Von Michael Voß
Endlich, dachte ich. Es hörte sich so an, als ob sich die Möbelpacker von den neuen Nachbarn verabschiedeten. Vielleicht würde es noch ein wenig Gehämmere und Gebohre geben, um das eine oder andere Bild aufzuhängen, aber nach drei Wochen Komplettrenovierung nebenan war das nichts mehr, was mich aufregte. Die wieder eingekehrte Ruhe im Mehrparteienhaus musste gefeiert werden. Ich öffnete eine Flasche Rotwein und holte ein Stück Rinderfilet aus dem Kühlschrank, bevor ich mich daran machte, den Salat kleinzuschneiden.
Doch schon beim Essen war mir klar, dass die alte Ruhe dahin war. Offenbar war nebenan eine mehrköpfige Familie eingezogen, die sich mir zwar nicht vorgestellt hatte, aber dafür umso mehr Lärm machte. Immer wieder drang das Geschrei von kleinen Kindern und ihrer Mutter durch die Wände. Am dritten Tag gab es nebenan einen dumpfen Schlag, gefolgte von dem Klang zerbrechenden Geschirrs. Ich lauschte. Eine Frau schluchzte. Ob ihr Mann sie und die Kinder schlug?
Die Klingel war verstummt. Jetzt trappelten kleine Füße. Die Tür öffnete sich und ein Mädchen von vielleicht sechs, das verheulte Gesicht halb von einem Schnuffeltuch verdeckt, wurde sichtbar. „Ist deine Mama zu sprechen?“, fragte ich.
Die Frau lag zusammengebrochen neben dem umgefallenen Tisch. Ein Junge im Kita-Alter saß mit Bluetooth-Kopfhörern stumm in einer Ecke, ein Baby weinte in seinem auf dem Boden abgestellten Maxi-Cosy. Ich schluckte. „Kann ich ihnen helfen?“, fragte ich. Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich kann einfach nicht mehr“, flüsterte sie. Dann sah sie mich an.
Es war ein Schock. Ich wusste sofort, wer diese Frau war. Lang und breit hatten die Medien von ihrem Mann berichtet, einem erfolgreichen Anlageberater, der vorigen Monat erschossen worden war, Täter und Motiv unbekannt. Dann stellte sich heraus, dass er sein beträchtliches Vermögen dadurch aufgebaut hatte, indem er das Geld von Drogenbossen, Menschenhändlern und Rockerclans gewaschen hatte. Für lukrative Provisionen, versteht sich. Bei einem dieser Geschäfte hatte es Streit gegeben und schließlich war der Anlageberater einem Attentat zum Opfer gefallen. In der Folge wurden die Villa, die Autos, die Yacht und die Konten der bis dahin ahnungslosen Familie gepfändet, sprich seiner Witwe Maria und den Kindern Maja, Tim und Leonie. Presse und True-Crime-Blogger stürzten sich auf die Story. Zwar konnten Maria und ihr Anwalt verhindern, dass Fotos von den Kindern publik wurden, aber irgendwer hatte Bilder aus der Zeit vor der Ehe aufgetrieben und so wusste das Netz bald, wie die verarmte Witwe aussah, die unwissentlich einen Betrüger und Handlanger der organisierten Kriminalität geheiratet hatte. In ihrer Heimatstadt konnte sie nirgends hingehen, ohne dass das Getuschel aufflammte. Auch ohne die anstehende Zwangsversteigerung der Villa hätte sie sich eine Wohnung in der Anonymität eines Mietsblocks einer großen Stadt gesucht. Eine bescheidene Wohnung, deren Miete sie aber ohne die Zuwendungen ihrer Eltern nicht hätte bezahlen können.
Nach vier Wochen war das Schlimmste geschafft. Ich half Maria mit Geld, ging ihr im Haushalt zur Hand, spielte mit den Kindern, fuhr morgens die kleine Maja zur Schule und schlief in deren Wohnzimmer, weil sie alle Angst hatten, dass derjenige, der ihren Mann und Papa erschossen hatte, auch sie umbringen würde.
„Wieso tust du das alles für uns?“, fragte Maria beim Sonntagsfrühstück. Inzwischen sah sie wieder so hinreißend aus wie auf den Fotos von früher, als ihr Mann noch lebte. „Nun, mir geht´s echt gut, da kann ich auch anderen mal was abgeben“, sagte ich.
„Musst du eigentlich nie zur Arbeit?“, wollte Maja, die Erstklässlerin, wissen.
„Doch, sobald ich einen neuen Auftrag habe.“
„Was für einen Auftrag?“
„Ich bin Privatdetektiv.“ Meine mitunter daran anknüpfende Nebentätigkeit verschwieg ich lieber, schon weil die Einnahmen daraus am Finanzamt vorbeiliefen.
