Von Ingo Pietsch

Ein riesiger LCD-Bildschirm dominierte den Raum. Im Schein des Panels wirkte alles sehr diffus.
Bis auf ein paar Pads und Tastaturen war der Schreibtisch leer.
Vor dem Schreibtisch saß eine junge Frau in einem Gamersessel. Sie hatte die Massagefunktion aktiviert und sich zurückgelehnt. Ihre heutigen Aufgaben waren erledigt und der Bildschirm stand schon im Standby-Modus.
Jaycee blickte auf die Uhr eines Pads. Da es in ihrer Wohnung keine Fenster gab, war es immer schwer einzuschätzen, wie spät es war.
Aber sie hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, sich von digitalen Skalen leiten zu lassen.
Sie konnte sich gar nicht mehr so richtig erinnern, frische Luft geatmet zu haben, die Sonne oder den Wind auf der Haut zu spüren oder mit nackten Füßen über eine Wiese zu laufen.
Das musste jetzt schon über zehn Jahre her sein, als „Mutter“ sie entführt und ausgebildet hatte.
Inzwischen wusste sie, dass dies alles zu ihrem bestem gewesen war. Natürlich vermisste sie ihre Eltern, von denen sie sich gar nicht richtig hatte verabschieden können. Aber nachdem bekannt geworden war, welches Talent sie in Kindesjahren entwickelt hatte, war Jaycee doch froh jetzt hier zu sein. Im Hintergrund lief chillige Musik und Jaycee beschloss, die Ruhe noch etwas zu genießen, bevor sie ein paar Runden im Pool drehte und dann ins Bett ging.
Jaycee zuckte zusammen: Die Eingangstür wurde geöffnet. Das war auf keinen Fall eine der üblichen Besuche von Mutter.
Sie schnappte sich eins der Pads und ging die Kameras durch. Da stand ein junger Mann in dunklen Klamotten, Lockenschopf und Halstuch über das Gesicht gezogen.
Ein Einbrecher.
Jaycee deaktivierte die restliche Beleuchtung, denn sie kannte sich hier bestens aus. Sie band ihre Rastalocken zu einer Turmfrisur hoch und griff nach einem Trainingsstab, den sie für Übungen nutzte.
Sie musste den Typen nur lange genug hinhalten, bis Mutter kam. Denn wenn sie den unbefugten Zutritt bemerkt hatte, dann Mutter schon lange.
Sie schlich in den Flur und hörte gerade noch, wie sich die Tür wieder luftdicht verriegelte.

 

Hier bin ich richtig, dachte Miguel. Er hatte einen handlichen Rucksack auf dem Rücken und dunkle Kleidung an.
Vor seinen Einbrüchen checkte er immer den Energieverbrauch der Häuser und Wohnungen. Gerade in den reicheren Gegenden zogen Highend-Geräte und Alarmanlagen unheimlich viel Strom. Und genau dort gab es viel zu holen.
Miguel raubte auch nur Wohlhabende aus. Er nahm nur Geld, Kreditkarten und Kleinkram mit. Niemals Kunstgegenstände oder Schmuck.
Miguel wunderte sich ein wenig.
Hier am Verladehafen hätte er so etwas eigentlich eher weniger erwartet. Klar wurden am Pier schon einige Sachen von Wert verschifft, aber eingelagert ganz bestimmt nicht. Alles wurde sofort in die City weitertransportiert. Aber vielleicht, weil es nicht so auffällig war, war es die perfekte Tarnung.
Er kratzte sich am Kinn unter seinem Halstuch, dass er sich über das halbe Gesicht gezogen hatte und musterte das Gebäude auf der anderen Seite des Platzes.
Er hielt sich im Schatten eines Schiffscontainers auf und schlich dann unter einer weiteren Kamera hindurch.
Natürlich würde die eine oder andere etwas aufzeichnen, aber bis der Sicherheitsdienst hier am Ende des Piers angekommen war, würde er schon über alle Berge sein.
Das Lagerhaus verfügte über drei Etagen und davor standen ein paar Paletten und ein Gabelstapler.
Der Platz war recht gut ausgeleuchtet und so beschloss Miguel ganz normal zur Tür zu gehen, so als wäre er hier zuhause.
Sämtliche Fenster waren mit Metallplatten versiegelt und Miguel fragte sich, was hier wohl aufbewahrt wurde.
An der Tür aktivierte er einen Störsender. Jetzt hatte er wahrscheinlich zehn bis fünfzehn Minuten, bis jemand spitz bekam, was hier abging. – Wenn jemand das Objekt überwachte.
Vielleicht waren es auch Attrappen.
Das Schloss war schnell geknackt. Das Erdgeschoss dunkel und leer.
Miguel setzte ein Nachtsichtgerät ein und entdeckte nur ein paar Kisten.
Dann ging er in das erste Geschoss. Es gab hier nur eine einzige Tür, die mit einem Chip-Schloss versehen war.
Kein Problem für Miguel. Innerhalb weniger Sekunden war die Sache erledigt und die Tür ging leise schmatzend auf.
Er schlüpfte in den Flur und fand sich in einem weißen, sterilen Apartment wider, das völlig im Dunkeln lag.
Miguel drückte die Tür wieder zu und ging zu einem der Zimmer, die vom Flur abzweigten.
Und mit einem Mal war er blind.

