Von Volkmar Klundt
Auf halber Treppe zerbrach ihre Selbstbeherrschung wie dünnes Porzellan.
Zum Ärger der Passanten begann Vali unvermittelt zu schieben. „Pass doch auf! He! Hallo! Geht’s noch?“ Ein Ellenbogen traf sie in die Seite, eine Schulter ihren Kopf. Sie richtete die Basecap, quetschte, drängelte und rempelte weiter abwärts. Nur weg! Schnell! Sie schwitzte. Auf der untersten Stufe trat sie ins Leere, stolperte und schürfte sich das Knie auf. Kauerte einen Moment japsend zwischen fremden Beinen, bemerkte, dass die Lichter der U-Bahn bereits die Tunnelwände entlang krochen, schnellte hoch. Sie erwischte einen Einzelplatz, drehte den Blick zum Fenster, starrte auf den Bahnsteig gegenüber. Dorthin, wo Bolko in diesem Moment ins Handy sprach und es dann vom Ohr nahm. Er überragte die Wartenden. Sein kahler Schädel wanderte suchend umher wie das Periskop eines U-Boots. Oh ja, sie kannte Bolko. Besser als sie es wollte. Und Ilex. Fast erwartete sie, ihn statt Bolko hier zu sehen. Vali verbarg ihr Gesicht hinter der Hand. Dann endlich zischten die Türen, die Elektromotoren summten und die Bahn beschleunigte, schrumpfte den Bahnsteig zu einem kleinen hellen Klumpen, der sich im Dunkel auflöste.
Sie zitterte. Ihr war kalt. Sie schluchzte, biss sich in den Daumen, schluckte die Tränen, atmete tief in den Bauch. Nicht ausrasten.
…
Ilex beendete den Anruf und steckte das Handy in die Innentasche seines dunklen Zweireihers.
„War Bolko…“
Diona hatte das Gespräch verfolgt. Wie eine Brise für einen Moment die Wasseroberfläche kräuselte, glitt ein Schatten über ihr Gesicht und sie fegte mit einer heftigen Handbewegung den Feldsalat mit den karamellisierten Nüssen vom Tisch.
„Entkommen?“
Ihre Stimme klang unerwartet schrill. Dunkelrot geschminkte Lippen verzogen sich verächtlich und zeigten eine Reihe kleiner, spitzer, scharfer Zähne.
„Diese undankbare Schlampe. Ich brachte sie her, sie, ihre Sippschaft, gab ihnen einen Job, eine Wohnung…“
Ihre Finger zählten Ilex die Investitionen auf.
„Ich bin leid, unverzeihlich, besser nicht geschickt Bolko. Ilex selbst…“
Diona unterbrach ihn. Ihre Hand wischte mit einer kurzen Bewegung alles beiseite.
„Ich kann das jetzt nicht gebrauchen.“
In der alten Heimat zog es die Leute auf die Straße. Andere flohen vor den Unruhen, brauchten eine Passage, Unterkunft, Jobs. Es würde eine Zeit dauern, bis alles wieder zur Ruhe kam.
„Ich weiß, du findest sie, Ilex. Wir werden noch viel Freude an der Kleinen haben, ja?“
Wie Wind ins Kornfeld schießt, die reifen Ähren aneinander reibt und die Körner in ihren Hülsen schüttelt, raschelte ihr graues Seidenkleid, flüsterte von Lieferketten, goldgründigen Bedingungen und Expansion. Sie drehte sich zum Fenster. An ihrem Saum klebte ein kleines grünes Blatt Feldsalat.
…
Die U-Bahn glitt ins Tageslicht und Vali schaute backstage auf das dünne Gerippe der Stadt, auf das Fassaden gespannt waren, wie man in der alten Heimat Pergament auf Lampen zog. Über rostige Autowracks, Graffiti-Mauern, zwielichtige Betriebe und verwaiste Hinterhöfe hinweg, sah sie, inmitten der Gebäude, Dionas Turm, umgeben von kleineren Hochbauten, wie eine Glucke umringt von ihren Küken. Der Schatten einer Wolke kroch heran, verdunkelte die Glasfassade, die einen Augenblick später erneut sonnenhell aufleuchtete, so dass Vali einen Moment geblendet zwinkerte. Sie überquerten eine Kreuzung. Unter der Brücke zeigte die Ampel Rot. Ein LKW hatte den Blinker gesetzt. „Muscipula Logistics“, und darunter etwas kleiner: „Wir sind an Ihrer Seite“.
