Von Lauretta Hickman

2012
Es klopft an die Tür von Jayannas Elternhaus. Ein Mann aus der Stadt. Ihre Mutter weist sie an, ihm Tee zu bringen. Dann sprechen sie. Jayanna sitzt draußen bei den Hühnern im heißen Sand.
Nachdem der Mann gegangen ist, sagen ihr die Eltern, dass er morgen wiederkommt. Und sie mitnimmt. In die große Stadt, was für ein Segen! Sie wird arbeiten. Reichtum erwerben. Sie kann ihre Eltern unterstützen. Und in sieben Jahren, wenn sie siebzehn ist, hat sie ihre Mitgift zusammen. Und kann heiraten. Jayanna nickt. Es macht die Eltern glücklich.
Nachts weint sie sich in den Schlaf.

Anke ist wütend. Auf beide. Was haben sie ihr jahrelang für eine Komödie vorgespielt! Nur damit sie aufs Gymnasium geht und alles nach heiler Welt aussieht. Möge ihn der Schlag treffen mitsamt dem ganzen Geld! Und seine neue Freundin gleich mit. Und ihre Mutter nie wieder glücklich werden mit ihrer scheißunterwürfigen Harmoniesucht.
Anke weint sich in den Schlaf.

Die Welt sieht zu.

 

2015
Jayanna zittert. Heute morgen hat sie wieder weiße Fasern gehustet. Hat sie Fieber?
Nein, bitte! Nein, nicht! Nicht wieder heute Nacht. Nicht dieser Dämon von Aufseher. Keine Chance. Sie denkt an ihre Eltern. Das dürfen sie nicht wissen. Es bräche ihnen das Herz. Sie denkt an das Geld. Es hilft ihnen. Und ist ihre eigene Freiheit. Eines Tages.
Ihr heimwehwundes Herz und die Rippen, durch die stinkende dünne Matratze hart und rhythmisch zu Boden gepresst, schmerzen um die Wette. In der zugigen Halle sehen und hören die anderen Mädchen weg, erleichtert, davongekommen zu sein.
Heimweh.

Anke nimmt ihr selbst zubereitetes Frühstück zu sich. Es ist noch dunkel draußen. Mama ist schon zur ersten Pflegedienstkundin. Knochenjob. Abends ist sie immer so fertig, dass Anke sich nicht traut, zu sagen, dass sie abgehen will. Mittlere Reife und eine Lehre machen. Geht das Longsleeve noch? Anke riecht daran – ja, geht noch. Auch noch keine Löcher. Gut! Ihr Blick fällt auf das verwaschene Label: L.O.G.G. Was hatten sie ihr mit hämischer Genugtuung hinterher gerufen? „Leider.Ohne.Geld.Geboren.“ Wer bei H&M kaufte, war unten durch. Sie war keine „vielversprechende Einserschülerin“ mehr. Sie war ein Scheidungskind. Mit einer Working Class-Mama. Jeden Tag Spießrutenlauf. Noch im Dunklen verlässt Anke das Haus und geht zur Bushaltestelle.

Die ganze Welt schaut zu.

 

2018
Jayanna ist zu alt. Das verschont sie jetzt. Aber der Husten hört nicht mehr auf. Und sie ist viel zu dünn. So bekommt sie nie einen Mann. Einem anderen Mädchen haben sie angeblich ganze Baumwollknäuel aus dem Bauch geschnitten. Ein Jahr noch. Es bleibt ihr weniger als gedacht. Aber die Eltern haben überlebt.

Im Rahmen der Berufsorientierung spricht Alena Scott von FRSJ, Fundraising for Social Justice im Gymnasium in Augsburg. Sie stellt die Projekte vor, die sie derzeit vorantreiben. Sie erzählt von H&M, deren „Label for Graded Goods“ (L.O.G.G.) und dem Sumangali-Schema. Wie junge Mädchen, noch Kinder, aus den Dörfern geholt werden mit Lügen. Wie sie geglaubt werden, weil ohne Mitgift der Eltern kein Mädchen mehr heiraten kann und potentielle Ehemänner immer anspruchsvoller werden. Wie viele Mädchen schon gestorben sind. Wie viele noch drinstecken. Sie zeigt Bilder. Und dass FRSJ eine große Klage gegen H&M eingereicht hat. Anke ist elektrisiert. Etwas daran ist stärker als ihre innere Dunkelheit. Seit langer Zeit zum ersten Mal.
Nach dem Vortrag tritt sie an Alena heran.

 

2019
Hennes&Mauritz muss die Fabriken in Indien schließen.
Anke und Jayanna zieren stolz lächelnd das Titelbild des neuen FRSJ-Magazins.
Ihr gemeinsames Projekt unterstützt Mädchen darin, sich auszubilden, sicher in Städten wohnen zu können, unabhängig zu werden. Und es kümmert sich um die medizinische Versorgung der jahrelang missbrauchten Kinderarbeiterinnen.

Die ganze Welt passt auf!

 

2019
Ein geheimes informelles Treffen findet in Venezuela statt. Vertreter indigener Stämme treffen auf besorgte Philantropen, Technologen und Hacker. Das Treffen verläuft schwierig. Die Indigenen fühlen sich von der Technik bedroht, glauben, ihre Wurzeln festhalten zu müssen. Die Technologen und Philantropen sehen nur ungern in den Spiegel, der ihnen unbestechlich ihr natur- und lebensentfremdetes, nekrophiles Menschsein zeigt. Man rettet sich in Arroganz. Verständigung ist schwierig. Aber sie gehen mit einem Erfolg auseinander: sie wollen sich wieder treffen. Denn das haben alle verstanden: sie haben ein gemeinsames Ziel.

