Von Lauretta Hickman

Winnie hustete rau. Auch sein Hals kratzte noch so wie heute Morgen.
Wenigstens war zum Feierabend die Optik schön. Für ihn: Feiersamstagmittag.
Diese Waldstraße mündete tatsächlich in einen Wald. Bläulichweiße Nebelschleier hingen heute darin, durchschienen vom mattgelben Licht einer müden Sonne. Winterromantisch, trotz der feuchtkalten Luft. Tat ihm gut gerade. Winnie seufzte.

Letzte Straße, letzte Kundin. „Diana Heinberg“. Seit kurzem neu in der 13, Mehrparteien. Hatte er noch nie getroffen, immer nur Einwurf bisher. Heute kam er mit gelber Post für sie, also Unterschrift. Hoffentlich war sie zuhause. Winnie hatte keine Lust auf Zettelchen, nochmal in die Filiale und den ganzen Verwaltungssalat. Müsste er heute nur ihretwegen.

Nicht zum ersten Mal hatte er den Verdacht, dass sein Rumgekränkel mit allgemeiner Unlust zu tun hatte. So sehr er sich und anderen das auch schönredete mit „den ganzen Tag draußen“, „ab Mittags Feierabend“ und „jede Menge Leute kennenlernen“. Wenn er ehrlich war, seit diesem Job verfestigte sich sein Eindruck täglich, dass die Welt voller Leute war, die er lieber nicht kennen lernen wollte.

Winnie bockte das Moped auf, holte Brief und Minipad aus dem Kasten, schloss den Helm ein, ging zur Haustüre und läutete bei Heinberg. Nach wenigen Sekunden hörte er Pfeifen und Rauschen, dann:
„Hallooo? Ja, wer ist da, bitte?“
Kinderstimme.

„Hier ist der Postbote. Brief für Diana Heinberg.“

Es quietschte noch einmal aus dem Lautsprecher, dann war es still. Nichts passierte. Aber das Kind klang jünger, das würde sie doch nicht alleine in der Wohnung lassen. Oder? Als Winnie zum zweiten Läuten ansetzte, summte der Türöffner.

Ganz nach oben, dritter Stock; gesprenkelte helle, etwas ungepflegte Steintreppe, kein Lift.
Auch das war längst kein echter Pluspunkt mehr: Fit durch Treppensteigen. Aber was sollte er sonst machen? Taxifahren? Gastro, Baumarkt? Auch da traf er überall die Menschen, die er bereits jetzt nicht näher kennen lernen wollte. Und das in viel größeren Massen. Da aber leider niemand seine Bilder und Skulpturen kaufte… Na ja, was heißt niemand? Letzten Monat hatte… Er langte, etwas außer Atem, im dritten Stock an. Das unterbrach die vertraute Denkschleife.
„Heinberg“ befand sich rechts. Winnie klingelte.

Die Türe öffnete sich. Vor ihm stand ein knubbeliger, etwa 6-Jähriger mit auffallend großen kornblumenblauen Augen, als wären sie der Kobold-Fantasie eines Puppendesigners entsprungen. Und mit rosigen Wangen, laufender Nase und einem blauverschmierten Mund. Ein etwas dunkelvioletteres Blau als seine Augen. Hinter ihm sah Winnie einen hellen nackten Flur und hörte, weiter entfernt und dumpf, so etwas wie Loungemusik. Oder das eben, was bei dem Schickifriseur in der Wattenfelder den ganzen Tag lief, wie immer das hieß.

Der Kleine sah ihn aufmerksam an und sagte nichts.

„Ist deine Mama da?“ fragte Winnie.

Der Kleine dachte nach.
Dann sagte er: „Ja. Aber sie macht Frekuäntshapping. Das macht sie dreimal am Tag. Da darf sie niemand stören.“

Bevor Winnie die Chance hatte, diese Information Richtung Sinn zu sortieren, tauchte von links eine spinnenartig schlaksige, geschätzt 13-Jährige auf. Mit größtenteils fuchsiafarbenen Haaren, die insgesamt so aussahen, als wären sie absichtlich verschnitten worden und einem blauviolett bekleckerten Teigschaber in der Hand. Unter der altmodischen Küchenschürze vollständig in Schwarz.
Sie verdrehte ihre jadegrünen Katzenaugen.
„Hopping. Es heißt hopping, Ove. Und das muss auch nicht jeder Wildfremde wissen.“

Zu Winnie gewandt: „Was gibt’s?“

Winnie sagte: „Ich hab hier ein Einschreiben für Diana Heinberg, das ist… eure Mutter?“

Beide nickten.

