erst als ich mich dieser Vorstellung vollkommen hingegeben hatte, versuchte ich es, ohne aktiv gegen den Widerstand anzukämpfen, mit einem sanften Heben. Es dauerte endlose Sekunden, bis ich erste Ansätze von Erfolg verspürte. Der Schweiß stand mir vor Anstrengung auf der Stirn, doch da es mir zusehends leichter fiel, den Arm freizubekommen, verstärkte ich die geistigen Bemühungen. Und plötzlich fiel die Fesselung komplett ab und ich besaß wieder meine vollständige Bewegungsfreiheit.
Sofort betastete ich mich von Kopf bis Fuß, denn ich fühlte mich in hohem Grade unwohl in meinem Körper. Auf eine Art, die ich nicht hätte beschreiben können.
Tatsächlich, da saßen etliche Saugnäpfe auf meiner nackten Brust und an meinem Kopf, die mich entfernt an Elektroden erinnerten. Ich wollte sie nicht entfernen, da ich mit einer Überwachung rechnete und keinen Alarm auslösen wollte. Warum sonst sollte ich derart verkabelt sein?

 

Eine namenlose Angst hatte mich beschlichen, die noch verstärkt wurde, als ich aus einem Nebenraum Stimmen vernahm. Wobei das Wort Stimmen die Sache nicht trifft. Es waren Zisch- und Klicklaute, die unmöglich von einem menschlichen Wesen stammen konnten. Als ich mich auf die Geräusche konzentrierte, konnte ich zwei Individuen unterscheiden. Offensichtlich handelte es sich um eine Art Sprache, denn es gab eine erkennbare Satzmelodie. Auch wenn mein Verstand es zuerst nicht akzeptieren wollte, es gab nur eine logische Erklärung für dies alles. Ich befand mich in der Hand von Außerirdischen. Absolutes Kontrastprogramm zu Verdi, auch wenn die Oper außerirdisch gut war. Immerhin, mein Humor hatte mich noch nicht ganz verlassen, auch wenn mein Gehirn sonst eher wirkte wie geistiges Brachland und die Gedanken mit elastischen Bändern an der Gehirnmasse befestigt schienen – kein einziger vernünftiger wollte sich einstellen.

 

Jetzt unternahm ich den Versuch, zumindest rudimentär meine Umgebung zu ertasten, denn sehen konnte ich immer noch nichts. Dabei stieß ich an einen Schalter und der Schreck ließ mich erstarren, denn plötzlich waren Stimmen im Raum, die menschlich klangen.

„… nichts machen. So leid es mir jedes Mal tut.“

Die Zisch- und Klicklaute aus dem Nebenraum hatten aufgehört. Offensichtlich musste ich durch die Berührung des Schalters eine Art Maschinenübersetzung in Gang gesetzt haben. Unbemerkt von den Sprechern, wie es schien. Angespannt lauschte ich dem Gespräch.

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Diese dritten Planeten sind eine schlimme Plage. Egal, in welchem Sonnensystem, immer sind es die dritten, die Ärger machen. In den meisten Fällen kommen wir zu spät und treffen keine Bewohner mehr an, der Planet eine rauchende Trümmerwüste und das ganze Sonnensystem vergiftet, sodass sich keine andere Spezies entwickeln kann.“

„Aha, das wusste ich nicht. Ich sehe, ich habe noch eine Menge zu lernen. Und der Planet hier scheint dir vom selben Schlag zu sein?“

„Wenn der Wohlstand und der Reichtum so ungleichmäßig verteilt sind, wie auf der Erde, gibt es eigentlich kaum Hoffnung. Ein Ungleichgewicht gibt es immer, das ist schon aus statistischen Gründen so. Doch wenn ein gewisses relevantes Missverhältnis überschritten ist, zeugt es von der geistigen Grundhaltung der Bewohner. Gier, Gleichgültigkeit und kein Respekt vor dem Leben sind die Ursache – und Krieg, Gewalt und Umweltzerstörung die Folge. Irgendwann explodiert dieser Kessel unter Überdruck und der ganze Planet geht in Trümmer. Hab ich schon x-mal gesehen. Und fast immer auf den verdammten Dritten.“
„Hat man schon mal versucht, sie umzusiedeln?“

„Bisher ohne Erfolg. Scheint wie ein Virus zu sein. Wen er befällt, der ist verloren.“

„Dann meinst du, es gibt keine Alternative mehr und wir müssen den dritten Planeten in diesem System zerstören, damit die auf dem zweiten, die gerade erst mit ihrer Entwicklung begonnen haben, überhaupt eine Chance bekommen?“

