Von Gabriele Lengemann

Der schönste Ort meiner Kindheit war das Häuschen meiner Großmutter und der riesige Garten mit den prächtigen Obstbäumen. Ja, ich weiß, das Glück ist flüchtig, nirgends hält es sich lange auf, aber damals, so schien es mir, hat es oft auf dem Küchensofa gesessen und Oma und mir lächelnd zugezwinkert.

Bei meiner Omi war immer etwas los. An Geburtstagen, Hochzeitstagen, an Weihnachten, Silvester und Ostern, zwischendurch zu Kaffeekränzchen und auch ganz ohne Anlass, kamen Verwandte, Nachbarn, Freunde von nah und fern zu Besuch, und die Tische bogen sich unter der Last der Köstlichkeiten, die Oma anbot.  Beim Abschied trugen die Gäste, ob sie wollten oder nicht, Päckchen mit Würsten und Kuchen mit sich hinaus, denn es war jedes Mal zu viel eingekauft und gebacken worden.

Gern und oft zu Gast war auch das Ehepaar Karl und Thea Naumann. Karl, von allen Charly genannt, war im Krieg verwundet worden, er hatte ein Glasauge und einen Bombensplitter im Kopf. Thea behauptete, der Splitter sei die Ursache für Charlys seltsames Benehmen. An manchen Tagen redete er wie ein Wasserfall. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, er gab zahlreiche Geschichten aus seiner Familie und aus seiner früheren Tätigkeit als Finanzbeamter zum Besten. Er sprach sehr schnell, verhaspelte sich dabei, und der Speichel schoss in kleinen Fontänen aus seinem Mund. An anderen Tagen gab er keinen Ton von sich, stundenlang saß er da und stierte teilnahmslos vor sich hin. An den sprachlosen Tagen öffnete er den Mund nur zum Essen und Trinken. Er war dann gar nicht richtig bei uns, aber besonders für seine Ehefrau, waren das die angenehmeren Tage.
 
Meist fuhr der weiße Mercedes des Paares bereits zum Mittagessen bei uns vor. Ich lief dann nach unten, um die Haustüre zu öffnen und jedes Mal schlug mir der schwere Duft von Theas Parfüm entgegen und erfüllte sogleich das ganze Treppenhaus. Ihre unzähligen, goldenen Armreifen klirrten und funkelten, wenn sie Oma zur Begrüßung an sich zog und dann in ihrer Tasche nach der Tafel Schokolade suchte, die sie bei jedem Besuch für mich dabeihatte. Charly trug stets einen Anzug und ein blendend weißes Hemd mit Manschettenknöpfen.  Er war so riesig, dass er beim Eintreten in Omas Wohnstube den Kopf einziehen musste.  Wenn Charly und Thea kamen, konnten sie sich sofort an den gedeckten Mittagstisch setzen und erst am späten Nachmittag, nach Kaffee und Kuchen, fuhren sie wieder. Egal ob Charly redete oder nicht, Essen war ihrer beider Leidenschaft, und man sah es ihnen an.
Um sich mehr Bewegung zu verschaffen, kauften Sie sich einen schwarzen Zwergpudel, der sie fortan begleitete. Da der kleine Hund mit kurzen Spaziergängen zufrieden war, wurde es nichts mit dem Abnehmen. Überdies sorgte der Pudel für Verwirrung und Streitigkeiten zwischen den Eheleuten, da er nach seinen Papieren einen französischen Stammbaum hatte und auch Charly hieß. Sein Herrchen fand die Namensgleichheit unzumutbar, aber alle Versuche, den Hund umzutaufen, scheiterten. Wenn überhaupt, hörte er nur auf den Namen „Charly“. So hatte Thea einen Charly-Mann und einen Charly-Hund, wobei sie dem Hund deutlich mehr Aufmerksamkeit und Zärtlichkeiten zuteilwerden ließ.
Ganz offensichtlich genoss sie es aber auch, ab und zu „Charly es reicht“, oder „Charly halt‘s Maul“, zu rufen und dann zu behaupten, sie habe den Hund gemeint, wenn ihr Mann erschrocken seinen Redeschwall unterbrach.

