Von Agnes Decker
Der See war anders als sie ihn in Erinnerung hatte. Schmutzig grau und aufgewühlt. Der aufkommende Wind trieb eine Welle nach der anderen vor sich her. Mit einem lauten Klatschen schlugen sie ans Ufer. Die junge Frau zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und steckte die Hände in die Taschen. Ein leichter Nieselregen setzte ein. Wie einsam es hier war. Zehn Minuten würde sie noch warten. Im Gebüsch neben ihr knackte es. Die Frau zuckte zusammen. Äste brachen und es raschelte. Da sah sie ihn. Der riesige Schwan breitete seine Flügel aus und kreiste einmal über den See. Dann war er hinter dem angrenzenden Wald verschwunden. Nur sein Trompeten war noch zu hören. Die Frau blieb stehen und betrachtete die unruhigen Wellen. Aus der Ferne erklang ein Motorengeräusch, das schnell näher kam.
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„Moment mal“, die alte Dame ging zu der wuchtigen Kommode und zog ein blaues Heft aus der Schublade. Kriminalkommissar Schmitz schaute sie erwartungsvoll an.
Die Frau rückte die Brille zurecht und begann zu blättern. „Hier“, sagte sie. „Aha, da ist es. Am Mittwoch um 16.00 Uhr. Ich schreibe mir alles auf, wissen Sie.“
„Ja, Frau Markowitz. Und was war am Mittwoch?“
„Ach so, die hat schon mal eingekauft für mich, die Nina. Am Mittwoch musste sie gleich wieder los. War so eilig, dass sie das Geld liegen gelassen hat. Immer in Eile, die jungen Leute.” Die Frau seufzte. „Vielleicht wollte sie zum Spätdienst. In der Uniklinik. Haben Sie da schon nachgefragt?“
„Danke, Frau Markowitz. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an.“ Schmitz legte seine Karte auf den Tisch.
Als er den Aufzug betrat war ihm, als habe er etwas Wichtiges übersehen. Aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr verschwand dieses Etwas aus seinem Bewusstsein. Er sollte sich auch ein solches Heft kaufen.
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„Die Leiche wurde am Samstagmorgen gefunden. Von Spaziergängern. Im Gebüsch neben ihrem Auto. Weißer Fiesta. Älteres Baujahr. Nina Kämmerer, 34, Krankenschwester in der Uniklinik, lebte alleine. Ist am Donnerstag nicht zum Dienst erschienen. Am Freitag hat die Mutter die Vermisstenanzeige aufgegeben. Sie hatten einen wichtigen Termin und Nina war nicht gekommen, hatte sich auch nicht gemeldet. Die Mutter machte sich Sorgen, rief in der Uniklinik an und dann bei uns.“ Schmitz räusperte sich. „Nina Kämmerer ist erschlagen worden. Mit einem stumpfen Gegenstand. Von vorne, mit enormer Gewalt, das Gesicht war regelrecht zertrümmert. Genaueres im Obduktionsbericht. Kann noch dauern, sagt Dr. Heilmann. Das war`s Leute. Mehr haben wir noch nicht. Also, an die Arbeit.“
Die Männer und Frauen der SoKo „Parkplatz“ packten ihre Unterlagen zusammen und verließen den Raum. Nur Peter Hausmann, sein engster Mitarbeiter, blieb. „Klingt als ob sich Täter und Opfer gekannt hätten. Vielleicht ein Streit, der eskaliert ist. Hatte sie einen Freund?“
„Wenn, dann hat sie ihn geheim gehalten. Weder die Mutter, noch die Nachbarn oder die ArbeitskollegInnen wussten etwas von einer Beziehung.“ Schmitz rieb sich mit dem Daumen über die Stirn. Da war es wieder dieses unbestimmte Gefühl.