Der nächste Halt kündigte sich an. Eine junge Frau im roten Mantel schob, Handy am Ohr, Henkeltasche über dem Arm, ihren Kinderwagen, aus dem eine dünne Stimme unablässig greinte, den Gang entlang in Richtung Tür. Die U-Bahn bremste. Der Umkehrschub brachte die Frau ins Schlingern.
Sie beendete hastig das Gespräch, legte rasch das Telefon in die Tasche, beugte sich vor und sprach beruhigend in die Kissentiefe. Die Bahn hielt, der Mantel schob zum Ausgang, Vali schnappte sich das Handy, die Türen zischten, Elektromotoren sangen, der Zug beschleunigte.
Sie wählte die bekannte Nummer.
„Locusta?“
„Papa, es geht mir gut.“
Dann beendete sie das Telefonat und schob das Handy in eine Spalte neben dem Sitz.
…
Chris zappelte in Bolkos Griff wie ein Kaninchen. Er hatte sich eingenässt und wimmerte unter dem schwarzen Sack, den man ihm über den Kopf gezogen hatte. Die schwere Stahltür schlug hinter ihnen zu.
Diona schüttelte den Kopf. Wirbellos. Ohne jede Würde. Einein Wurm. Die Kamera lieferte ihr ein gestochen scharfes Bild. Zeigte das Muster, das die Schalbretter an den Wänden hinterlassen hatten, hob Rost hervor, dort wo er an den Rohren aufblühte oder in rötlichen Streifen die Mauer herunter lief. Übertrug sogar, wenn man ein wenig heranzoomte, detailgetreu und messerscharf den Schatten der Mörtelreste auf dem nackten Betonboden, die unter den Tritten der schweren Schuhe so herrlich knirschten, wenn sie dem Druck nachgaben und durch das grobstollige Profil zerrieben wurden. Sie zeigte den abgewetzten Resopaltisch, auf dem die Instrumente bereit lagen und unheilvoll glänzten, ebenso wie die Blessuren in Chris Gesicht, das Erbrochene auf seiner Hose und den schlichten, stabilen Küchenstuhl, der in seiner Banalität dem Grauen eine brillante Note verlieh. Am Ende landeten sie alle hier. Alle, die sich ihr widersetzten.
Ilex stellte einen frischen Salat auf den Tisch. Perfekt.
Unten im Keller drückte Bolko Chris hinunter auf den Stuhl und wickelte Klebeband um seine Arme und Fußgelenke.
„Bitte.“
„Halt still.“
Dieser dünne Jammerton! Erbärmlich. Niemals leistete jemand ernsthaft Widerstand. Diona biss sich auf die Unterlippe, fühlte, wie ihr Herz schneller schlug und sie eine Spur tiefer atmete. Hoffnung, ein so zartes, durchsichtiges Wesen. Ein Luftgeist, eine Sylphe, feenhaft schimmernd. Weißes Kleidchen, elfenhafte Figur, kleine Flatterflügel. Niedlich. Zauberstab mit blinkendem Sternchen dran. Sobald aber der Aufzug langsam immer tiefer hinunter in den Keller sank und sie sich unter der Kapuze ihr Schicksal ausmalten, war es verschwunden, das Feenwesen. Pfft. Weg. Verpisst.
Jetzt zog Bolko dem Wurm den Sack vom Kopf. Chris blinzelte in die Neonröhre. Sein Blick schoss rastlos im Raum umher. Er schwitzte. Schnaufte gehetzt. Schnodder lief ihm aus der Nase.
„Bitte, ich hab doch alles so gemacht, wie ihr wolltet.“
Bolko hielt ihm ein Smartphone vors Gesicht. Valis I-Phone. Chris erkannte es am Keepsmiling-Motiv der Handyhülle. Banksy. Das Schattenmädchen, das inmitten des Durcheinanders aus Farbe, Schrift und Sprayerdose einen roten, herzförmigen Ballon fliegen lässt.
„Sag mir ihre PIN. Eine Ratte wie du weiß sowas.“
…
„Na also.“ Diona schaltete befriedigt die Kamera ab. Sie schob sich einen Bissen in den Mund.