 

Jaycee hatte den Restlichtverstärker auch in der Dunkelheit erkannt. Sie war auf alle möglichen Eventualitäten, wie diese hier, trainiert worden. Auch wenn sie nie auf Außeneinsätze ging, trieb sie viel Sport und ernährte sich entsprechend.
Sie folgte dem Einbrecher in den Übungsraum, schaltete das Licht ein und trat dem Typen in den Rücken, dass er gegen eine Hantelbank prallte. Sie hätte ihn auch sofort ausschalten können, aber da er es trotz aller Sicherheitsvorkehrungen so weit geschafft hatte, faszinierte Jaycee.
Sofort setzte sie mit ihrem Stab nach, erwischte aber nur den Metallrahmen, da der Unbekannte, sich zur Seite gerollt und sein Gerät vom Gesicht gezogen hatte.
Er rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf.
Schnell, aber vorsichtig bewegte er sich im Raum umher, da er erst die Orientierung wiedererlangen musste.
„Oh, verdammt. Das war echt unfair“, sagte Miguel und tastete sich um einen Barren herum. Langsam konnte er wieder Umrisse und Farben erkennen. Von Sekunde zu Sekunde wurde es besser.
Jaycee schlich sich an ihn heran. Die Kapuze seines Hoodies war verrutscht und sie konnte jetzt seine strahlend blauen Augen unter dem Lockenkopf erkennen. Jaycee schlug wieder nach ihm und er duckte sich. Sie verlor ihren Vorteil, dass er nichts sehen konnte: „Wer ist denn bei wem eingebrochen?“, fragte sie herausfordernd.
„Ok, vielleicht habe ich mich in der Haustür geirrt, Lady.“ Miguel hatte einen Bambusstab entdeckt und hielt ihn Jaycee entgegen. Jetzt konnte er sie klar erkennen: Sie trug einen Bodysuit und ihre Haare waren zu einer Turmfrisur hochgesteckt.
Einige der Rastazöpfe hingen heraus und schienen sich wie Schlangen zu bewegen. Aber wahrscheinlich bildete sich das Miguel aufgrund seiner Blendung nur ein.
Sie hatte kaffeebraune Haut und einen durchtrainierten Körper. Barfuß war sie mit Leichtigkeit auf den Barren gesprungen, um ihm jetzt zuzusetzen.
Miguel hob seinen Bambusstab und fing den Sprung und die Wucht damit ab.
„Nicht so hastig, junge Frau. Ich will dir nichts Böses.“ Er hielt den Stab waagerecht vor sich und sie schlug leicht mit ihrem Stock auf seine Finger, sodass er loslassen musste.
„Und was willst du dann?“, fragte Jaycee.
„Ich denke, nur wieder raus hier.“ Der Stab war auf seinem Fuß gelandet, er warf ihn damit hoch und wieder in seine Hände. Dann holte er aus und fegte ihre Beine vom Boden. Doch ehe er fliehen konnte, tat sie das gleiche mit ihm. Sie sprang hoch, landete rücklings auf ihm und drückte sanft, aber bestimmt ihren Stab an seinen Hals, dass er sich nicht herauswinden konnte.
Sein Tuch war verrutscht und Jaycee sah ein sympathisch lächelndes Gesicht, das auch gleichzeitig beleidigt war.
„Ich denke, wir haben hier ein Unentschieden“, presste er zwischen den Zähnen hindurch.