„Ich brauch dafür ihre Unterschrift.“

Die Tochter sagte: „Das ist jetzt gerade schlecht.“

Winnie hörte Geräusche aus Richtung der Musik.
Er war sich nicht sicher: war das Lachen? Weinen?
„Ist alles in Ordnung?“ fragte er.

„Ja. Ja, alles ok.“

„Einschreiben“, sagte Ove. „Die mag sie sowieso nicht. Das sind meistens Pfundungen.“

Seine Schwester verdrehte die Augen.
„Pfändungen. Es heißt Pfändungen, Ove.“

Ove nickte friedfertig. Und zog den Rotz hoch.

„Ohne ihre Unterschrift darf ich das nicht aushändigen. Alternative wäre, ich werfe einen Zettel in den Briefkasten, dann kann sie sich das Einschreiben nächste Woche am Postamt abholen.“

„Hm.“ Sie überlegte. „Ok. Moment.“

Sie drehte sich um, ging den Gang entlang und klopfte an die letzte Türe links.
„Mama?“

Ove wischte sich die Nase an seinem blaugrün-gestreiften Wollärmel ab und lief ihr hinterher.
Dann klopfte er auch an die Türe.

„Der Postmann ist da. Mit einem Einschreiben. Ist das von Papa?“

Seine Schwester sah ihn scharf an.
„Mann, Ove, jetzt halt doch mal die Klappe.
Mama?“

Sie öffnete die Türe. Die Musik schwappte laut und rhythmisch in den Gang.
Beide Kinder verschwanden im Zimmer.
Winnie blieb am Eingang stehen und wartete.
Kuchenduftschwaden begannen, zart den Flur zu füllen.
Sonst passierte nichts.

Winnie war sich unschlüssig. Einfach gehen – mit Verwaltungssalat? Selbst nach der Mutter schauen – obwohl es offiziell nicht gestattet war, die Wohnung zu betreten?
Kühn entschloss er sich zu Zweiterem.

Vorsichtig und langsam pirschte er den Flur entlang Richtung Türe, aus der die Musik flutete. Als er auf der Schwelle stand, überwältigten ihn kurzzeitig die Eindrücke: die Musik war laut; das Zimmer, in heftigen Magenta- und Orangetönen gehalten, fast überheizt; es roch intensiv nach Rosen, die Möbel waren an die Wand gerückt und auf einem Flokati bewegte sich, schlangenartig tanzend, eine schwitzende Frau. Lediglich bekleidet mit einem um Augen und Ohren gewickelten Schal. Und einem Slip.

Vor Winnie, weiter im Zimmer, am Rand des Teppichs stand Ove und sah ihr interessiert zu, dabei geduldig in der Nase bohrend.

Die Frau kreuzte jetzt ihre Hände über dem Brustkorb, legte den Kopf in den Nacken, und rief inbrünstig:
“Danke, danke, danke!“

Winnie war sich nicht sicher, ob sie dabei lachte oder weinte.
Möglicherweise beides.

„Me.Ga.Peinlich.“, kam es von rechts. Die Große verdrehte die Augen.
Dann rief sie, ziemlich laut: „MAMA!“

„Was?“, rief die Frau und riss sich den Schal herunter. „Ich hab doch gesagt, ihr sollt…“
Dann sah sie Winnie an, aus den gleichen großen, kornblumenblauen Augen wie Ove.
Ihm wurde ganz anders.
„Und wer sind Sie?“

„Einschreiben!“, sagte Winnie, nicht so geistreich.

Feurig, fordernd und verschwitzt fragte Diana Heinberg: “Von wem ist das?“

„Nehmen Sie denn an?“,fragte Winnie, um Zeitgewinn ringend. Und nach innerer und äußerer Autorität tastend.

„Ach, geben Sie schon her!“, sagte Diana und streckte ihre Hand aus.

„MAMA! Du bist na-hackt!“ Fast schrie die Große das heraus, mit jadesprühendem Funkengrün, dabei genervt-beschämt mit dem Teigschaber auf den Körper ihrer Mutter deutend.

