Von Winfried Dittrich

Normalerweise steigt um diese Uhrzeit hier niemand mehr zu. Außer, ab und zu, diese große Blonde. Bei mir heißt sie „Spagatbarbie“, denn ich glaube, sie arbeitet im Rotlichtviertel bei der Endstation. Zwielichtige Gestalten drücken sich dort abends immer herum. Manchmal sogar auf dem Pendlerparkplatz, wo mein Auto steht. Solche Typen, wie die vier, die nun eingestiegen sind, um noch diese eine Station mit der U-Bahn mitzufahren.

Einmal wird es hinter den Fenstern noch dunkel, und dann fahren wir in die letzte Haltestelle ein. Es war ein langer Tag im Labor, und ich möchte nach Hause. Aber daraus scheint heute so schnell nichts zu werden. Der Zug hält an, und die Geräusche, die solch ein Fahrzeug für gewöhnlich macht, verstummen. Kein Surren, Rauschen oder Brummen ist mehr zu hören. Dafür höre ich die Schritte meiner Mitfahrgäste, die sich offensichtlich auf mich zu bewegen. Plötzlich wird es duster. Die Beleuchtung verlischt. Man packt mich, zieht mich hoch und drängt mich in Richtung der Türen. Gleichzeitig stülpt mir jemand ein Textil über den Kopf. Es ist aber kein herkömmliches Kleidungsstück, sondern eine Art Schlauch, der mit einem Zugband an meinem Hals fixiert wird.

»Können Sie noch atmen, Herr Professor?«, fragt man mich. Ich nicke. Irgendwie bringe ich kein Wort heraus.

Man hört, wie sich die Schiebetüren öffnen, und ich werde nach draußen geführt. Über eine an die Wagenseite positionierte Treppe geht es zuerst herunter auf die Gleise, dann anscheinend in einen anderen Tunnel. Ich höre meine Entführer sagen, dass der Zugführer das Abstellgleis wieder frei machen und den Zug in den Regelbetrieb zurückbringen muss. Er und der Fahrdienstleiter gehören anscheinend mit zu der Truppe, die diesen Auftrag ausführt.

Nach einigen Gehminuten, die ich bei zwei der Gestalten untergehakt verbringe, verlassen wir den Tunnel, und ich gehe drei hohe Stufen hinauf. Ich werde in einen winzigen Raum geführt, in dem ich kaum meine Arme ausstrecken kann. Dort werde ich hingesetzt. Die Sitzfläche gibt nach. Es fühlt sich so, als ob sie aus dünnem Kunststoff besteht. Ein Motor startet. Ich befinde mich wohl in einem Kraftfahrzeug. Es setzt sich langsam in Bewegung.

Wir fahren durch die Stadt, Stop-and-go, über Land, eine kurvige Strecke, auf der Autobahn, der Antrieb brummt angestrengt-stetig. Das meine ich wahrzunehmen. Dauernd knarzt und rumpelt es um mich herum. Ich höre auch Wasser glucksen. Irgendwann halten wir an, meine Reisebegleiter steigen aus.

»Erstmal eine rauchen, und dann kümmern wir uns um den Prof.«, höre ich von draußen. »Will einer Kaffee? Dreh’ mal den Gashahn auf.« Es folgt ein Rumpeln, ein Brummen, Wasser läuft, es pfeift ein Kessel. Dann nehme ich Kaffeeduft wahr. Plötzlich öffnet sich die Tür neben meinem Bein.  

»Milch und Zucker, Herr Professor?« Als mir der Sack vom Kopf gezogen wird, blicke ich in einen Spiegel. Neben mir hängt ein kleines Waschbecken aus Kunststoff. »Oder wollen Sie erstmal auf Klo? Dann müssen Sie nur einmal aufstehen.« Ich nicke und stehe auf. Der Entführer klappt den Toilettendeckel hoch, auf dem ich gesessen habe und betätigt einen Hebel. Dann nimmt er mir die Fesseln ab, die mir noch vor Fahrtantritt angelegt wurden, und schließt die Tür hinter sich. Als ich mich wieder setze, steigt mir Chemietoilettengeruch in die Nase. In den folgenden Momenten der Entspannung blicke ich nach oben. Dort ist eine Dachluke mit einem Fliegengitter, durch die Licht hineinfällt. Wir müssen die ganze Nacht durchgefahren sein. Wo sind wir bloß?

