Von Ursula Kollasch
Corvin. Wie passend seine Eltern den Namen wählten.
Der Rabe. Dunkel und klug.
Ich habe überreichlich Erinnerungen an ihn. In unzähligen Nächten breitete ich sie vor mir aus wie hauchdünne Bilder und Schüsse reinen Schmerzes jagten durch mich hindurch.
Corvins leicht schiefes Lächeln. Das amüsierte Funkeln seiner dunklen Augen mit den sich vertiefenden Lachfältchen, wenn er mich neckte. Sein dichtes, schwarzes Haar mit den ergrauten Schläfen, die ihn noch anziehender machten.
Die Brillanz seiner Gedankengänge. Die Zuneigung in seinem Gesicht, wann immer er mich anblickte, selbst als todkranker Schatten seines alten Ichs.
Wie tapfer er gewesen war! Der Gedanke schnürte mir einen Augenblick die Luft ab.
Sein Wunsch war, dass ich nicht zu lange trauerte.
Du wirst eine neue Liebe finden, irgendwann.
Wie soll das gehen?, hatte ich geschrien, pure Verzweiflung, um vor meiner eigenen Stimme zu erschrecken.
Er hatte nur gelächelt, sein warmes, wissendes Lächeln.
Als wir uns vor 23 Jahren kennenlernten, war er ein junger Dozent und ich Sekretärin an der Universität. Er war in mein Büro gekommen, um die Studentenlisten abzuholen, ein magischer Moment.
Sobald sich unsere Blicke verbanden, passierte etwas. Mit uns beiden.
Nach meiner unglücklichen Kindheit und mehreren gescheiterten Kurz-Beziehungen hatte ich es nicht für möglich gehalten, derart tief empfinden zu können.
Wir wurden ein Paar. Und ich kam endlich zur Ruhe, fand meinen Hafen.
Corvin besaß die sanfte, aber unbezwingbare Stärke eines windstillen Ozeans, der mit der Zeit die spitzen Kanten meiner verletzten Seele schliff, bis ich weich und umgänglich wurde wie eine an den Strand gespülte Scherbe.
An seiner Seite wuchs ich. Sein Tod drückte mich zurück.
Das ist nicht fair, hatte ich gedacht. Dass er so litt und kurz vor seinem 59. Geburtstag aus dem Leben gerissen wurde. Weshalb nahm man mir das Beste fort, was mir je widerfahren war?
Verzweiflung und Wut tobten in mir, bis der Schmerz dumpfer wurde und Leere mich ausfüllte.
Drei Jahre ist das nun her.
Das Aussortieren seiner Sachen fiel mir nicht leicht.
Letztendlich behielt ich nur seinen Siegelring, ein altes Familienerbstück. Irgendwann würde ihn unser Sohn Christian tragen, doch noch streifte ich ihn mir jeden Morgen auf den Daumen. Seine Schwere, die Wärme des Goldes, hatten etwas Tröstliches.
Der Gedanke an eine neue Beziehung lag mir fern. Freunde hatten versucht, mich auf einer Feier zu verkuppeln. Die Nähe des Mannes verursachte mir Unwohlsein. Ich konnte ihm kaum in die Augen blicken.
Als er mir etwas ins Ohr flüsterte, überfiel mich grelllodernde Panik. Ich riss mich los und flüchtete aus dem Haus.
Ich war nicht bereit, einem anderen Mann Interesse, gar Zuneigung zu schenken.
An einem düster verhangenen Tag verlor ich den Ring auf einem meiner Gänge zum Friedhof. Sobald ich den Verlust bemerkte, eilte ich zurück, die Augen auf den Boden geheftet, mit mir schimpfend. Aber ich fand ihn nicht. Er war fort, würde nie an Christians Finger stecken.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, ein Schluchzen entwich meiner Kehle.
Zeitgleich ertönte ein Krächzen in der Stille des Friedhofs. Der einsame Ruf wiederholte sich, gefolgt von einem Flattern, das aus den Bäumen aufstieg.
Kurz darauf begannen die Träume. Einerseits ersehnte ich sie, andererseits fürchtete ich mich vor ihnen, denn sie waren so real, und wenn ich erwachte, tobte mein Herz vor Sehnsucht.
