Von Patrick Brauner

 

Etwas zog sie an der Schulter nach hinten, geistesgegenwärtig zog sie das Messer und stach mehrmals zu. Warum ich ständig auf mein Smartphone starren würde, hatte sie ihre Mutter gefragt, als sie das letzte Mal zu Besuch war. Nikki nahm ihre Mutter gar nicht wahr. Sie nickte nur als Zeichen dafür, dass sie anwesend war. Das Smartphone Problem war kein solches, dachte Nikki. Niemand sprach jemand Drittes auf seinen Handykonsum an oder kritisierte diesen. Jeder nutzte es, zu jeder Zeit. Ihre Mutter machte sich ständig Sorgen. Das drückte sie in immer wiederkehrenden Diskussionen über ihren Lebenswandel aus. Das Rauchen musste Nikki sich schon abgewöhnen. Das Trinken ebenso. Nikki war keine Säuferin, aber ihre Mutter hielt sie für nicht fähig, ihren Konsum diesbezüglich zu kontrollieren. Ungerechtfertigt war dieser Gedanke nicht, wie Nikki sich eingestehen musste. Sie war 35, hatte keine Kinder und keinen festen Partner. Sie arbeitete und verdiente gutes Geld. Und sie ging gerne feiern, als wäre sie noch 20 Jahre. Nikki erwartete nichts vom Leben. Sie lebte Jetzt. Es war Montag morgen. Nikki liebte den Montag, ja vergötterte den Montag wie einen Mann, für den sie einmal Gefühle hatte. Jeder Montag ist ein neuer Anfang, hatte sie einmal in einem Buch gelesen, das ihr Vater ihr vor seinem Tod schenkte. Nikki las jede Woche eine Geschichte aus dem Buch. Sie legte sich in ihr Bett, nahm das Buch vom Nachtisch und laß darin, bis sie vor Erschöpfung einschlief. Es war alles, was ihr geblieben war. Diese Geschichten, meist Krimis, hatten sie von der ersten Seite an fasziniert. Ihr Vater liebte diese Geschichten, weil sie so nah am Leben waren, wie er sagte. Es ist erfunden, aber doch Teil der Wirklichkeit, sagte er. Das verneinte Nikki vehement. Deshalb sind es Geschichten, Paps, sagte sie zu ihm mit einem Augenzwinkern. Wenn etwas Schlimmes passiert, dann nicht uns. Ihr Vater nickte nur. Es klingelte an der Tür, aus ihrer Vorstellung gerissen, sprang sie auf und stand kerzengerade vor der Türe und blickte durch den Spion. Sie hatte zu jeder Zeit einen Blick auf die Türe gehabt, die im Herbst vom Wind hin und her gerüttelt und im Sommer die Hitze hinein ließ. Einen Moment der Unaufmerksamkeit. Wer ist da? Wollte sie wissen. Immer noch linste sie durch den Türspion, konnte aber nichts und niemanden erkennen.  „Die Post”, kam es aus dem Flur. Sie erwartete tatsächlich etwas. Ein Buch über Serienkiller. Noch zwei Stunden blieben ihr, dann musste sie in die Stadt. Ihre beste Freundin wartete auf sie. Sie nahm das Buch in die Hand, übersprang einige Seiten, suchte die Bilder und blieb dort hängen. Es waren etliche Stunden vergangen und Nikki musste feststellen, dass sie den Rest des Tages mit Lesen verbracht hatte. Sie blickte auf ihr Handy, das blinkte. Ihre Freundin rief mindestens fünf mal an, dann verstummte das Handy. Sie wird es mir verzeihen, so wie sie mir alles verzeigt, dachte Nikki. Und laß weiter. Es war jetzt zweiundzwanzig Uhr sechs. Sie legte das Buch beiseite und ein tiefer Schlaf überkam sie. Als sie wach wurde, war es vier Uhr in der Nacht. Sie erinnerte sich, dass heute ein Feiertag war, Gott sei Dank. Nochmal die Augen zugemacht, wurde sie um sechs Uhr am Morgen wieder durch ein Klingeln geweckt. Wieder sprang sie aus dem Bett und linste durch den Spion, dieser verirrt nichts, nichts und niemand war zu sehen. Ist da jemand?, sie öffnete die Tür einen Spalt. Sie hörte alleinig den Wind, der durch den Hausflur pfiff. Die Tür zugemacht, nahm sie sich eine Schüssel Cornflakes und pflanzte sich vor den Fernseher. Als es plötzlich klopfte. Ruhe findet sie wohl nicht mehr in diesem Leben. Es war die Nachbarin von gegenüber, die ihr ein kleines Päckchen übergab. Es lag vor der Haustüre, sagte sie fast im Flüsterton. Und ihr Name war darauf zu lesen. Sie musterte vorsichtig, was gerade so in ihre zarten Hände passte. Sie drehte es in alle Richtungen, schüttelte es kurz und legte es dann auf den Esstisch. Fremde Pakete anzunehmen, ohne Absender zu stehen, ist mehr als klischeehaft, ging es ihr durch den Kopf. Aber öffnen musste sie es dennoch. Hervor kam eine Menge Verpackungsmaterial und am Ende eine kleine Schachtel. Diese war von außen cremefarben, sie schimmerte, wenn sie den Blickwinkel veränderte. Diese vorsichtig geöffnet kam ein Ring zum Vorschein. Sie überlegte, welche Gründe es geben könnte, dass ihr jemand versehentlich diesen Ring schickte. Die Tatsache, dass es jemanden geben könnte, der ihr einen Ring schenkte, war ohnehin seltsam. Und dann noch auf so eine unpersönliche weiße. Sie nahm den Ring, besah ihn noch einmal und legte ihn zurück in die Schachtel, die gerade so in ihre zarten Hände passte. Das Telefon klingelte, es war zehn Uhr, Nikki schleppte sich aus dem Bett und stolperte über das Paket.

