Von Claudia Grothus
Zwischen zwei Gedanken verwandelt sich der Asphalt in Erde und die Vegetation rückt näher. Till kann nicht sagen, wann genau die Straße verschwindet und in kaum mehr als eine festgefahrene Spur übergeht.
Vorsichtig steuert er das kleine Pflegedienstauto über den holprigen Weg. Ist er hier überhaupt richtig? Das Navi sagt ja.
Ein schwüler Tag. Feuchtigkeit steigt aus dem Boden und bleibt dunstig zwischen den hohen Sträuchern rechts und links des Weges hängen.
Dies ist sein erster Besuch bei Rudi Müller, der ursprünglich zu Doros Tour gehörte. Aber Doro hat letzte Woche gekündigt.
Rudi scheint, laut Patientenakte, trotz seiner 78 Jahre fit zu sein. Er benötigt nur wenig: einen Einkaufsdienst, Blutdruckkontrolle, Medikamente und Hilfe bei ein paar Verrichtungen, die er im Haushalt nicht mehr schafft. Er ist Tills letzter Klient für heute.
Schemenhaft schält sich am Ende des Weges ein kleiner Hof mit baufälligen Nebengebäuden aus dem Dunst. Der Garten ist verwildert. Große, grellpinke Blüten von wilder Malve leuchten aus verfilztem Gras. Im Baumschatten blüht Fingerhut vor riesigen Farnen.
Till parkt vor dem Haus, steigt aus und trägt eine Klappbox mit Einkäufen zur Tür. Er klingelt. Nichts rührt sich.
„Herr Müller? Hallo?“
Stille.
Die abgegriffene Klinke sitzt nur locker im Schlosskasten. Es ist nicht abgeschlossen. Drinnen eine kleine Küche, Schlafzimmer, Bad, ein gemütliches Wohnzimmer. Auf dem Kaminsims liegt ein Bilderrahmen mit dem Gesicht nach unten. Vor einem Sessel steht ein Tischchen mit einem Schachbrett und aufgestellten Figuren. Alles recht ordentlich, wenn auch in die Jahre gekommen. Nirgends eine Menschenseele.
Till stellt die Einkäufe in der Küche ab und kehrt zurück auf den Hof.
„Hallo? Herr Müller?“
Durch ein angelehntes Tor betritt er eine Scheune aus roh zusammengezimmerten Holzbohlen, die sich in der Hitze und dem Frost vieler Jahre gekrümmt haben. Durch die Ritzen zwischen dem Holz finden Sonnenstrahlen in den düsteren Raum. Millionen Staubteilchen schweben darin.
Hinter einer Schicht von Spinnweben lehnen Gartengeräte an der Wand. In einer Ecke steht ein verrosteter Aufsitzrasenmäher. Etwas bewegt sich dahinter. Beklommen beugt Till sich ein Stückchen vor. Aus dem dunklen Winkel starren ihn zwei aufgerissene Augen an. Fast hätte er aufgeschrien, aber der Mensch, der dort hockt, klopft panisch mit dem Zeigefinger auf seine Lippen. Unwillkürlich schaut Till sich in der Scheune um.
Der alte Mann winkt ihn hastig zu sich. Till folgt der Geste und quetscht sich neben ihn auf den staubigen Boden. Eine runzlige, aber kräftige Hand legt sich auf sein Knie, die andere hat der Alte, Stille gebietend, in die Luft erhoben.
Till versucht, seinen heftigen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Was ist hier los?
Nach einer gefühlten Ewigkeit schaut der Mann neben ihm auf seine Armbanduhr. „Okay, vorbei!“ Er tätschelt Tills Knie. „Hilf mir mal hoch, Junge, wenn du schon da bist.“
Irritiert windet sich Till aus dem engen Versteck und greift dem Alten unter die Arme. Vorsichtig hievt er den ächzenden Greis in die Senkrechte.