Ihre Schenkel drückten seine Beine zusammen und sie verstärkte den Druck auf seinen Hals.
„Und ich denke, dass du in ganz großen Schwierigkeiten steckst. Mutter wird das gar nicht gefallen oder ist das hier nur ein Test?“, sie blickte auf die Kameras in den Ecken des Raumes.
„Wer ist Mutter?“, wollte Miguel wissen.
Jaycee überlegte, ob sie ihm vertrauen konnte und tat es: „Die Organisation, für die ich arbeite. Ich bin eine Hackerin.“
„Ich bin auch ein Hacker. Sonst wär ich hier ja wohl kaum hereingekommen. Aber ich bin kein böser Typ, ich teile meine Beute mit den Armen.“
„Oh, ein krimineller Wohltäter, wo gibt es denn so was?“ Sein Pfefferminzatem erinnerte sie plötzlich an ihren Vater und sie konnte nicht anders, als ihm zu glauben. Sie ließ von ihm ab und stand auf.
Er stand ebenfalls auf und wollte ihre Schulter berühren.
Da löste sie den Haarknoten, die bodenlangen Zöpfe packten seine Arme und zogen ihn ganz
dicht an sie heran, dass sich ihre Nasenspitzen berührten.
Seine und ihre Augen wanderten hin und her und die Luft zwischen ihnen schien zu knistern. Dann ließ sie ihn los.
Er plumpste zu Boden.
„Was ist das denn? Bist du eine Medusa?“
Eine einzelne Haarsträhne wirbelte in der Luft herum. „Lange Geschichte und einer der Gründe, warum ich hier eingesperrt bin“, sagte sie stolz und traurig zugleich. „Ich kann jede Haarspitze individuell lenken, das ist beim Hacken ein großer Vorteil.“
„Wann warst du das letzte Mal draußen? Ich nehme dich mit. Komm.“ Er hielt ihr seine Hand hin, als könne er ihre Gedanken lesen.
Jaycee wandte sich ab. „Ich weiß, dass meine Familie nicht mehr lebt und habe im Internet genug gesehen, dass ich hier nicht mehr raus möchte. Es geht mir gut.“ Was nicht sonderlich  überzeugend klang.
„Das glaube ich dir nicht.“ Miguel blickte auf seine Uhr. „Ich muss wieder los. Bestimmt hat jemand das hier mitbekommen.“
Jaycee hatte wieder ihren Stab in den Händen. „Ich kann dich nicht gehen lassen. Außerdem kann man die Tür nur von außen öffnen.“
„Ich weiß“, Miguel hielt eine Fernbedienung in der einen und seinen Stock in der anderen Hand.
„Dann wollen wir denen mal eine Show abliefern.“ Es gab ein wildes Geknüppel, dass die beiden immer weiter zum Ausgang führte.
Als beide ihre Stäbe aneinanderdrückten, gab Miguel Jaycee einen Kuss. Sie ließ es geschehen und sie fiel nach hinten.
Er tippte sich lächelnd beim Fliehen an die Stirn: „Miguel. Wir sehen uns wieder!“ Damit verschwand er aus ihrem Sichtfeld.
„Jaycee. Ich hasse dich, Miguel!“, schrie sie ihm nach.
„Ich weiß, Jaycee, das habe ich beim Kuss gespürt“, war das letzte, was sie von ihm hörte.
Sie fuhr sich mit den Fingern über die Lippen und hoffte, dass er wiederkommen würde.

 

V3