Von Peter Burkhard

Versuche, deinen Gefühlszustand bildlich darzustellen, dich als Gegenstand zu beschreiben. Vermagst du das?“
Ja, das kann ich: Ich komme mir vor wie ein zerknüllter Pappbecher, den man achtlos weggeworfen hat.“

* * *

Schweigend hockte ich auf der hölzernen Kiste und schob eine Handvoll gerösteter Kaffeebohnen nach der anderen über ein Drahtsieb. Linda nannte die Tätigkeit Limpiar el café und hielt sie für muy importante, wie sie öfter betonte.
Seit den ersten Tagen, als ich auf der Finca angeheuert hatte, musste ich diese monotone Arbeit häufig verrichten. Die Sitzhaltung dabei war anstrengend und die Tätigkeit zum Gähnen langweilig. Dafür blieb mir viel Zeit zu reflektieren. Und um zu vergessen. Genau dazu hatte ich diesen Tapetenwechsel herbeigeführt. Um zu vergessen oder zumindest, um die Erinnerungen an die Geschehnisse der letzten Monate zu verdrängen.
Nahezu vier Wochen war ich jetzt hier im zentralen Hochland Costa Ricas. Als Lehrer geflohen aus meinem Arbeitsumfeld, das mich zu ersticken drohte. Gelandet als, wie soll ich’s nennen(?), Hilfsarbeiter auf Finca Cristina, einer kleinen, sorgsam geführten Kaffeeplantage im Besitz von Linda und Bernie.
Der Alltag war fordernd: Arbeitsbeginn um 7 Uhr, bis zum Mittagessen knochenharte Farmarbeit und nachmittags drei Stunden Spanisch büffeln bei Margot und Isabel.
Die private Schule in Orosi bot mir nebst dem Sprachunterricht ein Zuhause in einem Zimmer, in dem mir die Fledermäuse vom Dachstuhl aufs Bett schissen, exakt durch Spalten in der Zimmerdecke.

Trotz miesen Wetter und besagter Arbeit fand ich bald Gefallen an meinem Zufluchtsort. Ich lernte die Gegend und interessante Menschen näher kennen und an den arbeitsfreien Tagen unternahm ich Ausflüge mit meinem Kleinwagen. Das Schönste an meiner Freizeit war, dass ich mich jeweils bloß zu fragen brauchte „Will ich das und wenn ja, mach ich’s jetzt oder später?“
Derart genährt vertrieb wieder aufkeimende Lebensfreude manch bösen Gedanken an das beruflich Gewesene. Allmählich gedieh in mir die Idee, für ein verlängertes Wochenende an die Ostküste des Landes zu fahren. Nach Puerto Limón oder Cahuita, egal, Hauptsache ans Karibische Meer.

Letztlich landete ich in Cahuita.
Meine Unterkunft, das El Encanto, war eine gepflegte, sichere Anlage. Sie lag in fußläufiger Entfernung zum Dorf und wenige Meter von den tosenden Wellen der Playa Negra entfernt.
Es war bereits duster, als ich zum ersten Mal ins Zentrum spaziert war und im Restaurant Cha Cha Cha den Fisch des Tages und ein Bier bestellte. Die einzige Bedienung des Lokals war vielleicht 35 Jahre jung, dunkelhäutig und mit karibischem Einschlag. Sie hatte ein apartes, leicht geschminktes Gesicht und trug schwarze, nach hinten gekämmte, locker zusammengenommene Haare. Das Auffallendste an dieser Frau war ihr Busen. In einer weit ausgeschnittenen, eng anliegenden weißen Bluse hatte sie ihn an diesem Abend unübersehbar drapiert, wobei er je nach Körperhaltung überzuquellen drohte.
Mit ihrer unkomplizierten, aufmerksamen Art und ihrem gewinnenden Lächeln wirkte sie nicht nur sexy, sondern außerordentlich sympathisch. Allein wie ich war, blieb mir viel Zeit, ihr während des Essens mit meinen Blicken unauffällig zu folgen.
Der Fisch des Tages schmeckte hervorragend und beim Verlassen des Lokals bedankte ich mich für den ausgezeichneten Service. Dabei riskierte ich einen letzten Blick auf ihren Busen und ging.

