Von Simone Tröger

 

„Rahel! Schatz! Hallo! Rapunzel! Du musst doch mit mir reden. Ich bin deine Mutter! Weißt du…  deiner Tochter Amelie geht es gut, aber sie vermisst ihre Mama. Dein Mann Lars vermisst dich auch. Er kümmert sich rührend um die Kleine, aber die Mami kann er nicht ersetzen.

Bitte! Sag was! Wach doch auf!“

Laut ruft jemand meinen Namen, ich gehe in Richtung der Stimme. Sie kommt von einer Frau, die eine Leiter an die Mauer eines hohen viereckigen Turmes legt. Sie befiehlt mir, hinaufzusteigen. Es macht mir Mühe, die vielen Sprossen zu erklimmen. Im Inneren des Turmes höre ich metallische Stimmen, die um die Wette klingen und um Aufmerksamkeit betteln. Jede der Stimmen tönt in einem anderen Rhythmus.

„Frau Lehner, Sie können jetzt nicht mit hinein. Sie wird täglich untersucht. Die Lyse hat das Blutgerinnsel vollständig aufgelöst. Wir müssen nun abwarten. Ihrem Schwiegersohn haben wir das gestern schon erläutert. Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um Ihre Tochter wieder auf die Beine zu bringen. Sie ist eine Kämpferin. Das städtische Klinikum hier ist sehr modern ausgestattet. Die aussagekräftigsten Instrumente und Apparate kommen zum Einsatz. Sie erhält die beste Pflege, die beste Therapie, die man haben kann. Unser gesamtes Team steht Ihrer Familie mit vollem Einsatz zur Seite.“             

„Kann sie mich hören?“

„Es gibt Leute im Koma, die recht viel mitbekommen; andere nicht. Ich kann es Ihnen also nicht beantworten. Reden Sie mit ihr, lesen Sie ihr vor, singen Sie! Lassen Sie Musik abspielen, die sie mag! Pinnen Sie Fotos an die Tafel an der Wand neben ihrem Bett!“

„Aber die Fotos kann sie doch nicht sehen!“

„Da wir nicht wissen, was sie hören kann, wissen wir auch nicht, was sie sieht, wenn sie die Augen dauerhaft öffnet. Wir können auch nicht sagen, ob sie ihren Kopf in die richtige Richtung drehen kann. Unversucht lassen sollten Sie es dennoch nicht.“

Stimmen, immer mehr Stimmen dringen an mein Ohr. Da sie weit weg sind, kann ich nicht erkennen, woher sie kommen.

„Wir lassen den Fernseher angeschaltet! Das Programm ist egal. Hauptsache, man hört Kommunikation.“

Vom Turmfenster aus, sehe ich die Sonne, setze mich auf die Mauer und singe. Langsam stecke ich meinen Kopf durch das Loch in der Mauer, um mehr sehen zu können. Unten erblicke ich viereinhalb Personen.

 

 

 

„Schauen Sie bitte, Herr Doktor! Das EEG ist unauffällig. Das MRT zeigt keinen Unterschied zum gestrigen MRT. Hier – die Bilder zum Vergleich…“

 

Cindy, Witta, Rosi, Lars? Ich ziehe Euch nacheinander an meinen langen Haaren hoch. Amelie, du bist auch dabei! Singt mit mir! Hört Ihr die Melodie? Dann springt wieder aus dem Turm. An einem anderen Tag ziehe ich Euch wieder hoch.

„Schwester, fahren Sie sie bitte wieder auf die Intensivstation in ihr Zimmer!“

Eine Frau im blauen Mantel hat mir die Haare hochgesteckt, denn ich bin im Schloss eingeladen beim Königssohn. Dem Jüngling werde ich gefallen.

„Bis bald, Kind!  

Cinderella, Schneewittchen und Dornröschen kommen dich morgen besuchen. Lars kann nicht, er hat eine Bindehautentzündung. Übrigens – dein Kurzhaarschnitt sieht gut aus!“

Die Frau, die mich laut mit Namen gerufen hat, geht mit wehendem Mantel weg. Sie sagt, Lars wurden die Augen ausgestochen. Das sieht nicht schön aus, er will nicht, dass ich ihn so sehe.

„Rapunzel, deine Hand ist kalt, obwohl es fast 30 Grad sind. Du verpasst einen sehr heißen Monat.  

Lars ist für Amelie ein wunderbarer Vater. Wenn dein Papa noch leben würde, er würde dir sagen, dass du die Augen aufmachen, deine Familie und deine Freunde sehen und mit ihnen reden sollst.    

