Von Kornelia Wulf

Dieser Specht vor dem Fenster. Echt – das nervt mich. Mühsam rolle ich den Kopf unter dem Kissen hervor, den der da draußen wohl für eine Trommel hält. Nein, keine Bongo. Eher eine Cajón. Von der er vielleicht glaubt, sie sei sein Haus. Mein Blick fängt die Dartscheibe ein – unter der Lampe, direkt neben dem Schrank – die vor den benommenen Augen zu kreisen beginnt. Darunter kleine Pfeile. So hübsch wie bunte Federn die Flights …

Ey, raunze ich mich an, wie bist du denn drauf. Und überhaupt.

Die Schäfchendecke von der Haut abschälend, versuche ich die Finger am Zittern zu hindern, bis in die kleinste Pore verschwitzt.

Irgendwas klebt an meinem Bauch. Vorsichtig löse ich den Shirtstoff vom Nabel ab, aus dem ein penetranter Geruch aufsteigt. Süßlich-scharf, stößt mir sauer auf. Mit schwankenden Schritten quäle ich mich ins Bad, vernehme unter den Sohlen ein leises Krachen. Senke im Zeitlupentempo den Blick, damit der Schwindel nicht wieder meine Welt überfällt. Nicht zu fassen. Da rieseln Brösel, aus beiden Ärmeln, die eine Spur hinterlassen. Auf dem Laminat. Noch kribbelt ein Prusten in meiner Kehle, bevor die Mundwinkel sich abwärts ziehen und die Knospen ganz hinten zu schreien beginnen

„Nie wieder Cheese&Onionchips!“

Am Waschbecken nehme ich einen Schluck aus dem Becher. Das kalte Wasser betäubt den leicht wunden Rachen. Jetzt die Zähne, nein – vielleicht später. Viel zu schwach meine Hand, um die Bürste zu halten. Zurück bleibt ein zäher, schaler Geschmack. Schon etwas verblasst seit heute Nacht. Auf dem Weg zurück lehne ich den Kopf an den Schrank, blinzele durch das Fensterglas. Die Morgensonne gibt heute alles. Sendet mir ihren Blenderstrahl, der sich mit roher Gewalt durch die Pupillen bohrt.

Wieder ins Bett, ruft der Kopf, als ein stechender Schmerz hinter den Schläfen aufblitzt. Noch im Drehen kurz die Stirn entspannen, bevor ich mit Ruck die Augen aufreiße. Ist nicht wahr, denke ich, den Blick durch die Scheibe fünf Stockwerke abseilend, der sitzt schon wieder da!

Sein Flaumhaar glänzt in der Sonne.

Beim Haarwuchs ist wohl was schiefgelaufen. Grischa lacht, wenn er das sagt.

Das Feinhaar beginnt sich pfeilgerade aufzurecken und – vielleicht das Bohren? Vielleicht das Stechen? – sehe ich Federn aus seiner Kopfhaut brechen. Unter den Fäusten spüre ich die Wimpern flattern, höre mich nach gesundem Atem schnappen, während der Trommler im Stechtakt schlägt und seinen Gig wohl auf meinem Schädeldach probt.

Nein – nicht mein Grischa.

Der würde weit sein Gefieder spreizen, nicht mit Schnabelhieben geizen, um seine Brut bis aufs Blut zu verteidigen. Nicht wie der Specht in fremden Nestern naschen.

Hinter den Schläfen ein leises Knacken, als ob eine verwaschene Jalousie nach oben schnappe.

Ach – mein Grischa. Voll lässig sitzt du da auf der Bank unter dem wippenden Pappelzweig. Bestimmt hast du dieses strange Lächeln aufgesetzt, lässt den Mund wie eine Wiege schaukeln. Immer wieder bringst du mich damit zum Staunen. Null Ahnung, wie du das machst. Und die Girlies, die dich wie zahme Äffchen umspringen, werden an deinen blassroten Lippen festhängen, bevor sie gleich zum Schulbus rennen. Schon höre ich sie kreischen, Seifenblasenaugen schillern, gemeinsam mit der Papiertaube schwebend, die du gerade für sie gefaltet hast. So hoch sehe ich die fliegen. Bis zum Balkon – erster Stock.