In den Träumen war der Corvin von früher an meiner Seite, nicht der ausgezehrte, vom Krebs gezeichnete Mann. Er ging mit mir spazieren, wie ein guter Freund, nicht wie ein Geliebter. Wort für Wort unserer Traumgespräche hat sich mir eingebrannt.
Liebes, sagte er, wenn unsere Begegnungen endeten. Lass los …
Seine Stimme ein raues Flüstern in meinem Ohr, ehe ich erwachte.
In meinem letzten Traum waren wir in Rom. So echt wirkte das abgerissene Flair dieser uralten Stadt. Obwohl ich nie dort gewesen war, zeigten sich mir ganze Straßenzüge, konnte ich die abgasverseuchte, pulsierende Hitze der Stadt spüren. Ein rosiger Abendhimmel. Große, bauschige Wolken, langsam treibend wie der Rauch eines Lagerfeuers in der Ferne.
Flieg‘ nach Rom, Viola.
Seine Stimme hallte in mir nach, als ich in der Morgendämmerung die Augen aufschlug.
Es zerriss mir das Herz. So oft hatten wir davon gesprochen, Rom zu besuchen, wenn es ihm besser ginge, doch die Krankheit war unbarmherzig gewesen.
Eine traumlose Woche später nahm ich meinen Resturlaub und heute trat ich die Reise an.
Jetzt verlasse ich das Flughafengebäude und tauche ein in die glühende Mittagshitze der römischen Vorstadt Fiumicino. Dies hatten wir zusammen erleben wollen. Nun muss ich mich allein zurechtfinden.
Ein Taxi bringt mich ins Hotel. Als ich den klimatisierten Altbau betrete, ist mir einen Moment, als spüre ich Corvins Präsenz neben mir. Ich blinzele, denn ich glaube, einen Hauch seines Aftershaves wahrzunehmen. Der Augenblick ist vorbei und ich steuere auf die Rezeption zu, um einzuchecken.
In meinem Zimmer öffne ich die Türen zum Balkon und trete hinaus. Hitze und Verkehrslärm hüllen mich ein, italienische Satzfragmente und Lachen dringen an mein Gehör. Die Lebendigkeit der Stadt springt auf mich über.
Im Foyer schließe ich mich spontan einer Reisegruppe an. Das Kolosseum. Die Engelsburg. Der Circus Maximus. Der Trevi-Brunnen. Eine beeindruckende Stadt!
Auch den nächsten Tag verbringe ich mit Besichtigungen.
Doch statt die Reise zu genießen, werde ich immer deprimierter. Meine Einsamkeit springt mich an und verbeißt sich in mir wie ein tückisches, kleines Tier.
Ein längst abgelegt geglaubter Gedanke kehrt mit aller Macht zurück: Das Leben ist nicht fair.
Welch Hirngespinst, zu glauben, Corvin hätte gewollt, dass ich allein nach Rom fliege. An diesen Ort, den ich mit ihm hatte bestaunen wollen. Ich will nach Hause und buche meinen Rückflug.
Mein letzter Abend in Rom. Im Hotel halte ich es nicht aus.
Vor einem Restaurant setze ich mich an einen der Tische und bestelle die Tagesempfehlung. Trinke ein Glas Wein, beobachte die vorbeiflanierenden Menschen, während die windstille Hitze milder wird, meine nackten Arme und Beine umschmeichelt. Nach dem Essen bitte ich den cameriere um die Rechnung, die er mir kurz darauf mit einem »Prego, Signora« auf den Tisch legt und weitereilt.
Ich krame in meiner Tasche nach der Börse, als ich etwas wie ein Flattern vernehme. Verwundert schaue ich mich um. Hier sind keine Tauben, auch keine anderen Vögel.
Eine Brise streift mich, erfasst die Rechnung und lässt sie davonsegeln. Ich springe auf, um sie aufzuheben, doch das Blättchen rutscht über den Boden, bis es neben einem Paar Herrenschuhe zum Liegen kommt. Ein braungebrannter Arm greift danach, hält es mir entgegen.