„Bestimmt ein Arzt. Sie war doch Krankenschwester.“
„Peter, ich glaube es nicht. Schaust du etwa diese blödsinnigen Serien?“ Schmitz grinste. „Aber wir sollten auf jeden Fall die Alibis der Herren überprüfen. Fährst du zur Klinik? Ich muss nochmal in die Wohnung der Kämmerer. Irgendwas war da…“
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Jedes Mal, bevor er die Wohnung eines Mordopfers betrat, hatte Kommissar Schmitz ein beklemmendes Gefühl. So, als täte er etwas Verbotenes. Wie früher, wenn er heimlich im Tagebuch seiner Schwester gelesen hatte. Vorsichtig, als wolle er niemanden stören, öffnete er die Tür. Es roch nach Staub und abgestandener Luft. Dabei war es erst ein paar Tage her, dass Nina Kämmerer hier ihren Alltag gelebt, Kaffee gekocht, ein Brot geschmiert hatte. Alles sah so aus, als würde sie jeden Moment zurückkommen. Die Handtücher hingen wie eben hingeworfen auf dem Badewannenrand, der Fön lag eingesteckt auf dem Klodeckel. Auf dem Küchentisch stand das benutzte Geschirr. Eine Tasse mit einem Rest Kaffee und ein Teller mit Krümeln, daneben ein Messer, an dem noch Butterreste klebten, als wäre sie nach dem Frühstück eilig aus dem Haus gegangen. Aber warum war sie nicht mehr in ihre Wohnung zurückgekehrt, nachdem sie für die Nachbarin eingekauft hatte? Hätte sie sich nicht für ein romantisches Date geduscht, umgezogen, geschminkt? Merkwürdig. Schmitz setzte sich auf den Stuhl am Küchentisch und stellte sich vor, wie die junge Frau hier gesessen, vielleicht über ihr Date nachgedacht hatte oder darüber, wie lange sie noch verbergen konnte, mit wem sie sich traf.
Im Auto fand man nur die Handtasche mit der Geldbörse, etwas Kosmetik, dem Handy und diesem eigenartigen Einkaufszettel. Die Kollegen hatten anzügliche Bemerkungen gemacht. Gefunden hatte man nichts von den Sachen auf dem Zettel. Schmitz öffnete den Kühlschrank, denn da hätten die Gambas reingehört, der Sekt und die Sprühsahne, eventuell auch die Avocados, je nach Reifegrad. Und wieso wollte sie einen Fön kaufen, wo es einen gab im Bad, einen guten? Und wofür das Haarwachs? Rätselhaft. Auch das sei, so die Kollegen, eindeutig Zubehör für ein sexuelles Abenteuer. Hier hatte Caro für Aufklärung gesorgt. Haarwachs nähmen Männer, um ihre Frisur in Ordnung zu bringen, das, was die Kollegen meinten, hieße Enthaarungswachs. Man sollte sich trotzdem alle Möglichkeiten offen halten, damit hatte Schmitz die unsinnige Diskussion beendet. Er atmete hörbar aus, stand auf und verließ die Wohnung. Sorgfältig schloss er die Tür ab und versiegelte sie wieder. Auf dem Weg zum Aufzug machte er auf dem Absatz kehrt.
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„Ach, der Herr Kommissar“, sagte Frau Markowitz als sie die Tür öffnete. „Na, dann kommen Sie mal rein.“
Schmitz folgte ihr in die Küche, die der Hauptaufenthaltsraum zu sein schien. Und der einzige mit einem Fenster zur Straße. Auf dem Kissen, das auf der Fensterbank lag, waren noch die Abdrücke ihrer Arme zu sehen. Schmitz setzte sich auf den gleichen Stuhl wie beim letzten Mal, und da sah er es.
„Wohnen Sie eigentlich alleine hier, Frau Markowitz?“ Sein Blick fixierte die Garderobe.