„Ja, Mutter? Was gibt es?”

„Keine Sorgen, mein Schatz, mir geht es gut.” Dann war sie nicht mehr zu hören. Was war das denn? Nikki rief zurück.

„Mutter?”

„Ja, mein Schatz, mir ist gerade vor Schreck das Telefon aus der Hand gefallen.”.

„Was gibt es Mutter”, wollte Nikki wissen.

„Ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll, aber ich hatte heute Besuch von einem Mann, der vorgab, dich zu kennen.”

Stille

„Er fragte nur, ob du noch hier wohnst.”

Stille

„Du hast hoffentlich nicht geantwortet, Mutter.”

„Natürlich nicht. Und irgendwie hat der Mann mir Angst gemacht.”

„Ich ruf dich gleich zurück, Mutter.”

Nikki legte auf und sie überkam ein dunkler Verdacht. Etwas an diesem Szenario kam ihr sehr bekannt vor. Vielleicht waren es die Krimis von Paps oder aber das schreckliche Fernsehprogramm zur Prime Time.

„Mutter, du hast alles richtig gemacht.”

Am nächsten Tag, Nikki kam gerade von der Arbeit. Es war jetzt sechzehn Uhr. Sie schloss auf, leerte nochmal den Briefkasten, bevor sie in die Wohnung trat. Werbung, Werbung, Werbung. Was ihr sofort auffiel, war, dass es ein Geschäft für Brautmoden war, das hier warb. Seltsam. Diese Art Werbung hatte sie nie zuvor bekommen. Bestimmt ein neues Geschäft, das geöffnet hatte, dachte sie. Sie betrat die Wohnung. Draußen wurde es schon stetig dunkel, ihr war, als hätte sie draußen zwischen den Bäumen einer wunderschöne Oase etwas aufblitzen sehen, Oase, so nannte die Stadt dieses Kunstwerk, das nur aus Bäumen bestand und an der Hauptstraße für alle sichtbar platziert worden war. Schob es aber darauf, dass sie müde gewesen war. Den Rolladen an allen vier Fenstern zugezogen. Nach unten gezogen und blickdicht gemacht. Nikki lag auf der Couch, der Fernseh lief. Es war ihr, als würde sich alles immer wiederholen. Das Leben ran an ihr vorbei, Tag für Tag passierte nichts weiter als dieselbe Grütze. Sie trat auf der Stelle. Die Stille wurde plötzlich durchbrochen, als sie von draußen Geräusche wahrnahm, die von sich streitenden Katzen stammen könnten. Sie wollte ihren Gedanken nicht erlauben, daraus mehr zu machen als es war. Der Fernseher lief noch und die hundertste Wiederholung eines Klassikers lief in Endlosschleife. Dann fielen ihr die Augen zu. Der Wecker spielte den Radiosender ihrer Heimat, sie war wach. Im Halbschlaf tastete sie nach ihrem Handy und erreichte es schließlich. Sie tippte mehrmals auf das Display, bis sie traf und das Handy verstummte. Es war sieben Uhr, aufstehen und los. Unterwegs nahm sie wahr, dass das Stück Park, das ihr so vertraut war, sehr dunkel war. Man sah lediglich, was sich in den Kegeln der Laternen bewegte, nicht aber, was sich im Halbdunkeln befand. Das war gruselig, dachte sie und setzte ihren Weg fort.