 

2019
Im Kongo werden alle Minen für Kobalt, Kupfer, Coltan und Gold geschlossen. Die industriellen Großminen, bis sie nachweislich und dauerhaft umweltverträgliche Mindeststandards implementiert haben. Die kleinen aufgrund von Kinderarbeit. Schadensersatzzahlungen werden für Schulen, Ausbildung, medizinische Versorgung und lokale Mikrokredite verwendet. Kinderarbeit ist ab sofort verboten, Zuwiderhandlungen werden empfindlich geahndet.

Walfänger werden an ihrer Tätigkeit gehindert. Die Wale werden gewarnt und verscheucht, die Schiffe eingekreist.

 

2020
Ein zweites Treffen der Philanthropen, Technologen und Hacker mit den Indigenen findet statt. Nach wie vor geheim. Mit mehr Teilnehmenden, diesmal in Brasilien. Tiefe Schmerzen und Verluste zeigen sich, auf allen Seiten. Die Diskussionen sind hitzig, Missverständnisse zahlreich. Mehrfach steht die Fortsetzung auf der Kippe. Man einigt sich auf erste Ziele und Handlungen. Und darauf, sich in kleinen Gruppen wechselseitig zu besuchen. Um voneinander zu lernen.

 

2025
Die Maschinen, die im Amazonas Regenwaldholz befördern sollen, sind führerlos geworden. Außer Kontrolle. Sie greifen Arbeiter, Militär und Polizei an. Niemand kann aufs Gelände. Bisher keine Lösung in Sicht. Lediglich Mitglieder indigener Stämme dürfen gefahrlos passieren. Sie sprechen mit den Bäumen. Und pflanzen neue.

Die ganze Welt überwacht das.

 

2026
Einige Kriege beenden sich von selbst. Bomben zünden nicht mehr. Panzer reagieren nicht. Missiles verschwinden im All. Drohnen machen, was sie wollen. Elektronisch-digitale Komponenten spielen verrückt, sind unsteuerbar geworden.

Weltweit kursieren auf einmal die gleichen seltsamen Ideen: Obergrenze für private Vermögen. Obergrenze für Firmenvermögen. Überschüsse gehen in einen transparenten Fonds. Limits für Monopole und Kapitalkonzentration. Mindestwohlstandsparameter für jeden Menschen: Ein Dach über dem Kopf, Bett, Zugang zu sauberem Wasser und vollwertiger Nahrung, Kleidung. Möglichkeit zu Bildung.
Eine selbstverwaltete Weltbörse der Menschen ist plötzlich als Prototyp im Netz. Angebot, Nachfrage, Bedarf und Überschüsse werden regional von den Menschen selbst eingetragen. Geplante Obsoleszenz soll abgeschafft werden. Nur echter Bedarf wird bedient, kein künstliches Bedürfnis mehr geweckt.

Eine digitale human library entsteht: Jeder Mensch auf diesem Planeten hat die Möglichkeit, in einem Dreiminutenstatement mitzuteilen, wer er ist, wo und wie er lebt, was dort gerade los ist und was gebraucht wird. Und seine Träume. 50 Millionen Statements aus der ganzen Welt sind bereits online.
Niemand weiß, wer die Urheber der Börse und der library sind. Beide sind nicht abschaltbar. Sie gehen nach wenigen Sekunden unversehrt erneut on.

 

Es gibt Revolten. Alte und neue Ordnung liefern sich letzte Schlachten auf dem Rücken der Weltbevölkerung.

Aber: Die ganze Welt sieht es!

 

2028
Europa brennt. Die ausgelaugte Bevölkerung geht auf die Straßen, müde von Armut, Einschränkungen, Biowaffen, social engineering, ungewählten Politdarstellern, Traumatisierungen, Nahrungsengpässen, Co²-Zertifikaten, rätselhaftem Massensterben, unbehandelbaren neuen Krankheiten, mieser medizinischer Grundversorgung und sinnlosen Kriegen.
Entgegen des Plans schreit sie nicht nach globaler Kontrolle. Sondern nach Eigenmacht und regionaler Selbstverwaltung. Die Masse ist durch Angst nicht mehr steuerbar.
Sie ist auch nicht mehr gegeneinander aufzubringen. Menschen finden plötzlich mehr Sicherheit in dem, was sie mit anderen verbindet anstatt von ihnen unterscheidet. Weltweit. Und sie trennen sich von denen, die trennen. Von denen, die mit Wohlstands-, Macht- und Priviliegienhierarchien ködern.
Der Köder schmeckt nicht mehr. Die Karotten baumeln im Wind.
Massenflucht in den Parlamenten.

Der Hase rennt.

Der Hase, seines Alphamonsterkostüms beraubt, rennt.
Der Hase, ohne Poolboy, Haushälterin und Bodyguard, rennt.
Der Hase, seines mit jahrzehntelangem Konsum erkauften Rechts “nicht zu wissen“ verlustig gegangen, rennt.
Um ein Leben, das ihm nie gehört hat.

 

https://www.youtube.com/watch?v=Uf_Ck9K-nPY

 

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Die Welt hat hingesehen.

 

V3 8560 Z