Von Petra Bobbenkamp

Nur noch sieben Tage bis zur Prüfung, wir müssen jetzt noch einmal richtig Gas geben im Kurs. Jetzt zählt jede Minute, denn schon am kommenden Freitag gehen die Teilnehmer des Deutschkurses in ihre B2-Prüfung und diese Prüfung stellt Weichen für ihr Leben. Das Ergebnis entscheidet über ihren weiteren Weg. Bekommen sie einen zusätzlichen Sprachkurs? Erhalten sie den deutschen Pass, die Niederlassungserlaubnis oder wenigstens einen mittelfristigen Aufenthaltstitel? Wird die berufliche Qualifikation aus ihrem Heimatland in Deutschland anerkannt? Dürfen sie eine Arbeit aufnehmen? Dürfen sie eine Ausbildung beginnen? Oder fallen sie gänzlich aus dem System heraus und sind auf ihrem weiteren Weg völlig auf sich allein gestellt? Es gilt, den Fahrplan des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der Prüfungszentrale, der telc gGmbH in Frankfurt, ohne Umwege und ohne Verspätung einzuhalten.

Pünktlich um 8.30 beginnt der Unterricht. Alles ist wie immer. Die meisten sind bereits einige Minuten vor Unterrichtsbeginn im Raum, einige stehen noch rauchend auf dem Bürgersteig, sehr zum Ärger der Kolleginnen, die in der ersten Etage arbeiten, da der Zigarettenqualm direkt durch die darüberliegenden, geöffneten Fenster zieht, und andere laufen laut telefonierend auf dem Flur hin und her und versuchen ihr neues Leben in Deutschland auf den richtigen Weg zu bringen.

Zwei Teilnehmer fehlen. Yana hat sich für heute abgemeldet, da sie sich um ihren kranken Sohn Nikita kümmern muss, der erst vier Jahre alt und häufig krank ist, seit er den Kindergarten besucht. Und Ahmed fehlt schon wieder, dabei hätte gerade er das Lernen bitter nötig. Er möchte gerne eine Ausbildung zur Fachkraft im Fahrbetrieb beginnen und hat sich bereits mehrmals bei den örtlichen Verkehrsbetrieben beworben, aber genauso häufig eine Absage erhalten, da seine Sprachkenntnisse noch nicht ausreichen. Er benötigt das Zertifikat Deutsch B2, um in seinem Traumberuf durchstarten zu können.

Wir haben schon die Hausaufgaben besprochen und sammeln gerade die Redemittel für die freie Textproduktion in der anspruchsvollen schriftlichen Prüfung, als die Tür auffliegt und Ahmed hereinstürzt. Er ist ein äußerst sympathischer Typ, dem niemand böse sein kann. Doch heute bin ich ziemlich wütend auf ihn, obwohl er uns bei seinen zahlreichen, wiederkehrenden Verspätungen stets freundlich mit „Guten Morgen“ begrüßt und sich entschuldigt. Aber heute geht er zu weit, er schießt über das Ziel hinaus und kein Prellbock kann ihn stoppen.

„Entschuldigung, die U-Bahn hat sich verfahren und ich musste 15 Minuten laufen!“ ruft er in meine Richtung, zieht dabei seine Jacke aus und nimmt gleichzeitig das Lehrbuch aus seiner grünen Umhängetasche.

Für heute lasse ich das Thema Verspätung ruhen, denn ich bin so wütend, dass ich sprachlos bin, was nicht sehr häufig bei mir vorkommt. Für den Rest des Tages versuche ich, mir meine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen.

Am nächsten Morgen beschließe ich beim Frühstück, keine Spur von Verständnis mehr für Ahmeds Ausreden zu zeigen. Mein Blutdruck steigt bereits vor dem ersten Kaffee. Sollte Ahmed heute wieder zu spät kommen, pfeife ich ihm etwas oder ich stelle ihn einige Zeit aufs Abstellgleis. Da höre ich den Briefkasten scheppern. Prima, unsere Zeitung ist schon da. Ich liebe es, beim Frühstücken die Zeitung zu lesen.

Der heiße Kaffee dampft in meiner Lieblingstasse, die ich letztes Jahr aus der ukrainischen Hauptstadt mitgebracht habe. Abgebildet ist die Metro-Station Arsenalna in Kiew, die tiefste Metro-Station der Welt.