Der klopft sich halbherzig Staub von der Hose und streckt ihm dann die Rechte entgegen. „Rudi.“
Till nimmt den Gruß an – der Händedruck ist überraschend fest und angenehm. „Till. Ich bin die Vertretung für Doro.“
„Dachte ich mir.“ Rudi legt ihm beiläufig die andere Hand auf die Schulter und führt ihn aus der Scheune. „Wir können jetzt wieder rein gehen. Nach einer Stunde ist die Gefahr vorbei.“
Schon die ganze Zeit hat Till den Verdacht, dass Rudi dement ist und an einer Wahnsymptomatik leidet. In solchen Fällen ist es das Beste, nicht zu widersprechen. Validation heißt die Methode.
„Welche Gefahr?“
„Dass sie mich findet.“
„Wer?“
„Meine Frau. Sie kommt jeden Tag, um mit mir verstecken zu spielen! Wenn ich gewinne, dann bleibt sie weg.“
Ein eisiges Kribbeln läuft Till über den Rücken. Er weiß aus der Akte, dass Rudi Witwer ist. Manchmal sind die Phantasien von Dementen gruselig.
Inzwischen haben sie das Haus erreicht. Er folgt seinem Patienten ins Wohnzimmer. Rudi geht als Erstes zum Kaminsims und stellt das Bild wieder auf. Zu sehen ist ein leicht unscharfes, schwarzweißes Hochzeitsfoto mit einem Trauerflor an einer Ecke.
Während Till dem Alten die Blutdruckmanschette anlegt, plaudern sie. Über Doro, den heißen Tag und was Rudi gerne eingekauft haben möchte. Er wirkt genauso normal wie sein Blutdruck und scheint vollkommen orientiert zu sein.
Till lässt sich Zeit. Dieser Patient ist interessant und sympathisch. Er will mehr über ihn erfahren.
Gemeinsam räumen sie die Einkäufe ein, Till kontrolliert die Tablettenbox und füllt den Blutdrucksenker nach.
„Spielst du vielleicht Schach?“, fragt Rudi.
Das Angebot ist verlockend. Eigentlich hat Till schon längst Feierabend. Aber egal. Nur für heute. Schließlich ist Rudi ein neuer Patient.
Es wird eine spannende Partie. Rudi spielt klug und routiniert. Die wenigen Worte, die sie wechseln, sind schnell freundschaftlich und von gegenseitiger Anerkennung geprägt. Was für ein netter Kerl!
Als Till sich verabschiedet, ruft Rudi ihm nach: „Und denk dran: Wenn ich nicht da bin, dann suche mich nicht. Mach‘s dir einfach gemütlich, nach spätestens einer Stunde bin ich zurück.“
Tragisch, denkt Till auf der späten Heimfahrt. Scheint ein Frühstadium von Alzheimer oder vaskulärer Demenz zu sein.
Vermutlich würde er Zeuge werden, wie ein cooler alter Mann sich mit der Zeit in einer fremden Realität verirrt.
Till legt die Besuche bei Rudi ans Ende seiner Tour. Schon wegen des Versteckspiels braucht dieser Patient mehr Zeit. An die zusätzlichen Überstunden versucht er nicht zu denken.
Und er genießt die Ruhe und Stille, wenn er darauf wartet, dass der Alte aus einem seiner Verstecke auftaucht und das Hochzeitsbild wieder aufstellt.
„Warum tust du das?“, fragt er ihn eines Tages. Rudi zögert und flüstert dann: „So sieht sie nicht, wo ich hingehe. Wenn ich gewinne, bleibt sie weg.“ Till fröstelt – wie jedes Mal, wenn Rudi von seiner Frau spricht. Er will die Ängste seines Patienten nicht vertiefen, aber um ihn zu verstehen, fragt er vorsichtig: „Was würde denn passieren, wenn du das Versteckspiel verlierst?“
Rudi verharrt mit den Händen auf dem Kaminsims.
„Dann würde sie mich zu sich in den Tod holen.“
Für einen Augenblick scheint Tills Herz stehenzubleiben. Mit einem tiefen Durchatmen versucht er, sich dem Grauen in Rudis Worten zu entziehen.
Einfach zu sagen, ‚Aber sie ist doch tot, da kommt niemand, um dich zu holen‘ – das würde gar nichts bringen. Womöglich würde es Rudis Angst verstärken oder ihn kränken. Till bekommt sich wieder in den Griff und reagiert professionell:
„Du machst dir Sorgen, dass sie dich holen will. Das muss ein unheimliches Gefühl sein.“ Wobei sich das unheimliche Gefühl mit Macht in ihm selbst ausbreitet.
