Von Angelika Brox
Christian liebte die Filme der 1950er Jahre. Vor allem alte Hitchcock-Krimis schaute er sich immer wieder gerne an.
Eines Tages entdeckte er zufällig im Internet eine „gebrauchte Schaufensterpuppe, männlich, sitzend“. Sie hatte zwar keine Haare, aber dafür war der Preis erschwinglich. Während er das Foto betrachtete, reifte in seinem Kopf eine Idee heran und blühte auf. Kurz entschlossen klickte er auf „kaufen“ und bestellte anschließend gleich noch eine schwarze Kunsthaarperücke und einen hellblauen Pyjama in Größe XL.
Drei Tage später trafen die Perücke und der Schlafanzug ein. Nach einer Woche wurde die Schaufensterpuppe geliefert. Gespannt schob Christian das sperrige Paket ins Wohnzimmer und riss es auf. Zum Vorschein kamen zwei Beine, zwei Arme, zwei Hände und ein Torso mit Kopf. Die Hautfarbe wirkte zu seiner Freude recht natürlich. Auch das Gesicht fand er gelungen: lächelnder Mund, gerade Nase, blaue Augen und dunkelbraune, geschwungene Brauen.
Behutsam steckte er den Körper zusammen. Dann zog er der Puppe den Pyjama an, setzte sie auf seinen Schreibtischstuhl und sagte: „Hallo, James, gut siehst du aus, aber was ist denn mit deinen Haaren passiert?“
Er stülpte James die Perücke auf den Kopf. Zum Glück passte sie genau, aber die Frisur stimmte noch nicht. Mit einem nassen Waschlappen feuchtete er die Haare an und kämmte sie in lockeren Wellen aus dem Gesicht. Die Seiten schnitt er ein wenig kürzer. Anschließend trat er einen Schritt zurück und war begeistert, denn die Schaufensterpuppe sah James Stewart zum Verwechseln ähnlich.
Für das Gipsbein krempelte er James‘ linkes Hosenbein hoch und umwickelte den Unterschenkel mit Mullbinden. Das musste als Attrappe reichen.
Nun rollte er den Schreibtischstuhl so ans Fenster, dass James hinausschauen konnte.
Jetzt fehlte noch das wichtigste Accessoire. Aus den Tiefen seines Kleiderschranks kramte er das Fernglas hervor, mit dem er in seiner Jugend Vögel beobachtet hatte, und drückte es der Puppe so in die Hände, als würde sie hindurchschauen.
Zufrieden betrachtete er das Arrangement. Perfekt! Hier saß James Stewart am Set, wie er leibte und lebte, bereit zum Dreh von „Das Fenster zum Hof“.
Christian konnte gar nicht mehr aufhören zu grinsen. Genau so hatte er sich sein Kunstwerk vorgestellt!
„Na, James, alter Schnüffler, wen beobachtest du denn da?“, fragte er übermütig, stellte sich hinter die Puppe und schaute ihr über die Schulter.
Bisher hatte er sich nie besonders für seine Nachbarn interessiert. Nun blickte er zum ersten Mal in deren Fenster.
Auf gleicher Höhe, in der Wohnung direkt gegenüber, sah er im Schlafzimmer einen Mann vor einem Computer sitzen. Dem flackernden Licht nach zu urteilen spielte er ein Videospiel. Im Wohnzimmer saß eine Frau auf dem Sofa und schaute fern.
Darunter, im Erdgeschoss, hatten sich – vermutlich – ein Vater, eine Mutter und ihre zwei kleinen Söhne um einen Tisch versammelt, würfelten und bewegten Figuren auf einem Spielbrett.
Im zweiten Stockwerk konnte er keine Bewegung ausmachen. Anscheinend war gerade niemand zu Hause.
Zur Feier des Tages öffnete Christian eine Flasche Weißwein, setzte sich mit einem Buch in seinen gemütlichen Polstersessel, schenkte sich ein Glas ein und prostete James zu.
„Viel Spaß beim Spionieren!“, sagte er. „Lass dich nur nicht erwischen!“
Als es zu dämmern begann, stand er auf, um die Jalousie herunterzulassen. Vorher warf er noch einen raschen Blick auf das Haus gegenüber. Im Erdgeschoss bereiteten die Eltern in der Küche das Abendessen zu und die beiden Jungen hockten im Kinderzimmer auf dem Boden und bauten mit Legosteinen. Im ersten Stock bot sich derselbe Anblick wie am Nachmittag: Im Schlafzimmer saß ein Mann vor seinem Computer und spielte ein Videospiel. Im Wohnzimmer saß eine Frau auf dem Sofa und schaute fern.
„Guck dir das an!“, sagte Christian. „Da bleibe ich lieber allein.“
In der Wohnung im zweiten Stock brannte nun Licht. Eine junge Frau stand im Badezimmer und föhnte sich die Haare. Viel konnte er nicht erkennen, doch was er sah, gefiel ihm.
„Was hältst du davon, wenn ich für dich nach einer hübschen Grace Kelly Ausschau halte?“, fragte Christian.
