Von Kornelia Wulf 

Gleißendes Licht dringt zwischen Lukas Wimpern. „Auweia. Ein Supernova-Strahlenmolch“, denkt er und hält den Atem an. Und schon krabbeln schuppige Krallen über seine innere Leinwand. Fahren Hornspitzen aus. Machetenscharf. Hangeln sich hinab an einem galaktischen Glühfaden, der über Lukas Nase baumelt. Das fiese Vieh faucht. Lauert. Will Lukas Augen aussaugen. Jungenaugen, besonders wenn sie blau in die Welt gucken, gehören zu seinen Lieblingsspeisen. Lukas spannt die Schläfenmuskeln an, presst die Lider aufeinander. Mit festem Druck bis die Ohren wackeln. Dann lässt er los, blinzelt vorsichtig durch die blank geputzte Scheibe. Er sieht die Sonne, die hinter dem Hochhauskasten auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufsteigt und sich wie eine goldene Kappe auf grauen Beton setzt.

Er hechtet aus dem Bett, kramt in der Schublade des Nachtschrankes zwischen den Jedi Rittern. Eng an Lukes Brust geschmiegt gähnt Prinzessin Leia, ordnet ihre Schneckenlocken, die im Frühsonnenlicht wie Mamas Bernsteinring leuchten. Sie zwinkert ihm dankbar zu, als er ihren Hintern vorsichtig von dem Drops befreit, der an Yodas Spitzohren klebt. Dann endlich hält er das Fernrohr in der Hand. Biegt das Bein von Darth Vader zur Seite, das sich wie eine klebrige Teerspur auf dem Messing ausbreitet. Ein Geschenk von Opa, der ihn mit Papa wieder ins Krankenhaus gebracht hatte. „Ein Zauberrohr“, raunte Opa, „du darfst es niemals verlieren. Wenn du seiner Kraft vertraust, kannst du Dinge erkennen. Dinge“, und seine Augen rollten, kreisten, als wollten sie aus den Höhlen springen, in eine andere Welt kugeln, „die nur du verstehst“. Und bevor die Zimmertür sich schloss, kitzelten Opas Kratzebartstoppeln noch einmal seine Wange. Lukas schleicht zum Fenster, lässt seinen Blick durch das Okular über fünf Stockwerke gleiten. Späht in jede Mauernische und jeden auch noch so entlegenen Schlupfwinkel. Dann atmet er auf. Die Luft ist rein. Das Vieh scheint zurück durch sein Wurmloch geschlüpft zu sein.

 

Ein dunkles Knurren vertreibt die Stille, übertönt die abgedämpften Geräusche auf der Kinderstation. Das knirschende Schaben, wenn Pfleger auf Gummisohlen über die Flure huschen. Und das Piepen der Patientenmonitore, auf denen sich endlose Linien krümmen, sich in krakelige Zacken verwandeln. Lukas schaut auf seine Uhr. 5 Uhr 10. Noch drei Stunden bis zum Frühstück. „Oh menno“, stöhnt er. Schnappt nach den beiden Spiegeleiern, die dampfend an seinen Augen vorbei fliegen und sich kichernd hinter dem Schrank verstecken. Er lüpft das Schlafanzugoberteil, betrachtet die Haut zwischen seinen Hüfthöckern, die in der Mitte einsackt wie ein nachlässig gespanntes Laken. Gestern noch steckte eine Nadel in Lukas Körper. Verbunden mit einem dünnen Schlauch und einem Plastikbeutel. Gefüllt mit dem Superkraftstoff. Ein geheimes Kampfgift! Es tropfte durch Lukas Adern. „Wir müssen die kranken Zellen in deinem Körper vernichten“, sagte Dr. Walter. Seine drahtigen Brauen stießen aneinander, bildeten für einen Moment eine Monitorlinie. Er streckte die Hand aus. „Gibst du mir dein Einverständnis?“, und Lukas schlug ein. In der Nacht träumte er von diesen Zellenwesen. Gefräßige Biester, gemein und gefährlich. Mit spitzen Zähnen, die wie Kettensägen in ihren pockigen Mäulern rollen. Sie wollen Lukas Gedanken fressen. Und dann wachsen sie. Schwellen an zu dickbäuchigen, schwabbeligen Monstern, die seinen Kopf in eine fette Melone verwandeln. Das Kampfgift sickerte durch Lukas Körper auf der Suche nach dem Feind. Plötzlich schwappte eine Flüssigkeit durch Lukas Magen. Schoss wie eine Fontäne in seinen Mund. Sie schmeckte bitter wie Radicchioblätter. Lukas hasst Radicchiosalat. Mama behauptet, dieses rote Gift sei gesund und zwingt ihn, jeden Tag Salat zu essen. Und dann schwelte es in seinem Bauch. Bis es explodierte. Lukas würgte  und kotzte, aber er hielt stand. Denn in seiner Brust steckt ein Kämpferherz.