Die Tage rannen so dahin und sie stand zum Feierabend wieder in ihrer Straße, die voller Leben war und doch leblos wirkte. Buntes Licht an den verschiedensten Fenster bis in den fünften Stock ihres Blocks. Autos in allen Farben. Geräusche jeglicher Art, die in einem undurchsichtigen Konglomerat mündeten. Paps machte diese Straße zu einem Ort des Wiedersehen, des Trosts und bedingungsloser Liebe. Sie ging auf die Haustüre zu, die ihre Wohnung hinter sich verbarg und sah auf den Treppenstufen etwas liegen, was ihr wie ein Kadaver vorkam. Der Kadaver eines kleinen Tieres, zu klein für einen Hund oder eine Katze. Ein Nager vielleicht. In kleinen Schritten näherte sie sich und als sie direkt davor stand und sich herunter beugte, sah sie noch etwas auf dem Kadaver liegen. Ein Zettel mit ihrem Namen drauf zu lesen. Das kann kein Zufall sein. Sie mahnte sich dazu, ruhig zu atmen. Für einen Moment stand sie regungslos da. Eins, zwei, drei, vier, fünf…. Nikki zählte bis zehn und atmete tief durch. Das kann nicht real sein. So etwas passiert nicht dir. Es passiert nicht uns. Paps, warum passiert das? Nikki wagte es nicht, sich zu bewegen. Schaffte es aber in kleinen Schritten, den Zettel von dem Nager zu entfernen. Kein übler Scherz mehr, das ist krank. In der Wohnung angekommen, schloss sie sofort zweimal die Türe ab. Die Fenster waren alle geschlossen. Blickdicht die Rollläden heruntergelassen. Sie spürte ihr Herz klopfen. Ihre nächsten Schritte waren zum Abstellraum, dort holte sie aus einem Schuhkarton ein Schnappmesser heraus. Ich nehme es nur zur Sicherheit, sagte sie sich im Flüsterton. Ich trage es nur zur Vorsicht. Paps. Ich kann auf mich aufpassen.

Sie beschloss, ihre Mutter anzurufen und griff nach dem Festnetz in der Stube.

„Mama, mir passieren seltsame Dinge.”

„Mama, ich habe Angst.”

Als sie plötzlich ein Klopfen im Hörer vernahm.

„Mir passieren gruselige Dinge, und deshalb trage ich ab sofort ein Schnappmesser bei mir.”

„Schätzchen, atme erst einmal tief ein und aus.”

Sie tat gerade nichts anderes.

„Ich hoffe du bist nicht betrunken.”

„Mama!”

Für einen Moment war Stille. Keiner sagte etwas.

„Ich habe heute eine tote Ratte vor meiner Haustüre gefunden, auf der ein Zettel mit meinem Namen darauf lag.”