Am nächsten Vormittag flanierte ich durch den kleinen Ort mit seinem beschaulichen Dorfkern. Überall prangten die Landesfarben Äthiopiens und aus jedem zweiten Haus erklang Reggaemusik, welche karibische Atmosphäre in die schwülheißen Straßen trug. Weil es sonst wenig zu entdecken gab, verbrachte ich die folgenden Stunden außerhalb des Ortes.
Ich bummelte die Strände entlang und streifte durch den angrenzenden Parque Nacional Cahuita. Dabei hoffte ich, einem Dreizehenfaultier zu begegnen, diesem dauergrinsenden, unendlich trägen Baumbewohner. Aber ich hatte keinen Erfolg. Dafür bewarfen mich ein paar gehässig kreischende Kapuzineraffen aus dem sicheren Blätterdach mit kleinen Früchten. Sie wussten, dass ich ihnen nichts anhaben konnte.
Gedanklich noch beim Dreizehenfaultier schlenderte ich am späteren Nachmittag durch die Ortsmitte. Mir wäre die skurrile Szene auf der anderen Straßenseite kaum aufgefallen, wenn nicht ein Reiter auf einem wild gewordenen Pferd meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte. Der Mann brachte das nervöse Tier nur mit Mühe unter Kontrolle und landete beinahe auf der Terrasse einer gut besuchten Bar. Schließlich galoppierte er unter dem Gegröle der Barbesucher in die nächste Seitenstraße, wo er entschwand.
Dann blieb mein Blick an diesem Rasta mit seinen Dreadlocks hängen.
Das Bild war derart schräg, dass ich ohne zu überlegen meine Kamera zückte und abdrücken wollte. Der Typ mittleren Alters saß knappe zwei Meter über dem Boden auf einer weit ausladenden Astgabel eines großen Baumes. Die Beine übereinandergeschlagen, eine offene Zeitung vor sich, hing er halbwegs im Geäst, wie wenn ihn die Welt nichts anginge und schien zu lesen. Ein Motiv, das schöner arrangiert nicht hätte sein können.
Aus der Aufnahme wurde nichts: Intuitiv wurde der Mann auf mich aufmerksam. Er riss die Sonnenbrille vom bärtigen Gesicht, faltete blitzartig die Zeitung zusammen und beschimpfte mich wutentbrannt: „Yuh fassyhole, how can yuh dare tuh tek ah picha ah mi? Shall mi kill yuh mon?“
Ich verstand kein Wort, aber mir wurde klar, dass er kurz davor war, vom Ast zu springen und auf mich loszugehen.
Es gelang mir, die Attacke zu vermeiden, indem ich die Kamera jählings sinken ließ und mich mit Worten und beschwichtigenden Gebärden entschuldigte. Wie Auge in Auge mit einem Raubtier trat ich langsam den Rückzug an. Wo nur, fragte ich mich erschrocken und entsetzt, blieb bei diesem Wüterich die sprichwörtliche karibische Gelassenheit?

Eine Straßenecke weiter hockte ich mich auf die Treppe eines Lebensmittelgeschäftes, klickte den Deckel aufs Kameraobjektiv und schüttelte sprachlos den Kopf.
„Almost gaan wrang, he“, der Junge lehnte über sein Fahrrad und grinste.
Noch so ein Gangsta, dachte ich mir.
„Tek ih saps mon, der wollte dir nur eine Lektion erteilen. Mi name Jamali, an yours?“
Ich blickte ihn an, lächelte gequält und erhob mich wortlos.
Jamali ließ nicht locker. Er schob sein Fahrrad neben mir her, wechselte von seinem Kauderwelsch auf Englisch und versuchte mich so in ein Gespräch zu verwickeln. Er wirkte zwanglos und nett, ich hatte keinen Grund, ihm zu misstrauen und erzählte ihm von meinem Abstecher in den Nationalpark.
Unvermittelt schien er meiner überdrüssig zu sein, schwang sich auf seinen Drahtesel und lachte. „Gud luck mon, si yuh latah.“ Dann machte er kehrt Richtung Dorf.