„Es gibt für eine Sprengung hohe Hürden, die der Ethikrat aufgestellt hat. Doch von den vielen Prüfungen, die durchzuführen sind, hat dieser Planet keine einzige für sich entscheiden können, es sieht also nicht gut für ihn aus.“

„Das heißt, wir müssen in diesem schwierigen Fall zur allerletzten Chance greifen? Ich kenne das bisher nur aus dem Lehrbuch.“

„Der Zufallsgenerator hat bereits ein Exemplar ausgewählt und auf unser Schiff gebracht. Es ist ein Männchen und wartet im Nebenraum. Mit ihm hat dieser Planet noch eine Chance von eins zu einer Million, aus dem Schlamassel herauszukommen. Der Translator ist schon geladen, wir können mit der Befragung beginnen. Zuerst werten wir die gegebenen Antworten aus, danach die Gedanken und Gefühle, die er bei diesen Antworten hatte. Was hast du über die Auswertung dieses Tests während der Ausbildung gelernt?“

„Nur wenn der Empathieindex auf allen drei Ebenen über 95 Prozent liegt, sehen wir von der Zerstörung ab.“

„Genau! Also fangen wir an.“

 

Sie kamen! So schnell ich es vermochte, schaltete ich den Translator, wie sie die Übersetzungsmaschine genannt hatten, aus. Keinesfalls sollten sie bemerken, dass ich ihr Gespräch belauscht hatte. Eilig lehnte ich mich wieder zurück und bewegte keinen Muskel mehr. Das Gehörte wühlte mich noch mehr auf als mein eigenes Schicksal. Nie war mir in den Sinn gekommen, die Menschheit für eine Ansammlung von Engeln zu halten, doch dass sie von anderen als Ausgeburt des Teufels angesehen wurde, überwältigte mich. Arme Welt, wenn ihre Daseinsberechtigung jetzt nur noch von mir armem Würstchen abhing. Mir war klar, dass es bei dieser Befragung kontraproduktiv war, zu lügen. Also konnte ich nur hoffen und beten. Wobei Letzteres absolut nicht mein Ding war.

 

„Was ist für dich das Wichtigste auf der Welt?“

Ich war mit der ersten Frage konfrontiert. Wie ein Blitz kam mir die Erinnerung an einen Film in den Sinn, bei dem alle auf diese Frage mit „Der Weltfriede“ antworteten. Und natürlich hatten alle gelogen. Auch ich würde mit dieser Antwort lügen, obwohl seine Priorität bei mir ziemlich hoch war. Aber wir Menschen sind zwar von Natur soziale Wesen, doch Menschheit ist ein Begriff, der erst spät entstanden ist. Und auf ihn bezog sich der Weltfriede. Also gab ich die einzige Antwort, die sowohl meinen Gefühlen als auch meinem Intellekt die richtige schien.

„Meine Familie.“

 

„Angenommen, jemand fügt dir großes Unrecht zu, und der Zufall gibt dir Macht über den Verursacher. Was tust du?“

 

Ich weiß heute nicht mehr, wie viele Fragen mir gestellt wurden. Auch kann ich mich an die meisten nicht mehr erinnern, so wenig wie an meine Antworten. Zu groß war der Stress angesichts dessen, was auf dem Spiel stand. Sie zielten alle auf mein Sozialverhalten ab. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein und erwachte wieder in der Oper, mitten im vierten Akt von Tosca. Es war, als wäre keine Sekunde verstrichen, seit dieser Horrortrip begonnen hatte.

 
Seitdem habe ich meine innere Ruhe verloren. Keine Sekunde zweifle ich an der Realität des Erlebten. Und immer wieder kommen mir zwei Zeilen aus dem vierten Akt der Oper, während der ich entführt wurde, in den Sinn: „Öffne dich, Erde, die Hölle soll mich verschlingen, der Himmel einstürzen, die ganze Menschheit untergehen!“
Leider weiß ich nichts über das Ergebnis dieser letzten Prüfung. Ich habe auch keine Ahnung, in welchem Zeitrahmen das Urteil vollstreckt würde, sofern es Auslöschung der Spezies bedeuten sollte. Jede vernünftig ermittelte Wahrscheinlichkeit spricht gegen mich. Also rechne ich ständig mit meinem Versagen in jener Nacht und dem Ende der Menschheit. Und diese Angst macht mich wahnsinnig und wird mich bis an mein Lebensende verfolgen.

 

© Marcel Porta, 2017

 

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