Von Maria Lehner

„Ach“, seufze ich zur Tür hereinkommend, „jetzt ist also auch das Tischtuch lila gemustert“. Bald würde alles lila sein. 

„Genau“, sagt meine Frau bitter, „nur in Lila halten wir es überhaupt aus hier. Deine Schnapsideen: Ein Haus mit 200 Quadratmetern um den Preis eines Mini-Appartements – und das in einer Großstadt! Wie naiv kann man sein? Was glaubst du, warum das so billig war?“ zischt sie. „Rundum kein anderer. Das nennen die dann Streusiedlung. Nur Straßen, aufgelassene Fabriken, unter uns die U-Bahn und ich-weiß-nicht-was. Ein Garten, in dem kein Obstbaum und keine Blume gedeiht. Aus der Erde quillt schwarzes Fett hervor. Wir sind alle drei depressiv. Außer dir, du bist tagsüber nicht in diesem Wohn-Elend“. 

Sie übertreibt maßlos, finde ich. Wen meint sie mit „alle drei“ – sie sind ja nur zwei, wenn man mich abzieht? Den depressiven Papagei? Nein, dann wir sind doch vier, denn ich habe auch Depressionen: Lila Tapeten, Teppiche, Seidenblumen, Polstermöbel. Mir ist schon so lila zumute!

 

Ich versuche wieder vergeblich, die Vorzüge von Schwarzgrub aufzuzählen. 

Dann mein Sohn: „Ist dir klar, warum ich nie Freunde einlade? Ich will nicht, dass sie wissen, wo wir wohnen!“ Das hat er von meiner Frau. Die will auch niemandem unsere Adresse verraten.  „Es ist eine Scheißgegend“, meint er. Das „Na, na!“ verkneife ich mir, oft ist ignorieren besser. „Was glaubst du, warum ich mit dem Rad fahre und nicht mit der U-Bahn?“ („Weil du cool sein willst?“, denke ich, sage es aber nicht). 

Doch er beantwortet die rhetorische Frage ohnehin selbst: „Wegen der Geschichten von der weiß glänzenden U-Bahn. Die Geisterzüge fahren, ohne zu halten, durch die Stadt. Einer wollte nur bis zur nächsten Station fahren und war eine ganze Woche lang unterwegs, ein anderer verschwand ganz. Nur Tote steigen in Schwarzgrub aus. Das hat meinem Freund ein Freund erzählt“.

 

Ich werde wütend, denn für so unkritisch hätte ich ihn nicht gehalten. „Wenn eine Geschichte schon so anfängt: ein Freund eines Freundes … Urban Legends! Was glaubst du“, schnaube ich, „was du zu sehen kriegen würdest da unten? Zombies, Roboter?“. 

Meine Frau, giftig: „Fein! Mach ihm nur noch mehr Angst. Irgendwann kommst du heim und wir sind weg!“

 

„Schalten wir doch einen Gang runter“, lenke ich ein, „Ich schlage vor, wir machen eine Tour durch die unterirdische Welt der U-Bahn. Man kann das alles besichtigen“. Meine Frau zischt verächtlich. Zumindest mein Sohn schaut gelangweilt-interessiert von der Seite her. 

 

Ich hole aus: „Diese Garnituren sind ehemalige Testzüge, deshalb bleiben sie weiß. Jetzt setzt man sie manchmal als Backup-Zug im normalen Betrieb ein, besonders zu Stoßzeiten oder wenn andere Züge ausfallen“. Meinen Sohn „habe“ ich damit fast. 

Meine Frau schließt die lila Vorhänge, und legt eine lila Decke über den Käfig. Der Elendsvogel krächzt mantra-artig sein „weeeg-weeeg-weeeg“, das er wohl von meiner Frau gelernt hat.  Kann man auch Tiere hysterisch machen? Meine Frau geht zu Bett. Eine Gute Nacht wünscht sie mir auch heute nicht. So freundlich sind wir schon lang nicht mehr miteinander.

 

 „Was ihr Geheimtunnels nennt, sind wahrscheinlich Wendegleise, und Verknüpfungen zwischen einzelnen Linien“, setze ich fort. Mein Sohn scheint zumindest im Moment besänftigt und geht schlafen. 