„Es tut mir leid, Schatz, dass dir so etwas widerfährt. Ich weiß doch auch nicht, was du tun kannst.”

Nikku wusste, was jetzt zu tun war, – keine Angst haben!

Eine Woche verging, Nikki hatte sich für drei Tage krankschreiben lassen. Den Rest der Woche hielt sie sich so lange wie es nur ging in der Stadt auf und traf sich mit Freunden. Sie wollte jetzt nicht alleine Zuhause sein. Es war Sonntag. Nikki fiel erschöpft ins Bett. Sie fühlte sich tatsächlich etwas krank und wollte nur noch schlafen. Dann fiel ihr im Halbdunkel etwas zwischen Fenster und Rahmen auf. Sie stand auf und ging auf das etwas zu, was wie ein Umschlag aussah. Ein Brief. Der Brief sah aus wie jeder andere Briefumschlag, weis und im gewohnten Format, aber ohne Absender. Nikki wohnte parterre und jeder hätte ihr diesen Brief da hineinstecken können. Das ergibt keinen Sinn. Sie öffnete langsam den Brief und versuchte, irgendetwas auffälliges daran festzustellen. Es war nur ein Brief. Und als sie den DIN A4 großen Zettel herauszog und las, stockte ihr der Atem.

Hallo meine Schöne,

wie geht es dir? Lange nichts mehr von dir gehört. Ach ja, du hast dich von mir getrennt. Ohne Vorwarnung, ohne Grund. Die letzten Monate waren die Hölle für mich und ich bin mir sicher, dass du mich längst vergessen hast. Ich dich aber nicht. Haben dir deine Geschenke gefallen? Wir waren 5 Jahre zusammen und du wirfst mich einfach weg. Ich hasse dich. Und ich liebe dich. Wieso hast du mir das angetan? Vielleicht wirst du nochmal von mir hören. Vielleicht, liebe Nikki, wirst du bald erfahren, wie ich mich gefühlt habe.

Holden

Holden, was hast du getan?

Es war jetzt zweiundzwanzig Uhr und Nikki musste raus. Sie konnte nicht länger in dieser Wohnung bleiben. Sie rief ihre Freundin Pauline an. Ich brauche dich, sagte sie. Komme zu mir. Noch am selben Abend waren die Beiden feiern und Nikki trank mehr als gewollt.

„Warum hast du dich die letzten Tage nicht gemeldet?”, wollte Pauline wissen.

„Es ist viel Verrücktes passiert.”

„Holden hat sich gemeldet.”

Als Nikki auf dem Heimweg war, trennten sich die beiden noch in der Stadt. Nikki nahm den Weg durch den Park. Nicht mehr Herr ihrer Sinne, das Messer in der Tasche, ging sie durch den Park, der ihr früher so vertraut gewesen war. Mit Paps hatte sie hier viele Momente verbracht.

Verdammter Hurensohn, flüsterte Nikki.

Etwas knackte hinter hier, sie drehte sich um. Nichts. Nichts als Dunkelheit und die Lichtkegel der Laternen, die spärlich nur alle zweihundert Meter entlang des Weges platziert waren.

Es pfiff jemand, sie sah die Person. Aber diese schien sich nicht zu bewegen. Leisen Schrittes, aber gewillt, diesen Park zu durchschreiten, setzt sie ihren Weg fort.

Stille

Stille

Stille

Als sie etwas auf ihrer Schulter spürte und nach hinten zu ziehen drohte, zog sie das Messer heraus und stach mehrmals zu.

Stille

Stille

Stille

Du verdammter Drecksack, zu was hast du mich gebracht. Ich hasse dich! Eins, zwei, drei, vier, fünf… Nikki öffnete die Augen und schaute sich um. Wo warst du??? schrie sie. Aber sie war nicht fähig zu schreien.

Als sie wenige Meter vor sich etwas auf dem Boden liegen sah, was sie atmen hörte. Näherte sie sich bis auf zwei Schritte und blickte nach unten.

Das war nicht Holden!