„Wegen der Jacke und der Kappe? Die gehören meinem Enkel. Der wohnt mal wieder bei mir, hatte sich mit seinem Stiefvater in der Wolle.“ Die alte Dame nahm ihm gegenüber Platz. „Er hat`s nicht einfach, aber er ist ein guter Junge.“
„Ist er denn da, der Enkel? Ich würde ihn gerne sprechen.“
„Nein, um diese Zeit nicht. Da ist er mit seinen Freunden… Meistens kommt er erst abends zum Essen und verschwindet dann sofort in seinem Zimmer.“
„Arbeitet er nicht, ihr Enkel? Wie alt ist er denn?“
„Ach, Herr Kommissar, der Justin und arbeiten. Schön wär`s. Ne, ne. Hat er noch nie. Lebt vom Amt. 30 wird er im Sommer. Da müsste er doch mal…“
„Hat er eigentlich die Frau Kämmerer gut gekannt, der Justin?“
„Ja natürlich. Nina hat ihm viel geholfen, früher.“
„Früher?“
„Ja, da ist sie mit ihm zu den Ämtern gegangen und in ein Haus für Leute, die mal in der Psychiatrie waren und so. Seit ein paar Monaten ist sie nur gekommen, wenn er nicht da war.“
„Ist denn etwas vorgefallen?“
„Ich weiß es nicht. Mit mir spricht ja keiner. Aber ich habe die zwei auf der Straße streiten sehen. Das war, kurz bevor Nina…“
„Wissen Sie worum es ging, Frau Markowitz?“
„Nein, aber es war sehr heftig. Hab Nina noch nie so erlebt. Vielleicht hat er sie wieder mal bedrängt. Er war verrückt nach ihr. Sie hat ihn ausgelacht. Bist nicht meine Liga. Aber das hat nichts genützt.“
„Kennen Sie diesen Einkaufszettel, Frau Markowitz?“ Schmitz hatte sein Handy aus der Tasche gezogen.“Moment“, er tippte wild darauf herum, dann hielt er es der Frau hin.
„Nein. Was soll das sein, Gambas?“
„Und die Handschrift?“
„Die, ja das hat er geschrieben.“ Die Frau nestelte nervös an ihrem braunen Wollrock herum.
„Kann ich mal sein Zimmer sehen?“
„Da, neben dem Bad.“ Die Frau zeigte auf eine verkratzte Holztür. „Aber ich weiß nicht…“
Doch der Kommissar war schon aufgestanden und ging auf die Tür zu. Als er sie öffnete, kam ihm ein Schwall miefiger Luft entgegen, eine Mischung aus Zigarettenrauch, Alkohol und etwas Süßlichem, vermutlich Cannabis. Er zog Handschuhe an und begann das Zimmer zu durchsuchen, wühlte zwischen vollen Aschenbechern, leeren Bierflaschen und Pizzakartons, in einem Schrank mit einem Durcheinander zerknüllter Klamotten und in der Schublade eines Tisches, der wohl einmal ein Schreibtisch war. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte. Er nahm sein Diensthandy und rief Peter Hausmann an.“Bist du noch in der Uniklinik. Ja, ok. Ich schicke dir ein paar Fotos. Der Kerl darauf müsste dort arbeiten. Ok. bis gleich.“ Schmitz hielt das Handy über den Schreibtisch. Es blitzte. Dann wartete er.
„Ja, Peter? Ich sollte was? Mehr Serien schauen? Ha, ha. Brauch ich nicht, siehste doch. Aha, Dr. Richter, Oberarzt. Festnehmen und aufs Revier bringen. Ja, wegen Mordverdacht an Nina Kämmerer. Ok. Bis später.“
Frau Markowitz schaute ihn ängstlich an. „Aber er ist doch kein Mörder, der Justin. Der kann doch keiner Fliege was zuleide tun.“
„Nein, das ist er nicht. Aber verhaften muss ich ihn trotzdem.“ Schmitz hielt einen Briefumschlag in den Händen, aus dem er Fotos und Geldscheine zog.
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„Sie wollte ihm sagen, dass sie schwanger ist. Da ist er durchgedreht. Er ist auf sie losgegangen mit einem dicken Ast, das Schwein. Als ich dort ankam, lag Nina da und war tot. Und er war weg.“
„Und, war sie schwanger?“
„Nein, natürlich nicht. Sie sagte, damit kriege sie ihn. Er würde bezahlen. Viel Geld. Wir wollten doch nach Brasilien.“ Justin wischte sich mit der Hand über die Augen.
„Und das sollte gefeiert werden. Nur Nina und Sie. Schade um Sekt und Gambas und um den Rest, was? Ich verhafte Sie wegen räuberischer Erpressung.“ Der Kommissar legte die Hand auf Justins Kopf, drückte ihn nach unten und schloss die Tür des Dienstwagens.
Dann schaute er noch einmal zu dem Fenster und begegnete dem Blick der alten Frau, die gerade das Kissen wegnahm und die Gardine zuzog.
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