Endlich darf ich mein kleines Gefängnis verlassen, und werde an einen kleinen Tisch neben einem Fenster gesetzt. Ich blicke auf ein leeres Hafenbecken. Hinter dem Industriehafen liegt das Meer. Kein Schiff am Horizont. Ich sehe nur einen kleinen gelben Vogel vorbeifliegen. War das ein Pirol?

»Was wollen Sie eigentlich von mir?« Der erste Kaffee scheint mir gut zu tun. »Was haben Sie mit mir vor?«

»Es geht um das Pullum Triplex.« Jetzt habe ich ein Problem. 

»Sie werden für unsere Organisation arbeiten, Herr Professor Winkelmann. Sie werden für ein geheimes Ernährungsprogramm arbeiten. Mehr müssen Sie nicht wissen.« 

Das sind also Söldner, die mich entführt haben. Er deutet aus dem Fenster auf das Hafenbecken. 

»Dort wird gleich ein kleines U-Boot auftauchen, das Sie raus auf die hohe See zu unserem Mutterschiff bringen wird, mit dem Sie dann weiter zur Forschungsbasis fahren. Ihrer Familie werden wir mitteilen, dass Sie im Labor mit einem neuartigen Erreger in Kontakt gekommen sind und deshalb für vier Wochen in Isolation gehalten werden. In ein paar Stunden dürfen Sie zu Hause anrufen. Hüten Sie sich davor, einen Hinweis zu geben! Wir verstehen keinen Spaß.« Nein, jetzt habe ich ein Problem.

Im Studium hatte ich mal einen Fachartikel geschrieben, in dem bis ins Detail erläutert wurde, wie man Schweinefleisch bei fehlender Kühlung möglichst lange frisch halten könnte. Das kam, nachdem in unserer Studentenbude der Kühlschrank kaputt gegangen war, und wir an einem einzigen Abend den darin eingelagerten Biervorrat vor dem Verderben beziehungsweise vor dem Erwärmen retteten. Zusammen mit meinem Mitbewohner, einem befreundeten Studenten aus der Veterinärmedizin, spannten wir damals das Szenario auf, man besäße ein schlachtreifes Schwein, aber keinen Kühlschrank. Da wurden wir sehr kreativ und produktiv. Ausgehend von der Annahme, dass das Schwein im Falle einer Schlachtung nicht rechtzeitig verzehrt werden könnte, dachten wir uns Wege aus, das Schwein nach und nach zu amputieren und am Leben zu erhalten, um so möglichst wenig Fleisch dem Verderben preis zu geben. 

Damals schickten wir den Artikel an mehrere Fachblätter. Eines davon veröffentlichte ihn dann Anfang am ersten Tag des zweiten Quartals. Die Bedeutung des Veröffentlichungstages wurde zunächst nicht von allen Interessierten wahrgenommen, obwohl wir sogar den Vorschlag mit aufnahmen, ein Gen der Steinlaus in das Schwein einzubauen, um ein schmerzfreies Entfernen der Körperteile zu ermöglichen. Die Steinlaus kann ja keinen Schmerz empfinden; die gibt es ja gar nicht. Diversen Anfragen von Zeitungen mussten wir den Hintergrund erst einmal erklären.

Etwas Ähnliches steht mir nun wieder bevor. Denn das Pullum Triplex habe ich mir ausgedacht, nachdem sich meine drei Kinder erst um die beiden Bollen, dann um die beiden Bruststücke, dann um die beiden Flügel eines Brathähnchens stritten. Meine Älteste ist in der zweiten Klasse, lernt gerade die ersten Lektionen der Divisionsrechnung, und wies immer wieder darauf hin, dass man die Zwei nicht durch drei teilen könne. Und dann machte meine Mittlere die Bemerkung, dass ich als Professor für Gentechnik doch bestimmt eine Lösung finden könnte. Na ja, und da habe ich mir dieses Hähnchen ausgedacht, das mit drei Bollen, drei Bruststücken und drei Flügeln auf die Welt kommt. Mit Vicco, meinem Mitbewohner, bin ich weiterhin befreundet. Ihm erzählte ich irgendwann bei einem Bier davon, und so wurde zum ersten April erneut ein Scherz-Artikel daraus.

Anscheinend hat auch dieser Menschen erreicht, die keinen Spaß verstehen. Und deshalb wird es ab jetzt für mich, wenn ich lebend aus diesem Wohnmobil und dieser Verwicklung herauskomme, nur noch einen Zweiunddreißigsten März geben.

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