An einem Spätsommernachmittag hatte Oma die Kaffeetafel im Garten hinter dem Haus gedeckt.  Der Himmel war leuchtend blau, es war noch warm, aber in der klaren Luft lag schon ein Hauch von Herbst. Ich saß auf der Gartenbank, die nah an den Kaffeetisch geschoben worden war, vor einem verschwitzten Stück Schoko-Biskuit und einer Limonade, und beobachtete Oma und Thea, die Äpfel pflückten und in einen großen Korb legten. Das kleine rote Kofferradio auf dem Tisch spielte Schlagermusik. Neben mir saß der, heute schweigsame, Charly-Mann, daneben schlief der Charly-Hund.
Thea wollte die Äpfel zu Kuchen und Gelee verarbeiten, und damit sie nicht vergessen wurden, bestand Oma darauf, den vollen Korb sogleich im Mercedes zu verstauen. Das bedeutete für Thea, dass sie die steile Treppe zu Omas Wohnstube erklimmen, den Autoschlüssel holen, und dann den schweren Korb zum Auto tragen musste. Kein Wunder, dass sie völlig erschöpft an die Kaffeetafel zurückkehrte, um sich mit einer weiteren Tasse Kaffee und einer „letzten“ Cremeschnitte zu belohnen.
Sie schob sich keuchend am Tisch vorbei und ließ sich neben ihrem Mann auf die Bank fallen. Dabei übersah sie den Hund, der laut aufjaulte und dann einen langen Schnaufer von sich gab, als habe man die Luft aus ihm herausgelassen. Thea sprang auf, der Tisch kippte um, es schepperte und krachte. Ich hastete ein paar Schritte zur Seite, maßlos erschrocken von dem Drama und dem Durcheinander, das sich vor meinen Augen abspielte. Der Hund lag still, seltsam verdreht, auf der Bank und die arme Thea kniete davor und schluchzte. Zwischen zerbrochenen Tellern und Tassen versickerten Kaffee und Limonade im Gras. Das Kofferradio lag unter der Schoko- Biskuit-Rolle, aber es spielte unverdrossen weiter.
„Ich mach ein glückliches Mädchen aus dir“, sang Chris Roberts, und ich wischte mir mit den Handrücken über die Augen und hielt hilfesuchend nach meiner Oma Ausschau. Der Charly-Mann war aus seiner Lethargie erwacht und begann den Hund auf eventuelle Lebenszeichen zu untersuchen.
„Du hast ihn zerquetscht, Thea“, stellte er dann sachlich fest. „Nix mehr zu machen.“
Oma kam und übernahm das Kommando. Sie stellte den Tisch auf und sammelte die Scherben ein. Dann holte sie eine Wolldecke aus der Wohnung, wickelte den Hund hinein und trug ihn in den Schuppen, damit ihn Opa, wenn er abends von der Arbeit kam, begraben konnte.
Thea ließ sich nur schwer beruhigen.  Sie klammerte sich an ihren Mann, weinte und stieß laute Klagelaute aus. Charly hielt sie ganz fest umschlungen und strich ihr mit seinen großen Händen beruhigend über den Rücken. Ich sah, dass auch ihm Tränen über beide Wangen liefen, und fragte mich, wie dies möglich sein konnte, denn er hatte doch das Glasauge.

Opa begrub den Hund hinten im Garten. Thea und Charly waren damit einverstanden, denn sie hatten nur eine Dreizimmerwohnung mit Balkon und wussten nicht wohin mit dem toten Tier. Ich habe Charlys letzte Ruhestätte mit schönen Steinen und Gänseblümchen geschmückt und ein Kreuz aus Ästen gebastelt. Als es Herbst wurde und kühl, hatte ich keine Lust mehr, mich um das Grab zu kümmern und so wuchs Gras darüber.

Oma bekam weiterhin häufig Besuch, aber Thea und ihren Charly-Mann sahen wir eine ganze Weile nicht mehr. Erst hieß es, Thea brauche Abstand von dem Ort, an dem sie ihren geliebten Hund verloren hatte. Im Oktober erzählte Oma dann, die beiden seien im Urlaub in den Bergen.  Ich stellte mir vor, dass Charly bei seinem nächsten Besuch einen Trachtenhut tragen und stundenlang Geschichten vom Bergsteigen erzählen würde, so wie Luis Trenker, den Oma und ich uns oft gemeinsam im Fernsehen anschauten.

Bis Ende November musste ich warten, dann kamen sie wieder. Ich stand am Wohnzimmerfenster, als der weiße Mercedes vor dem Gartentor hielt und lief ihnen entgegen. Es regnete in Strömen und sie hatten einen neuen Hund dabei.

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