„Was macht ein Pivatdeketiv?“
„Ich beobachte Leute, die Verdacht stehen, etwas Böses zu tun.“
„Was machst du, wenn einer was Böses tut?“
„Ich mache Aufnahmen davon, Fotos oder Videos. Damit können Polizei und Richter die bösen Menschen dann einsperren.“
„Kannst du auch den Mann beobachten, der unseren Papa erschossen hat?“
„Wenn ich wüsste, wer er ist, ja.“
„Wenn ich groß bin, will ich auch Deketiv werden“, sagte Maja.
Wir fingen mit den einfachen Sachen an. Geheimtinte aus Zitronensaft, Verschlüsseln von Texten mittels Codetabelle, Bau eines Periskops („Damit kann ich um die Ecke gucken!!!“) und andere, kindgerechte Sachen in der Art. Mit acht Jahren kannte Maja den Unterschied zwischen dem Fotografieren mit dem Handy und dem mit einer Digitalkamera mit Teleobjektiv und Restlichtverstärker aus einem Versteck heraus. Es folgte das Richtmikrofon, später der Gebrauch der digital nicht ortbaren Minispycam mit analogem Sendemodul.
Beim Thema Waffen hörte es auf. Ich erklärte, ihr den Gebrauch von Pfefferspray zu zeigen, wenn ihre Mama damit einverstanden wäre. Doch Maria meinte, das sei je nicht nur für Detektive nützlich und hatte auch nichts dagegen, dass Maja mich auf die Jagd begleitete.
„Ich wusste garnicht, dass du auch ein Jäger bist“, sagte sie erstaunt und fasziniert zugleich. „Sind alle Detektive auch Jäger?“
„Nein, aber als Detektiv habe ich manchmal mit zwielichtigen Gestalten zu tun. Da fühle ich mich sicherer, ganz legal eine Pistole zu besitzen und dabei haben zu dürfen.“
„Hast du damit schon mal auf jemanden geschossen?“
„Nein“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Noch nie. Und mit dem Jagdgewehr nur auf Wildschweine.“
„Dein Wildschweinbraten schmeckt gut!“, sagte sie. „Aber die Tiere tun mir leid.“
—
Zehn Jahre später wohnten wir immer noch Tür an Tür. Längst war ich so etwas wie der Onkel von nebenan. Mitunter wurde ich für Marias Mann gehalten und wäre, wenn es nach ihr gegangen wäre, es noch im ersten Jahr unseres Kennenlernens auch geworden. Maja und Tim hatten mir gesagt, sie wollten mich als ihren neuen Papa. Es war schwer gewesen, ihnen allen einen Korb zu geben. Aber ich konnte nicht anders.
„Warum nicht?“, hatte Maria gefragt. „So wie du dich für uns ins Zeug legst, kannst du doch gleich ganz einziehen. Überhaupt: Die Kinder lieben dich und ich auch. Und so, wie du mich immer anguckst, bin ich dir alles andere als egal.“
Es war schwer gewesen, sie davon zu überzeugen, dass ich bindungsunfähig war. Ich verschwieg, dass das nur für sie galt. Als Grund nannte ich ein seelisches Trauma, was mir Angst einjagte und über das ich nicht sprechen konnte. Das war nicht gelogen: Der Schreck, als ich sie an jenem Tag erkannte, steckte mir nach wie vor in den Knochen. Und die Angst, dass sie von meinem Nebenjob erfuhr, war groß.
Erst waren Tränen geflossen, aber dann hatte sich alles wieder eingerenkt und wir hatten wieder eine gute Zeit. Letztes Jahr hatte Maria endlich jemandem gefunden, mit dem sie glücklich zu werden schien und der mit den Kindern sowie mit dem Onkel von nebenan gut klarkam.
Mit blutete das Herz, einen anderen an Marias Seite zu sehen, aber ich war es selbst schuld.
Eines Abends, ich bereitete gerade die Bearbeitung eines neuen Auftrags vor, klingelte es an meiner Tür. Ich warf ein Tuch über die Ausrüstung auf dem Tisch und ging zur Wohnungstür. Der Flur war voll von SEK-Beamten, die ihre Waffen auf mich gerichtet hielten. Langsam hob ich die Hände.
Ein Mann im Anzug trat vor mich: „Herr Kuiper, sie sind verhaftet unter dem dringenden Verdacht, in den vergangenen fünfzehn Jahren über vierzig Auftragsmorde verübt zu haben.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte ich verblüfft.
„Ein Mädchen namens Maja, dem Sie wohl seit einiger Zeit Unterricht im Observieren von Personen geben, hat eine Mini-Spycam in Ihrem Arbeitszimmer platziert. Nachdem sie beobachtet hat, wie Sie ein Scharfschützengewehr gereinigt haben, hat sie Sie bei der Passwort-Eingabe an ihrem PC gefilmt und uns verständigt. Das Gerät ist beschlagnahmt.“
Widerstandslos ließ ich mich abführen. Mein Leben hatte seinen letzten Sinn verloren, die Reue so schmerzhaft wieder aufgeflammt wie an jenem Tag, als ich Maria neben dem umgestürzten Tisch erkannte. Denn Maja – und damit auch Maria – wusste jetzt, dass ich es war, der seinerzeit ihren Vater im Auftrag seines Widersachers erschossen hatte.
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