Wir vermissen dich bei unseren Mädels-Abenden. Letztens haben wir eine Autotour gemacht und sind in einer öden Gegend gelandet. Dabei wollten wir es doch eigentlich krachen lassen. Sind wir halt in die Dorfdisco gegangen. War nett. Mehr nicht. Unsere Männer waren selbstverständlich nicht dabei. Die wollen demnächst nach Norwegen zum Fischen. Hoffentlich bringen die was Schmackhaftes mit!  

„Lach mal…!“  

Zu gern würden wir wissen, wie es in dir drin aussieht…“

Meine Beine tragen mich in die Wüste. Dort sind Lars und Amelie. Wir alle heiraten. Es regnet Fische, und der zweite Tanz gehört meinem Vater.

„Hallo, Frau Buschhorn! Hier sind Ihre Arbeitskollegen!     

(Frau Meier – was sagt man da so, wenn man dahinredet und niemand antwortet?!…)  

Es war ein großer Schock, als uns Ihr Mann von Ihrem Klinik-Aufenthalt unterrichtete. So viel Arbeit hatte ich für Sie an diesem Tag. Das meiste ist liegen geblieben. Sie müssen unbedingt bald wieder kommen!“

 

Mein Chef möchte nicht, dass ich zur Arbeit erscheine. Lars hat meinen Job. Er weiß nicht, was er mit all den Papieren machen soll. Darum hat er sie geschreddert.  

Frau Meier kann nicht mehr sprechen. Der Chef redet viel.

 

 

„Hi Rahel – deine Freunde aus der Sportgruppe sind bei dir.  

Du fehlst beim Volleyball. Wir verlieren gegen die anderen immer. Außerdem gewinnst du auch laufend bei den Klimmzügen und beim Klettern auf Zeit. Wir können ohne dich nicht mehr punkten.

Meine Füße stehen auf einer Leiter. Den hohen Turm habe ich schon einmal gesehen. Es fällt mir leicht, nach oben zu klettern. Lars wirft mir Bälle zu, ich werfe zurück. Amelie und ihr Zwillingsbruder fangen sie wieder auf.

„Hallo, mein Rapunzel! Hier ist dein Mann. Siehst du mich? Blinzele bitte einmal für „ja“ und zwei Mal für „nein“. Wenn du jetzt zwei Mal blinzelst, bin ich auch zufrieden!  

Willst du nicht?   

Amelie ist heute zum Kindergeburtstag bei ihrer Freundin. Wir haben ein Malbuch mit Stiften als Geschenk gekauft. Dir wäre sicher etwas Kreativeres eingefallen. Merkst du, wie du uns fehlst? Nicht nur, wegen der Geburtstagsgeschenke.   

Schatz, ich liebe dich!   

Du weinst, du weinst! Das ist so toll – du kannst weinen! 

Schwester, Schwester. Wo ist die Klingel? 

Schwester, Schwester. Sie weint. Ist das nicht großartig? Sie weint! Sie kann mich hören! Sie hört mich! Sie kann weinen.   

Schatz, Rapunzel! 

Mein Liebling ist wieder da!“

 

 Lars tanzt ausgelassen zum Kindergeburtstag. Amelie malt mit ihren Freundinnen. Lars´ Augen sind nicht ausgestochen. Lars kann sehen. Er hat uns alle im Blick.   

Auch die Frau im weißen Mantel. Jeder hat jetzt einen weißen Mantel an.

„Tatsächlich, sie blinzelt. Frau Buschhorn zeigt Reaktion! 

Das kann ein Reflex sein. Das kann bedeuten, sie erwacht. Ich werde das sofort prüfen. Ein Erwachen kann Wochen, sogar Monate dauern. Das geschieht nicht plötzlich, sondern allmählich. Machen Sie alle Maßnahmen, wie bisher. Für morgen veranlasse ich erneut ein MRT. Dann sehen wir weiter.“

Der Mann im weißen Mantel zieht meine Augen weit auseinander. Er will sie ausstechen.

„Rapunzel, hast du gehört?! Das war bestimmt kein Reflex. Tue es noch einmal!“

Lars möchte, dass ich mit den Augen blinzele. Er weiß nicht, dass ich keine Augen habe, also tue ich es.

 

„Meine Rapunzel, ich wusste, dass du wieder zu uns zurückkommst!                                      Du hast viel verpasst. Ich erzähle dir alles!“

 

 

 

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