 

Als verantwortungsvoller Vater will ich nicht riskieren, dass mein Sohn vielleicht doch eine Wahrheit, die ich nicht kenne, von jemand anderem erfährt, deshalb befrage ich „Doktor Google“. Ich navigiere von Seite zu Seite und bin plötzlich irgendwo. Dort ist die Rede von einem „kriegswichtigen Betrieb zur Energieversorgung im unterirdischen Gelände der heutigen Streusiedlung Schwarzgrub“. Sollte da etwas dran sein? Ich werde dem nachgehen, was uns von da unten so zusetzt, uns vieren. 

 

Nachdenklich gehe ich zu Bett. Es ist nach Mitternacht. Prompt verschlafe ich am nächsten Morgen. Das Haus ist ruhig. Sind meine zwei schon unterwegs? Der Vogel glotzt – wie immer – stur aus dem Fenster und fixiert ein unsichtbares Monster im Garten. Zum Frühstücken nehme ich mir keine Zeit; ich schreibe einen Zettel: „Wir sollten heute Abend unser Gespräch weiterführen; da finden wir ganz sicher eine Lösung für uns alle. Habt einen schönen Tag, Papa/ Helmut“.

 

Ausgerechnet heute springt das Auto nicht an. Zu spät bin ich auch. Bleibt also – die U-Bahn. Na, wenigstens kann ich mir jetzt ein Bild machen. Am Bahnsteig schreibe ich noch schnell ein paar WhatsApp-Nachrichten wegen meiner Verspätung und steige ein, ohne aufzuschauen. Da: der metallfarbene Boden! So soll es doch in den Geisterzügen aussehen?! „Die Weiße!“ denke ich und muss grinsen. Das mir. Als wollte mich das Schicksal necken. 

 

Die Fahrt fühlt sich vollkommen „normal“ an. Leute sehe ich mir grundsätzlich nicht an, wozu hat man sein Smartphone? Die U-Bahn hat an einer Station nicht gehalten, ich sehe die Lichter davonhuschen. Die Funkverbindung bricht ab und es wird kurz dunkel im Waggon, nur mehr der Lichtkegel der Scheinwerfer durchschneidet die Finsternis. Dann geht das Licht an. Jetzt bemerke ich: Im Zug ist niemand außer mir. Das ist alles sehr seltsam, aber: im Inneren des 350 Kilometer umfassenden Systems mit mehr als 220 Stationen und manchen äußerst tief gelegenen Tunnels ist es eben spooky. 

 

Ein kurzes Zischen der Bremsen, dann Stille. Leichtes Ruckeln, die U-Bahn fährt über eine Weiche und hält in einem eckigen Betonschlauch. Die Schienen führen bis zu einem Prellbock, dahinter ist eine Wand. Ich steige aus. Eine Rampe, eine Treppe.  Irgendwie bin ich falsch hier. Da ist ein Schild „Schwarzgrub II“. Ich werde unterirdisch zurückgehen und die nächste U-Bahn nehmen.

 

Später erzähle ich im Büro, wie es weitergegangen ist. Unser Praktikant murmelt: „Das möchte ich auch sehen – wo war die Einstiegstelle?“ Und die zynische Kollegin fragt, ob ich Rum mit Tee gefrühstückt habe. 

 

„Ja… es war so – ich verlaufe mich im Labyrinth. Da waren Ratten, riesengroß wie Hunde.  Und Menschen, falls man sie so nennen kann. Der Auswurf der Großstadt. Jeder verteidigt sein Revier. Sie streunen durch die düsteren Tunnels und Gänge, hie und da Feuerstellen. Alles, was ich ihnen anbiete, um mich nach oben zu bringen, hat für sie keinen Wert: Geld, Mobiltelefon, Uhr… das braucht man unten nicht“. 