Ein beharrliches Geknatter übertönt ihr Geschnatter. Der Bus! rufen sie und dampfen ab.  

Das schwarze Rechteck zwischen den Daumen sehe ich deine Handrücken zucken. Mann, Grischa, was für Finger, bestimmt tippen die wieder, fix wie ein KI Roboter. Ein leises Ringen. Seufzend greife ich nach dem Smartphone auf meinem Nachttisch.

Warum antwortest du nicht?

Schon die zwanzigste Whatsapp seit gestern.

In drei Stunden haben wir den Maklertermin. Hey, darüber müssen wir noch sprechen. Was ist nur los mit dir? Willst du nicht mehr mit mir zusammenziehen?

Ach, Grischa, überall hin würde ich mit dir ziehen. Sogar in die windschiefe Hütte am Waldrand, hinter der zornigen Dornenhecke, in der sich meine Haare verfingen, als wir dort Schutz suchten, vom Kopf bis zu den Sohlen triefend. Kannst du dich an diesen Ort noch erinnern? Und an diesen Wahnsinnswind? Fast ist mir, als habe ich von ihm träumend ein heiser flüsterndes Rauschen vernommen.

Frau Liebste hat ihre Liebe verloren. In tausend Splitter ist sie zersprungen, hat mir das Morgenvöglein gesungen.

Nein, mein Grischa, ich lieb dich doch. Wenn mich dein warmer Atem streichelt, spannen die Finger ein Berührungsnetz, aus dem ich nie herausfallen kann. Und wenn du dann gehen musst, fühlt sich mein Herz wie ein Stück kaltes Plastik an.

???? (Nr. 21)

Ach Grischa, in mir wühlen so viele Worte … Wenn ich nur wüsste, wie ich es dir sagen soll.

Über den vollen Schreibtisch gebeugt, spürte ich den Kuss auf meinem Scheitel. Hinter mir stand Mutter, schon in Hut und Mantel, mal wieder auf dem Weg zu einer Dienstreise.

„Ganz oben liegt es, im Rollcontainer.“

Ich hörte sie noch etwas von „Hektik“ brummeln, bevor sie mit klackernden Pumps zum Taxi eilte. Gefühlte Stunden wühlte ich in den Laden herum, bis ich es unter dem Schubschrank fand. Vorsichtig über die Falten streichend, legte ich das Blatt auf den Schreibtisch.

Endlich. Sie hatte die Elternbürgschaft unterzeichnet.

Yes! Grischa und ich! Wir hatten das große Los gezogen, in der Wucherlotterie des Wohnungsdschungels. Eineinhalb Zimmer mit Abendsonne, nur zwanzig Minuten Fußweg bis zur Uni. Gut, in das Halbe passt mein Schuhkarton, aber der muss schließlich auch irgendwo wohnen. Als wir auf den Mietpreis schauten, hoben wir ab, im Steilflug und nahmen auf der stabilen Wolke Platz.

Warum musste ich nur so tief fallen, auf den Boden der Tatsachen, oder präziser: auf den Teppich vor Mutters Schreibtisch?

Warum musste ich nur die Lade öffnen, in der ein weißer Hefter lag? Fast verdeckt von weißem Papier, als ob er dort ein sicheres Versteck gesucht hätte.

Nicht immer warum – ihr geplagter Ruf dröhnte in meinem Ohr – so knurrte auch der Wolf, bevor er das rote Käppchen fraß. Und Mutter wirbelte mich herum, bis mein Haar wie ein goldblonder Kreisel flog. Kämmte dann die zerzauste Mähne, die über die Schultern zum Hüftkopf floss. Vielleicht klappt sie ja tatsächlich, flüsterte sie zärtlich, über die glattglänzende Fläche streichend, diese Stroh – zu Goldproduktion. Wir sollten sofort ein Spinnrad kaufen.

Im Märchenerzählen ist Mutter ein echter Profi.