 

Der Schein der Frühsonne zwängt sich durch das Fensterglas, wirft einen weißen Lichtstrahl auf das graublau getönte Linoleum. Lukas linst über den Flur. Hinter der Glastür des Schwesternzimmers sieht er Astrid, die Tabletten in buntes Plastik verteilt. Astrid gehört zu den Coolen. Kein anderer Erwachsener hätte sich so korrekt verhalten, wenn er Lukas und Leila erwischt hätte. Und er nimmt Anlauf, schliddert über die helle, spitz zulaufende Fläche. Stoppt mit quietschenden Sohlen unter dem Schmetterlingsmobile, das vor Nummer 200 auf weißem Resopal hin und herpendelt. Hier wohnte Leila. Bis gestern als es dunkel wurde.

 

Vom Sog der Einsamkeit absorbiert steht Lukas vor dem verwaisten Zimmer. Nur der Schwatz einer Dohle schwebt durch das gekippte Korridorfenster. Und plötzlich glaubt Lukas eine Eisenklaue zu spüren. Die durch seinen Leib fährt. Einen Klumpen Fleisch aus seinem Innern reißt.

 

Und für einen Moment fühlt er sich völlig leer wie eine alte verlassene Hülle.

 

Vor ein paar Tagen hatten sie sich vor ihrem Zimmer getroffen. Heimlich in der Nacht, als sie nicht schlafen konnten. Sie schlichen über Gänge und Treppen, kreuz und quer durch das Krankenhauslabyrinth. Bis sie den kleinen Raum neben der Glastür entdeckten, die zur Station 2B führt. „Schau mal“, Leila hüpfte von dem rechten auf den linken Fuß. Ihre Finger flatterten, während sie auf das Ausgussbecken hinter der Tür deuteten, das eckig  in den Raum ragte. An den Rändern der Wasserablauffläche schlängelten sich gelbbraune Streifen. „Wir experimentieren wie in der Schule“, krähte sie und als ihr Mund in Lukas Ohr flüsterte, ploppte es feucht seinem Gehörgang. „Bäh“, Lukas zog den Kopf ruckartig zurück, „Weiberspucke.“ Aber ihr Plan gefiel ihm. Echt spacig. Megaturbogeil. Sie zogen die Socken von den Füßen, stopften sie tief in die Abflusslöcher. Und um den Füßlingen das Schwimmen zu verbieten, zerrte Leila den Moonflummi aus ihrer Kängurutasche, platzierte den Koloss auf das Ringelwerk. Dann drehte Lukas den Wasserhahn auf, hielt sein Ohr an das Ablaufrohr. Und während seine Faust noch einmal fest nachdrückte, hörte er ein quietschendes Knatschen hinter seinem Rücken. Lukas fuhr herum, entdeckte Leila, die sich über einen Stuhl auf vier Rollen beugte. Sie ruckelte. Schwenkte einen Plastikdeckel durch die Luft und zog an dem Gummiband ihrer Schlafanzughose. Als wolle sie das Unterteil hinunterziehen. Mit beiden Händen die Lehnen umgreifend, hievte sie den Körper in die Höhe. Ihr dünner Hintern schwebte, wackelte. Bis er mit knarrenden Geräuschen auf dem Nachttopf landete, der in der Sitzfläche eingelassen war. „Iiih“, schrie sie, „ein Knackstuhl! Ein Kackstuhl!“. Und Lukas packte die Schiebegriffe, um mit Gejohle über den Flur zur rasen. Schon in der Kehrtwende konnte er die weißen  Betonbeine sehen, die sich fest in das Linoleum neben der Pfütze stemmten, die über die Schwelle der Putzkammer quoll. Als ihre Häupter sich vor Astrid duckten, rieselten spitze Steinchen in ihre Kehlen. „Los, zack, zack!“, schnarrte sie und drückte Aufwischtücher in ihre Hände. „In fünf Minuten will ich hier keinen Tropfen mehr sehen.“