„Ich schaff‘ das schon, Junge“, sagt Rudi und klopft ihm väterlich auf die Schulter. „Komm, wir setzen uns nach draußen. Die Sonne wird uns guttun.“
Rudi geht sehr tapfer mit seinen Phantasien um. Trotzdem macht Till sich Sorgen. Mit der Zeit wird deutlich, dass Rudis Kräfte nachlassen. Manchmal kehrt er erschöpft, verschwitzt oder voller Spinnweben aus einem seiner Verstecke zurück. Die Konsequenzen schiebt Till immer weiter hinaus.
Der Sommer vergeht, es wird Herbst und über Rudis Haus flirren goldene und weinrote Blätter. Till trägt Holz herein und schürt den Kamin. Ab und zu gönnt er sich eine gemütliche Partie Schach mit dem Alten.
Im November kriechen Kälte und Nässe durch die kahlen Zweige der Sträucher. Nach wie vor spielt Rudi mit seiner toten Frau Verstecken und so langsam wird das lebensgefährlich. Einmal kommt der Alte durchnässt und eiskalt von draußen herein. Er wird sich eine Lungenentzündung holen, wenn das so weitergeht.
Es bricht Till das Herz, aber es gehört zu seinen Aufgaben, zu erkennen, wann ein Patient nicht mehr allein zurechtkommt. Und das hat er viel zu lange schleifen lassen.
„Rudi, meinst du nicht, dass du das Versteckspiel ein für alle Mal gewinnst, wenn du ganz woanders hinziehst – zum Beispiel in ein betreutes Wohnen?“
Zu Tills Verwunderung bleibt der Alte gelassen auf seinem Sessel sitzen. Nur seine Hände streichen nachdenklich auf den Lehnen hin und her.
„Es geht nicht, Till, mein Junge, glaub mir. Ich muss das hier durchziehen bis zum Schluss. Bis sie eines Tages gewinnt.“
Till kommen fast die Tränen.
„Du bist mir eine große Hilfe“, erklärt Rudi mit ruhiger Stimme. „Das ist schön und ich bitte dich – ich bitte dich wirklich sehr – es dabei zu belassen.“
Und wieder gibt Till ihm noch ein wenig Zeit.
An einem Tag Ende November setzen Frost und heftiger Schneefall ein. Höchst beunruhigt fährt Till über den verschneiten Feldweg. Das winzige Auto bleibt auf halber Strecke stecken. Die Räder drehen durch.
Fluchend steigt Till aus, schnürt seine Kapuze fest zu und stapft durch die wirbelnden Flocken zum Haus.
Der Alte ist weg. Irgendwo allein in Schnee und Kälte. Das Foto auf dem Kaminsims liegt auf dem Gesicht: Ein sicheres Zeichen dafür, dass ein Versteckspiel im Gange ist. Wütend richtet Till das Bild auf. Validation hin oder her – das geht zu weit. Er muss ihn suchen.
„Rudi“, brüllt er über den Hof. Schon setzt die frühe Dämmerung ein. Er muss den Alten finden, bevor er erfriert. „Rudi!“
Er sucht, bis es stockdunkel ist. Frierend, atemlos und verzweifelt kehrt er zum Haus zurück. Die Tür steht weit offen. Zentimeterdicker Schnee ist ins Innere auf den Teppich geweht, der Kamin im Wohnzimmer erloschen.
Und da liegt er.
Über ihn gebeugt eine dunkle Gestalt. Sie richtet sich auf, wie ein Grauen, das unerträglich langsam aus einem Alptraum aufsteigt. Ein höhnisches Grinsen verzerrt ihr Gesicht. Und dann, als hätte ein unsichtbarer Sog sie erfasst und ins Nichts gerissen, ist sie verschwunden. Nur ihre krächzende Stimme klingt noch im Raum:
„Jetzt bist du dran! Eins … zwei … drei …“
Mit einer einzigen Bewegung schleudert Till das Foto vom Kaminsims und rennt.
Hinaus, durch den Schnee in die Nacht.
9.978, V1