Neugierig schlage ich den Lokalteil auf. Die Schlagzeile auf der ersten Seite muss ich mehrmals lesen, um sie vollständig zu erfassen. „Weiche falsch gestellt – frisch ausgebildeter U-Bahn-Fahrer verfährt sich auf Linie 3“. Ungläubig lese ich den Artikel wieder und wieder. Unglaublich. Wenn sich dieser junge Fahrer nicht verfahren hätte, wäre Ahmed am Vortag pünktlich gewesen und das Wichtigste – er hat gar nicht gelogen.

Nach einem Blick auf meine Uhr springe ich auf, ich muss mich beeilen, sonst verpasse ich meinen Bus und ich möchte meinen Teilnehmern doch ein gutes Vorbild geben.

Schnell und auch ein wenig beschämt versehe ich den Zeitungsartikel mit dem aktuellen Datum, schneide ihn aus und stecke ihn zu meinen Unterrichtsmaterialien in die bunte Mappe. Rasch noch sechzehnmal kopiert nehme ich den Text mit in den Unterricht und setze ihn als Konjunktiv I-Wiederholung ein. Die indirekte Rede mit dem Konjunktiv I steht sowieso für heute auf dem Plan.

Als wir den Artikel vollständig umformuliert haben und ich mich sehr zufrieden mit den Leistungen der Teilnehmer zeige, obwohl die Formen manchmal noch kreativ bis abenteuerlich gebildet wurden, meldet sich Ahmed zu Wort: „Ich habe noch eine Frage bitte: Gibt es einen Unterschied zwischen diesen Sätzen: Er sagte, die U-Bahn habe sich verfahren. Und er sagte, die U-Bahn hätte sich verfahren?“ Er blinzelt mir mit dem rechten Auge zu und lächelt mich freundlich an. Ebenso freundlich gebe ich das Lächeln zurück und stelle seine Frage zur Diskussion. Agnieszka meldet sich, wartet aber wie so häufig nicht ab, sondern ergreift sofort das Wort. „Na klar, wenn du „habe“ sagst, dann glaubst du dem Sprecher, das ist Konjunktiv I für indirekte Rede, wenn du „hätte“ sagst – das ist Konjunktiv II Irrealis – denkst du Lügner.“

Ich schwanke zwischen einem gewissen Schamgefühl und dem Drang laut zu lachen, stimme ihr daher rasch zu und verweise auf das nächste Grammatikthema für den kommenden Tag. „Morgen möchte ich mit Ihnen die Modalverben „wollen“ und „sollen“ mit subjektiver Bedeutung wiederholen.“

Ahmed zwinkert mir ein weiteres Mal zu und strahlt mich an. Er rudert mit dem rechten Arm wild in der Luft herum und ich kann gar nicht anders, als ihn aufzurufen. „Ja, Ahmed?“

„Ich habe schon ein Beispiel: Die U-Bahn soll sich verfahren haben. Das bedeutet: Jemand behauptet, dass sich die U-Bahn verfahren hat.“

Am Morgen schrecke ich gegen zwei Uhr schweißgebadet aus einem Alptraum hoch, an den ich mich nur teilweise erinnern kann. In diesen Traumfragmenten wiederholen wir im Kurs die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache für Vermutungen. Ich sehe und höre noch deutlich, wie Ahmed grinsend das Beispiel „Die U-Bahn wird sich wohl verfahren haben“ vorträgt. Und ich der Pause verteilt er Süßes, das seine Frau gebacken hat. Ich kenne dieses Gebäck, denn ich kaufe es auch häufig bei meinem Lieblingsbäcker in der Bahnhofstraße. Schon als Kind liebte ich die sogenannten Eisenbahnschienen, dieses geschichtete Mürbeteiggebäck, dessen Aussehen an Schotter und Gleise erinnert. Gekrönt von Konfitüre und Zuckerguss – einfach himmlisch. Teuflisch dagegen erscheint mir Ahmeds Lachen.

Meine Unterrichtspläne für die nächsten Tage entgleisen und ich komme mir orientierungslos vor. Offensichtlich führt kein Weg aus dieser verfahrenen Situation heraus. Vielleicht sollte ich mal für ein paar Tage aussteigen!

 

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