Von Sarina Stützer
Die Frau kam nun schon den dritten Tag. Ihre Frage war immer dieselbe.
„Ist mein Mann auf der Liste?“
Chet und ich sahen uns an. Chet zuckte mit den Schultern und schwieg. Heute war anscheinend wieder ich dran mit antworten.
Ich versuchte, aufrichtig auszusehen. „Nein, Ma’am, tut uns leid.“
Sie tat mir wirklich leid. Sie konnte ja nichts dafür. Andererseits – sie war mit diesem Mann verheiratet, also war es irgendwie ihre eigene Schuld. So ein bisschen.
Sie zuckte zusammen, als in der Ferne ein Schuss zu hören war. Ihre Schultern sackten noch weiter hinab, sie drehte sich um und verließ wie die Tage zuvor stumm die Wache.
Chet ging zu seinem Schreibtisch und sortierte einige Notizzettel. „Es weiß doch jeder, worauf er sich einlässt“, brummte er. „Hinterher kriegen sie dann das große Heulen.“
Ich nickte und sah aus dem Fenster. Hinter dem hohen, durch Stacheldraht gesicherten Zaun war ein Baumstreifen mit dichtem Unterholz angepflanzt worden, um den Einblick von außen zu verwehren. Manchmal schafften es einzelne Insassen trotzdem bis zum Zaun in der Hoffnung, das Unterholz würde sie verbergen. Ein Trugschluss, wie wir aus eigener Anschauung wussten.
„Die Leute sind schon komisch. Sie spielen Lotto, obwohl die Chancen x Trilliarden zu eins sind, und glauben trotzdem, eines Tages den großen Gewinn zu machen“, sinnierte ich. „Und hier, wo die Chancen maximal zweitausend zu eins sind, glauben sie, sie kommen davon.“
„Eigentlich würde ich auch gern mal mitmachen“, sagte Chet unvermittelt.
Entgeistert sah ich ihn an.
„Nicht im Lostopf, auf der anderen Seite. Ich bin ein ziemlich guter Compound-Bogenschütze.“
Uns als Angestellten war die Teilnahme untersagt. Manchmal reizte es mich ebenfalls, schließlich war ich mit meinem Kleinkalibergewehr auch nicht schlecht. Manchmal allerdings dachte ich, es sei unmoralisch. Zum Glück hatte unser Arbeitgeber uns die Entscheidung abgenommen. Von denen, die mitmachen durften, wurde eine bestimmte Anzahl ausgesucht, nachdem sie sich beworben und nachgewiesen hatten, dass sie nicht in den anderen Lostopf gehörten.
„Womit hat es sich unser Kandidat eigentlich verdient?“, fragte Chet.
Ich setzte mich an den Computer und tippte den Nachnamen ein, den uns die Frau genannt hatte.
„Schraubenziege, auch Markhor genannt, lateinischer Name Capra falconeri“, las ich vor. „Letzter gesicherter Bestand zweitausend Exemplare.“
Chet schnaufte verächtlich. „Bei Beständen unter zehntausend verdoppelt sich die Chance im Lostopf, bei unter fünftausend verdreifacht sie sich. Was hat dieser Loser erwartet? Wenn es ihm schon so wichtig war, ein seltenes Tier abzuschießen, dann soll er gefälligst jetzt auch die Konsequenzen tragen.“
Das System war eingeführt worden, als die Tierbestände global dramatisch eingebrochen waren, um reichen Jägern trotzdem noch ihr Hobby zu ermöglichen: Sie zahlten einen sechs- bis siebenstelligen Geldbetrag für die Erlaubnis, ein Tier einer bestimmten Tierart abzuschießen. Dann wurde ihr Name in einen Lostopf geworfen, je nach Seltenheit der bejagten Tierart mehrfach. Die „Gewinner“ landeten bei uns.
Am nächsten Tag kam die Frau wieder.
„Ist mein Mann auf der Liste?“
Ich schüttelte den Kopf. Sie ging nicht sofort wieder, sondern öffnete den Mund, wollte wohl noch etwas sagen. Chet runzelte die Stirn. Ich legte die Hand auf seinen Arm und wandte mich der Frau zu.
„Es ist nun schon der vierte Tag“, sagte ich. „Nach sechs Tagen ist diese Runde vorbei. Er hat doch immerhin eine Überlebenschance.“
„Mehr als die bedrohten Tiere“, hörte ich Chet zwischen den Zähnen hervorstoßen. Chet hatte schon den ganzen Morgen schlechte Laune, schlecht geschlafen oder so.
Ich sprach schnell weiter, in der Hoffnung, dass sie es nicht gehört hatte. „Alle, die hier jagen dürfen, sind ja reine Hobbyschützen. Das Gehege ist groß, und nachts ist Jagdpause.“
Sie begann zu schluchzen. „Aber mein Mann und die anderen sind doch alle nackt und unbewaffnet“, stieß sie hervor.
„Nun ja,“, sagte ich und fasst sie am Ellenbogen, um sie nach draußen zu begleiten. „Jeder, der sich eine dieser Jagdlizenzen kauft, weiß doch, worauf er sich einlässt, nicht wahr?“
Ich befürchtete, wenn sie noch länger bliebe, würde Chet unfreundlich werden, und das durfte unseren Kunden gegenüber natürlich nicht passieren. Ich wollte nicht, dass er wegen so einem seinen Job verlor. Seine Frau verdiente nicht genug, um die Familie allein zu ernähren. Außerdem arbeitete ich gern mit ihm zusammen.
Nachdem ich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, setzte ich mich wieder an den Computer und atmete auf.
Diejenigen, die es erwischte, wurden in den nächtlichen Jagdpausen herausgeholt, ihre Namen registriert und die Angehörigen benachrichtigt. Der Mann unserer Besucherin tauchte auf dieser Liste nicht auf. Wir hatten sie nicht angelogen.
Chet ließ seinem Unmut nun freien Lauf. „Um eine seltene Bergziege abzuschießen, hat es gereicht, aber sich hier gleich am ersten Tag erhängen! Dieser erbärmliche Feigling! Jemand sollte es ihr endlich sagen.“
Ich zog den Papierstapel mit den Meldungen über die Abgänge zu mir, um sie zu bearbeiten. „Das sollen mal schön die da oben machen“, sagte ich. „Wir machen hier schließlich nur unseren Job.“