Lächelnd ließ er die Jalousie herunter. Dann drehte er James‘ Stuhl um und rollte ihn neben seinen Lesesessel. Nach kurzer Überlegung holte er ein zweites Glas, goss Wein hinein und sagte: „Zum Wohl, alter Knabe, mit dir trinke ich am liebsten!“
Am späten Vormittag des nächsten Tages zog Christian die Jalousie im Wohnzimmer hoch und rollte James an seinen Stammplatz.
Im Erdgeschoss waren die Kinder anscheinend allein in der Wohnung. Der größere Junge hielt etwas hoch, was der kleinere unbedingt erreichen wollte. Es handelte sich wohl um ein Stofftier, einen Affen, soweit Christian es erkennen konnte. Der kleinere Junge sprang unentwegt an seinem Bruder hoch und versuchte, ihm den Affen aus der Hand zu reißen, aber der hielt das Tier geschickt außer Reichweite, drehte sich um die eigene Achse, warf es in die Höhe, fing es wieder auf und schien sich köstlich zu amüsieren. Christian konnte sich gut in den jüngeren Bruder hineinversetzen und fühlte mit ihm die wachsende Wut und Verzweiflung.
Jetzt ließ der Kleine die Arme hängen und wandte sich ab. Plötzlich entdeckte er James, der sein Fernglas auf die Szene gerichtet hielt. Der Junge lief zum Fenster, deutete herüber und rief seinem Bruder etwas zu. Daraufhin schaute der Ältere ebenfalls her, dann drückte er schnell dem Kleinen das Stofftier in die Hand, klopfte ihm besänftigend auf die Schulter und stapfte aus dem Raum.
Christian lachte.
„Na also“, meinte er. „Gut gemacht, James!“
Im ersten Stock beschäftigte sich die Frau in der Küche, während der Mann im Schlafzimmer Videospiele spielte.
Im zweiten Stock absolvierte die junge Frau vor dem Fernseher Gymnastikübungen. Der Anblick gefiel Christian außerordentlich und es fiel ihm schwer, seinen Fensterplatz zu verlassen.
„Mensch, James“, lachte er, „durch dich werde ich noch zum Spanner!“
Er ging in die Küche, um dem guten Beispiel der Frau im ersten Stock zu folgen und sich ein ordentliches Mittagessen zu kochen. Schließlich war es wichtig, dass man sich als Single nicht hängen ließ.
Abends stellte er eine Flasche Wein und zwei Gläser auf den Wohnzimmertisch.
„Wie wär’s mit einem Film?“, fragte er. „Vielleicht Der Mann, der zu viel wusste?“
Er ging zum Fenster, um die Jalousie herunterzulassen und James an den Tisch zu holen. Vorher warf er noch einen raschen Blick auf das Haus gegenüber.
Im Erdgeschoss saß die Familie um den Tisch und spielte Karten.
Im zweiten Stock hockte die junge Frau mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa und las in einem dicken Buch.
Am meisten wunderte sich Christian über das, was er im ersten Stockwerk zu sehen bekam. Der Mann spielte ausnahmsweise kein Videospiel und die Frau schaute nicht fern, sondern beide standen nebeneinander am Schlafzimmerfenster, deuteten auf James und redeten heftig gestikulierend aufeinander ein. Schließlich umarmte der Mann die Frau, gab ihr einen langen Kuss, nickte einmal knapp zu James herüber und ließ die Jalousie herunterrattern.
Lachend klopfte Christian James auf die Schulter. „Ich glaube, du hast heute ein gutes Werk getan, mein Lieber!“
Am folgenden Tag, als er James wieder an seinen Aussichtsplatz setzte, war er schon gespannt, ob es etwas Neues zu sehen gäbe. In den Wohnungen im ersten und zweiten Stockwerk hielt sich offensichtlich niemand auf, im Erdgeschoss war nur die Mutter zu Hause. Sie lief umher, als würde sie aufräumen.
Plötzlich musste Christian schmunzeln.
„Oh, schau mal, James!“, rief er. „Ich glaube, da will sich jemand bei dir bedanken.“
Auf der Fensterbank im Kinderzimmer stand Luke Skywalker und hob sein Lichtschwert grüßend dem Mann entgegen, der gestern einen Affen gerettet hatte.
Abends wollte Christian seinen liebgewordenen Dämmerschoppen mit James genießen. Zuvor trat er ans Fenster und warf einen Blick hinaus. Gegenüber im Erdgeschoss war die Familie in der Küche versammelt und belegte ein Pizzablech. Das Paar im ersten Stock kuschelte sich vor dem Fernseher aneinander. ‚Stille Nacht‘, dachte Christian und wurde ein bisschen sentimental. Doch als er zum Wohnzimmer im zweiten Stock hinüberschaute, riss er die Augen auf: Die junge Frau saß wie am Vortag lesend auf dem Sofa, aber an ihrem Fenster klebte nun ein Poster von James Stewart und Grace Kelly. Daneben hatte sie riesige Ziffern auf die Scheibe gemalt.
Christian spürte sein Herz pochen, als er zum Telefon griff und die Zahlen eintippte.
Während er dem Rufton lauschte und beobachtete, wie die junge Frau aufstand, sagte er zu James: „Könnte sein, dass wir heute bei unserem Filmabend Gesellschaft haben.“
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