„Honig-Senf. Ilex, Du hast wirklich, wirklich Gespür.“
Ilex verbeugte sich. Diona lächelte.
„Wir sollten jetzt aber mal dringend die Locustas besuchen.“
…
Jenseits der Endhaltestelle lag das Kleingartengebiet mit seinem Labyrinth aus Haupt- und Nebenwegen, Abzweigungen, abgeernteten kahlästigen Sträuchern, Büschen, auf denen vergessen letzte Blätter im Wind zitterten, dickbauchigen Regentonnen und angehäufelten Pflanzen. Die Sonne war verschwunden, die Dämmerung setzte ein. Ein kühler Windstoß ließ Vali frösteln. Nirgendwo Licht. Die Lauben verlassen, alles dunkel. Aus keinem der kleinen Schornsteine drang Rauch.
Sie sah sich um, stieg über den erstbesten Zaun und ruckelte erfolglos an der Laubentür. Sie blies in die Hände, schlang die Arme um sich, schob die Schultern vor, zog das Kinn nach unten und folgte frierend dem Plattenweg, der im Bogen, zwischen den Sträuchern hindurch, auf die Rückseite der Hütte führte. Der Geräteschuppen war durch ein Vorhängeschloss gesichert. Altes morsches Holz. Vali krallte die Finger hinter die Türkante und zog mit aller Kraft. Der Beschlag gab nach. Mit ihrem ganzen Gewicht riss sie an der Tür, die ihr unerwartet entgegenkam, so dass sie das Gleichgewicht verlor und rückwärts in die Büsche taumelte.
Im Schuppen roch es nach Benzin. Ihre Hand fand einen Lichtschalter. Hacke, Rechen, Spaten, Schaufel, alles säuberlich an der Wand befestigt. Dort hinten ein Rasenmäher und, alt und verstaubt, ein Hollandrad auf halbplatten Reifen. Daneben, auf einem Regal, Benzinkanister und Werkzeugkasten, dessen Hälften sie auseinanderklappte und darin herum rührte wie in einer Kramschublade. Sie griff nach einem großen Schraubenzieher, zog eine Zange in Erwägung, probierte einen Klauenhammer und fand, unten in der Tiefe, eine Brechstange, die sie mit Geschepper und gegen Widerstand aus dem Kasten zog.
Auf dem Weg nach vorn zupften Sträucher an ihrem Sweatshirt und wischten ihr die Basecap vom Kopf. Vor der Eingangstür klemmte sie für einen Moment das Werkzeug zwischen ihre Knie und pustete in die Hände. Dann schob sie das gebogene Ende hinter den Türfalz und warf sich mit ganzem Gewicht gegen die Stange. Sie erschrak. Das war laut. Aber was solls. Nochmal, nochmal und nochmal.
NICHTS.RÜHRT.SICH.
SCHEIS.SE!
Wind blies ihr Tränen in die Augen. Ihre Hände brannten. Ihre Arme zitterten vor Anstrengung. Sie schrie, trat wütend gegen die Tür, setzte erneut die Brechstange an.
DAS.MUSS.DOCH.GEH.
DOCH.AUF!
HERR.GOTT.NOCH.MAL!
Plötzlich splitterte das Holz, ein letztes Mal drückte sie gegen das Eisen, dann sprang die Tür auf. Vali schlüpfte hinein und knipste das Licht an.
An der Wand ein Bettgestell. Daneben ein klappriger Wandschrank. Die Türen knarzten, als Vali sie öffnete. Sie zog eine klamme, muffig riechende Steppdecke hervor. Sie zog die Schublade unter dem wackeligen Küchentisch auf, fand ein Schreiben, “Zahlungsaufforderung. Herrn Klaus Petermann..” Unter dem Wandregal, eine Herdplatte auf altmodischen kleinen Füßen. Sie drehte den Schalter. Warm. Auf dem Regal Konservendosen.
Ravioli.
Später, nach dem Essen, rollte sie sich unter der Steppdecke zusammen. Fick dich Chris!
Diese eine Nacht. Nur kurz ausruhen. Peace. Reset. Morgen weiter. Bisschen Ruhe. Schlafen.
V2/10000 Zeichen