Fest drückte der Stempel sich in meine Augen, Az. 151-133 auf weißer Pappe, während ich die dünne Akte aufschlug.

Am liebsten wäre ich im Dunkel des haarigen Bauches verschwunden, als ich den harten Tatsachen folgte, auf Mutters weichen Teppich hockend.

Sie haben mich meinen Eltern weggenommen. Mit einem Jahr, sechs Monaten und drei Wochen bin ich zu einer Fremden gekommen, die sich meine Mutter nennt. Kein einziges Wort schlüpfte über die Lippen, an das ich mich hätte erinnern können, wenn ich in ihren Armen wiegend mit ihrem duftenden Nabel spielte.

Sie fanden mich in den Falten eines Lakens, das die Waschtrommel nur von außen kannte. Nackt, ohne Decke, die mich wärmte. Sie haben sie nach den Gründen gefragt. „Ach, der Stress“, fast hörte ich den O-Ton aus der Akte klingen, „Tag und Nacht, immer nur Geschrei. Nichts als plärren kann die Kleine. Das hat uns den Kopf vernebelt … komplett vergessen, nach ihr zu sehen.“ Nein, nicht allein Stress, wie ich auf Blatt II entdeckte. Auch blauer Dunst blockierte euer Hirn. Und als da etwas von Drogen stand – Absatz vier, Zeile drei – ließ ich die Akte fallen, als habe ich mir an ihr die Finger verbrannt.

Mein Blick fixiert die Bacardi-Flasche. Vor mir auf den Laminatboden. Ohne Sinn und Verstand aus der Küche geholt, bevor ich mich hier im Zimmer verkroch. Als er in der Flüssigkeit zu versinken droht, gibt mein Fuß ihr einen Schubs. Ich schaue ihr nach, bis sie ganz weit unter den Bettkasten rollt. Die leere Chipstüte im Abfall verstaut, kippe ich die XL Cola im Badwaschbecken aus. Nein, keine Zero. Die mit der vollen Dosis Zucker. Nennt man den nicht Suchtmittel I unserer Zeit?

Ein leises Ringen reißt mich aus den Gedanken.

Schluss, es reicht. Ich komme jetzt rauf. Hol dich daraus.

Meine Finger hasten über das Display.

Gib mir ein paar Minuten. Ich muss kurz ins Bad.

Hastig in Jeans und Hoodie geschlüpft, öffne ich ihm noch duschfeucht die Tür. Unsere Augen begegnen sich. Die Wange an seine Schulter geschmiegt, lasse ich mich fallen in seinen Blick. Spüre, wie Finger mit meinen Wirbeln spielen, sanft kreisend klettern, zwischen Schulterblättern und die Kapuze von meinem Kopf hinabziehen. Warmer Atem streift blanke Haut.

„Oh!“, flüstert er. Der Druck seiner Lippen elektrisiert mein Ohr. „Eine neue Seite von dir.“ Und mein Blick huscht hinüber zum Abfallkorb. Das blonde Büschel füllt ihn fast bis zur Hälfte aus. Nach dem fünften Bacardi Drink dachte ich, jetzt hilft nur noch ein harter Schnitt.

Hand in Hand hüpfen wir unzählige Stufen hinab. Ich spüre unter den Füßen Leichtigkeit, als breche ich aus der Schwere meiner Kummerkammer aus. Die klare Morgenluft schenkt uns Weite. In vollen Zügen atme ich sie ein, durchflutet vom Licht der wärmenden Sonne, die meine klammen Empfindungen trocknet. Mit der das Stück Haut auf meinem Kopf, noch völlig weiß und unberührt, noch ein wenig zu fremdeln scheint. Beruhigend streiche ich über die Fläche, als ich ein einzelnes Haar entdecke. Direkt über der Schläfe. Als habe er sich in eine Spule verwandelt, wickele ich es um meinen Finger. Spanne fest an und ziehe daran.

Keine Chance!

Völlig egal, ob Stroh oder Gold.

Seine Wurzel hält es fest.

 

V3     9606 Z.