Und dann. Kein Wort mehr. Als habe Astrid dieses blamable Ereignis in ein dunkles Tuch gehüllt. Ins All gekickt. „Jep man, echt obercool“, flüstert Lukas in den nickenden Flur hinein.

 

***

 

Der Uhrzeiger scheint am Zifferblatt festzukleben. Lukas stöhnt leise auf. Doch seine Miene hellt auf, als er den Porsche ganz hinten in der Schublade entdeckt.

 

Die Gummiprofile rollen…

scheinen schon abzuheben…

 

…als er noch einmal Ferdinands Stimme hört…

 

die in sein Ohr wehte. An diesem Nachmittag, an dem die Biester eine wilde Party feierten. Sie trampelten mit Springerstiefeln in seinen Eingeweiden herum, spuckten Kronkorken in seinen Hals. Lukas hatte sich in der schwarzen Kuhle versteckt, um die Zellenwesen einzuschläfern. Plötzlich drang ein roter Fleck in seine Festung ein, schwoll an zu einer Beule, die über Ferdinands Mund wackelte. Lukas Finger krallten sich fest in der Knollennase, drehten sie um ihre eigene Achse. „Hau ab!“, fauchte er. „Lass mich in Ruhe.“ Das Bett begann zu wackeln, er spürte den rauen Karostoff von Ferdinands Hose an seinen Fingern kratzen. Dann raschelte das Oberbett über Lukas Ohr. Es kitzelte auf seinem Kopf und ein verräterisches Glucksen ließ seine  Kehle beben. „Oho“, Ferdinands Stimme hauchte. „Soso. Endlich zweispurig!“ Und der Porsche flitzte über Lukas Schädelhaut mit mindestens 200 km/h. Ferdinand zog die Clownsnase über den Hut, drückte sie fest in Lukas Hand. „Pass gut auf sie auf“, raunte er. „Lumos acchio heißt der Spruch. Sie kann zaubern.“ In Lukas Bauch blubberte es. Die Biester ächzten und keckerten. Und transformiert in eine weiße Fahne, zogen sie sich jammernd zurück.

 

Plötzlich flutet ein Lichtstrom über Lukas Gesicht. Der Porsche schlägt scheppernd auf, als  ein rotglühender Punkt hinter der Sonne hervorschwirrt. Er malt Linien auf blassblauem Himmel. Dreht Pirouetten. Schlägt Salti wie ein übermütiger Kobold. „Leila“, Lukas lacht leise, „nie kannst du still sitzen.“ Seine Finger nesteln in der Schublade nach Fernglas und Gumminase. Spannen das Band um das Messingrohr und platzieren die rote Knolle vor die Linse. Lukas drückt das Rohr vor die Stirn, öffnet sein drittes Auge. Er atmet tief ein, bis das Sonnengespinst in seiner Brust zu knistern scheint. Ein kümmerlicher Strich stolpert in sein Blickfeld gekrümmt wie ein Wurm. „Sie kann zaubern“, Lukas hört Ferdinands Stimme. Sie summt in seinem Kopf. Und alle Muskeln auf Anschlag gestellt, gellt ein „Lu-Lu-Lumos acchio!“ durch den Raum. Und der rote Wurm fliegt, kringelt wie eine Luftschlange in die Höhe. Streckt sich aus. Lang. Schneidet eine Kurve. Zwei Lichtpunkte tanzen. Pulsieren. Streben aufeinander zu. Berühren sich. Fast. Daumennagelnah. Lukas Kopf hebt und senkt sich. Dreht. Kreist. Bis ein rotes Schriftband zwei wattige Wolken umschlingt. Strahlt und blinkt am Firmament. „Bald Leila, ganz bald. Morgen. Morgen ist Vollmond.“

 

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