Wir sehen uns an. Der Mann mit der ergrauten Löwenmähne besitzt angenehme, markante Züge. Seine bernsteinfarbenen Augen wirken sanft, aber auch, als hätten sie fast zu viel gesehen.
»Grazie«, murmele ich, in der Annahme, er sei Italiener und will mich abwenden, da fällt mein Blick auf seine Hand. Ich erstarre. Die Sinfonie an Verkehrslärm und Stimmen verstummt wie ausgeschaltet.
Etwas, kalt wie Meerwasser, rauscht über meinen Körper hinweg, verschlägt mir den Atem, ehe sich mein Puls beschleunigt. Er trägt Corvins Ring! Mich erfasst ein Schwindel, ich schwanke, bis ich einen stützenden Griff um meine Schultern spüre. Der Mann setzt mich auf den Stuhl ihm gegenüber.
»Ist Ihnen nicht gut?« Er ist Deutscher.
»Geht schon wieder«, stammele ich und atme durch, versuche, mich unter Kontrolle zu bringen.
»Woher haben Sie diesen Ring?«, platzt es aus mir heraus. Er schaut verwundert erst mich an, dann auf das Schmuckstück.
»Ich habe ihn vor drei Wochen auf einer Auktion ersteigert. Warum fragen Sie?«
»Verzeihung, aber steht darin -« Ich muss schlucken. »Victor Degenhardt eingraviert?«
Er spitzt den Mund wie ein sinnierender Herrscher, zieht leicht die Brauen hoch. Es könnte eine amüsierte Geste sein, aber auch eine ärgerliche. Dann zieht er den Ring vom Finger und linst hinein, ehe er seine Augen wieder auf mein Gesicht richtet.
»Sie haben Recht, Frau … Verraten Sie mir Ihren Namen, ehe Sie das Geheimnis dieses Rings lüften?«
»Viola Degenhardt, aus Hamburg.«
»Leonhard Leu, ebenfalls aus Hamburg, was für ein Zufall!«, erwidert er lächelnd und winkt dem Kellner, damit wir noch etwas bestellen können.
Er ist ein wunderbarer Zuhörer, und ich erzähle ihm alles. Noch nie habe ich einem Fremden gegenüber so offen gesprochen. Obwohl ich versuche, meiner Stimme und meinem Gesicht Neutralität zu verleihen, spiegeln seine Züge meine Traurigkeit wider. Als ich geendet habe, verstreichen einige Sekunden, ehe er etwas sagt.
»Ich habe vor vier Jahren meine Frau verloren.«
Er sagt nur diesen Satz, doch die greifbare Schwere seines Verlusts hätte Schiffe versenken können.
»Es tut mir leid, dass Sie den Ring an mir wiederfinden mussten. Noch ein Zufall! Bitte, nehmen Sie ihn zurück.«
»Danke. Das bedeutet mir viel. Was bin ich Ihnen schuldig?«
Ganz leicht schüttelt er den Kopf. Ein warmer Ausdruck dämmert in seinen Bernsteinaugen auf, ehe er unglaublich vorsichtig meine Hand ergreift und sie wendet. Und als er mir den Ring hineinlegt und sanft meine Finger darum schließt, wird mir klar, dass diesmal die Nähe eines Mannes keine Panik auslöst, bei seiner Berührung kein wilder Aufschrei in mir ertönt.
Im Gegenteil, ich fühle mich zum ersten Mal seit Jahren wieder sicher.
»Sie sagten, Sie fliegen morgen. Schade … Ich würde Sie gerne wiedersehen.«
Leonhard sagt es leicht, aber die Reglosigkeit seiner breiten Schultern verrät mir, dass er den Atem anhält. Er mag mich, versteht mich. Und ich mag ihn, das spüre ich.
Ruhige Verwunderung und Zuversicht breiten sich in mir aus.
»Ich möchte Sie auch gern wiedersehen, daheim in Hamburg.«
Wir lächeln uns an, fast schüchtern.
Kurz schließe ich die Augen. Sehe ein anderes, still lächelndes Gesicht und mir ist, als ob etwas federleicht und zärtlich über meine Wange streicht.
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