 

Ich hatte bisher nicht bemerkt, dass – da meine Bürotür immer geöffnet ist,– schon fünf Kollegen in meinem Zimmer stehen und gebannt lauschen. „Und da treffe ich auf den uralten Mann, bestimmt über Neunzig. Der hat hier im Krieg einen Betrieb betreut und lebt immer noch hier. Er sagt, das Atomkraftwerk zur Stromversorgung wurde aufgrund der zu hohen Strahlungsentwicklung wieder abgeschaltet. Deshalb die mutierten Ratten. Da er den Weg durch das Labyrinth der Kanalisation kennt, bringt er mich zu einem Ausgang. Ich klettere hoch, mit letzter Kraft kann ich einen Gulli aufheben. Ich krieche hinaus, werde ohnmächtig, Kinder zerren an meiner Jacke. Ich wache auf…“

 

„Erstaunlich“, sagt die Kollegin süffisant, „dafür riechst du wie frisch aus der Dusche, bist perfekt angezogen wie immer und kommst grade mal zehn Minuten später als sonst“.

 

Dann erlöse ich meine Zuhörer aus der dramatischen Inszenierung: „Okay: Nicht Kinder sind es, die an meiner Jacke zerren, sondern der U-Bahn-Fahrer. Ich wache auf und höre, dass der Zug hier endet, auf dem Wendegleis steht und ich sitzenbleiben soll. Es geht gleich weiter. Ja, ich Idiot bin eingeschlafen in der U-Bahn“. 

 

Das Gespräch nimmt dann doch noch eine ernste Wendung. Erstmals rede ich offen über Schwarzgrub und die Geschichten von den Geisterzügen. Ich erwähne die Unsicherheit meiner Familie „was da drunter ist“. „Gesteuerte Panikmache der Immobilienbranche“ sagt einer, „die wollen die Grundstücke aufkaufen und eine große Siedlung bauen, lasst euch nicht beirren“.  Ich vereinbare einen Termin für eine Führung „Fakt oder Fake – das Wiener U-Bahn-System“ und denke an meine drei. Könnte das gegen die diffusen Ängste helfen? Es wäre so schön: glückliche Wesen um mich, das Ende sämtlicher Depressionen und der Lila-Krise. 

 

Nachdenklich fahre ich heim. Die U-Bahn ist orange, nicht weiß. Sie hält überall. Ich fliege beinahe die letzten Schritte bis zum Haustor, sperre auf und rufe „Hallo – ich habe eine Überraschung!“ Stille.

In der Küche liegt ein Zettel: „Wir sind weg“. Ich komme zu spät oder sie gingen zu früh. An der Stelle, an der der Vogelkäfig gestanden hat, schwebt eine Feder zu Boden, als ich vorbeigehe. Meine Nachricht vom Morgen ist zerknüllt. 

 

In den nächsten Tagen höre ich mich in der Gegend um. Der alte Mann, der im stillgelegten Fabrikgelände herumkramt, weiß etwas: „Ja, Eine Frau und ein Bub – sie hatten Koffer und einen Käfig dabei. Sie gingen zur U-Bahn-Station. Aber weil ich Sie grade sehe – bevor sie eingezogen sind, hat man schnell ein bisschen Erde in den Garten gekippt und Rasenziegel lieblos darüber geworfen. Da war immer nur Industriegelände. Tun sie Ihrem Garten etwas Gutes und lassen sie gute Humuserde aufschütten!“ Werde ich machen.

 

Seither sind ein paar Jahre vergangen. Ich lebe immer noch hier. Das mit der Erde war eine meiner ersten Aktionen. Ich habe daran nicht gespart. Jetzt habe ich einen blühenden Garten; die Kirschen sind reif, das Gras sattgrün. Es gibt Schmetterlinge, einen kleinen Teich, Vogelgezwitscher. Nach und nach habe ich systematisch das Lila entfernt. Ich bin von natürlichen Farben umgeben und von netten Nachbarn. Die Streusiedlung wächst zu einer Gemeinschaft zusammen. 

 

An einem Sommerabend, als ich grade mit einer Flasche Bier herauskomme, höre ich ein Quietschen: Das Gartentor? Und ist das da im Licht der Straßenlampe die Silhouette einer Frau und die eines jungen Mannes? Krächzt gerade etwas, das wie der alte Papagei klingt „Z´ruuuck-z´ruuuck-z´ruuuck“?

Möglicherweise sind es aber nur lila-getönte Schatten der Erinnerung und Geräuschfetzen vom drinnen noch laufenden Fernsehapparat. Ah! Der erste Schluck Bier ist doch immer der beste.

 

Version 3