Stunden später, als ich vom Pizza’n’Love ins Freie trat, herrschte beidseits der Hauptstraße reger Betrieb. Restaurants, Bars, Internetcafés und einzelne Tourenveranstalter hatten alle noch geöffnet. Ein Schwall von Stimmen, Rock- und Reggaemusik, Gläserklirren und lautes Gelächter drangen aus den offenen Räumen. Satt in eine betörende Wohlfühl-Wolke gehüllt, trödelte ich mitten auf der Straße dorfauswärts.
„Pssssst, hey!“
Ich hatte den Typen nicht kommen sehen, plötzlich ging er mit wippenden Schritten neben mir. Im Licht der Straßenlampen erkannte ich ihn, es war Jamali, der Gangsta vom Nachmittag.
„Eh man, wha Gwaan?“
„He?“
„Was geht ab, wo gehst du hin?“
„Ich bin auf dem Heimweg und du?“
Er lachte. „Mi jus fine! Mir gehts gut. Komm, lass uns noch ein Bierchen trinken, ich habe eine Idee für dich!“
Ich zögerte, doch der Bursche brachte es fertig, mich vom Heimweg abzubringen und in die nächste Bar zu lotsen. Wohl war mir dabei nicht.
Nachdem wir zwei Stühle ergattern konnten, verschwand er in der Menge, um kurz darauf mit zwei vollen Gläsern wiederzukommen.
Es herrschte ein derartiger Lärm um uns herum, dass ich seine Worte kaum verstand, aber so viel konnte ich mitbekommen, dass er mit mir am nächsten Tag einen Trip in den Dschungel unternehmen wollte.
„Ich kann dir Dinge zu zeigen, die du vorher noch nie gesehen hast.“
„Und wohin soll es gehen?“
„Nicht weit, wir gehen von hier aus zu Fuß. Nur in den Nationalpark auf Wegen, die sonst kaum jemand kennt. Du wirst begeistert sein!“
„Willst du Geld dafür?“
„Shit mon nuh at all! Wah duh yuh tek mi fah?“
„Gut, einverstanden, morgen um halb sieben, ich werde dort sein.“
„Si yuh first light an nuh bi late!“
Er ließ den Rest seines Biers stehen, schwang sich mit einem Satz über das Geländer der Terrasse und verschwand um die Ecke.
Ich leerte mein Glas und wollte ebenfalls gehen.
„Hallo Sir!“ Ein älterer Tico mit umgebundener Schürze und einem vollen Tablett winkte mir zu und deutete mit dem Kopf auf unsere Gläser, dann zur Theke. „Die sind noch nicht bezahlt, okay?“

* * *

„Sir. Würden Sie sich bitte anschnallen? Wir befinden uns im Landeanflug nach Zürich.“ Die flight attendant riss mich lächelnd aus den Gedanken zu meiner Geschichte, bevor ich deren äußerst dramatisches Ende zu Papier bringen konnte.

Wochen später bat mich Wolfgang, Platz zu nehmen. Nach vielen Jahren gemeinsamer Lehrertätigkeit in einem Team hatte er den Posten als Schulleiter übernommen und in dieser Funktion saß er nun vor mir.
„Ich muss leider konstatieren, dass ich die Art und Weise, wie du deinen Weiterbildungsurlaub verbracht hast, nicht billigen kann.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Nach meinem Dafürhalten hättest du dich in deiner Auszeit intensiv mit Schulentwicklung auseinandersetzen können. Ich korrigiere mich: müssen. Von deinem belanglosen Auslandsaufenthalt kann unsere Schule in keiner Hinsicht profitieren.“
Die folgende Diskussion dauerte anderthalb Stunden – unsere weitere Zusammenarbeit noch vier Jahre.

* * *

Das Pappbechergefühl kehrte nie wieder, die Sehnsucht nach Finca Cristina und Limpiar el café hingegen sind geblieben.

 

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