Diana sah an sich herunter, sagte: “Ah! Ja. Stimmt. Magst du mir schnell den Lunghi von da drüben geben, Schatz?“

Dabei so unverständlich wie unverkennbar Missbilligendes vor sich hin murmelnd, reichte ihr die Tochter ein großes, buntes Stofftuch, dessen Enden sich Diana schnell und geübt im Nacken zusammenband. Nun sah sie aus, als trüge sie ein Strandkleid. Für Winnie kein Unterschied. Das Bild hatte sich für immer eingebrannt. Ihm war sehr warm. Das musste an diesem vermutlich einzig beheizten, wohl eher überheizten Zimmer liegen. Wenigstens drehte die Tochter jetzt die Musik auf Zimmerlautstärke.

„Ist das von Papa?“, fragte Ove erneut.

„Das werden wir gleich sehen, mein Schatz.“, sagte Diana.

Und: „Geben Sie her!“, zu Winnie. Dabei streckte sie die Hand aus.

Winnie wunderte sich über die Widerwilligkeit, mit der er ihr das Pad reichte. Sie unterschrieb, er gab ihr das Kuvert. Und – blieb stehen.

Diana riss den Umschlag auf. Sie entnahm das Schriftstück und las es, aufmerksam und konzentriert.
„Ha!“, schrie sie, laut und unvermittelt.

Winnie zuckte zusammen.

„Ha! Es hat funktioniert. Seht ihr? Ich habs gewusst. Lacht nie wieder über eure Mama!“
Wieder legte sie ihren Kopf in den Nacken, hielt das Schreiben gen Zimmerdecke und rief erneut, lächelnd und mit schweiß – oder tränennassem Gesicht, das war für Winnie nicht mehr unterscheidbar: “Danke, danke, danke!“

Dann umarmte sie ihre Kinder. Die Große nahm das eine Spur hölzern entgegen, Ove freundlich passiv.

„Was? Was ist denn?“, fragte die Große unruhig in die Umarmung hinein.
Und Ove gleichzeitig: „Ist das von Papa? Was schreibt er?“

„Indirekt“, sagte Diana, mit seliger Note im feuchten Gesicht.
Und diesen… kornblumenblauen Augen.
Sie löste die Umarmung auf, sah ihre Tochter an und sagte mit sich steigernder Begeisterung:

„Jetzt können wir aufs Land! In ein Haus. Mit Garten. Und du kannst dein Pferd haben. Endlich! Wir sind aus dem Schneider, Tabea! Stell dir vor: das Gericht hat uns aller Voraussagen zum Trotz eben doch die Hälfte aus sämtlichen Verkäufen zugesprochen!“

Nun fiel Tabea ihrer Mutter um den Hals. Und begann ebenfalls zu weinen.

Winnie fühlte sich sehr fehl am Platz. Gleichzeitig wie am Rand des Flokatis festgetackert.
Er wusste, er hätte gehen müssen. Längst.

„Die Blaubeermuffins!“, rief Tabea erschrocken. Damit riss sie sich aus der Umarmung und stob, sichtlich noch aufgewühlt, spinnenbeinig aus dem Zimmer.

„Die gibt es jetzt. Und Kaffee. Und Sekt dazu!“, sagte Diana, glücklich und bestimmt.
Sie nahm Ove an der Hand.

„Jetzt wird gefeiert. Aber so richtig! Und Sie sind mit dabei. Unser Glücksbote!“

Im Vorbeigehen gab sie ihm einen Hauch von Kuss auf die Wange.
Bereits im Flur rief sie ihrer Tochter hinterher: „Und du, geliebtes, wunderschönes Tochterkind, sag du mir noch ein einziges Mal, dass mein Frequenzhopping nicht funktioniert. Oder cringe ist. Was für ein wunderbarer Tag. Ich bin so glücklich, so glü-hüüü-cklich!“

Für eine Sekundenewigkeit blieb Winnie am gleichen Platz stehen, zu seinem eigenen Befremden unfähig, sich zu bewegen. In dem Moment, als er im bunten Blumenstrauß seiner Empfindungen die nebensächlichste bemerkte, nämlich, dass sein Halskratzen verschwunden war, sah Diana erneut ins Zimmer.

Sie sagte: „Kommste dann?“

 

 

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