Von Marianne Apfelstedt

1950

Liebe Mutter,

hab Dank für den Unterrock aus Fallschirmseide. Er passt mir perfekt. Hier in Paris ist es auch jetzt noch schwer, Stoffe für Kleidung zu organisieren. Dafür fehlt es mir nicht an Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle. Erst letztens besuchten wir den Louvre, um später im Café bis in die Nacht angeregt über die Kunstwerke zu diskutieren. Mit den Lebensmitteln, die du mir geschickt hast, habe ich für meine Freunde gekocht. Yorkshire Pudding lieben sie. Es gibt große Neuigkeiten. Ich kehre nach London zurück, …

 

„Liebe Rosalind, am letzten Tag hier bei uns im Institut möchte ich dir danken für deine akkurate Arbeitsweise und deine Denkanstöße. Mir fällt es nicht leicht, dich als Röntgenkristallographin gehen zu lassen. Ich hoffe, die Kollegen am King’s College in London wissen deine Arbeit zu schätzen. Auf unsere Kollegin und Freundin.“
Jacques Mering, der Leiter des Labors, prostete Rosalind zu. Die Angesprochene schob sich das dunkelbraune kurze Haar hinter das Ohr. Ein Lächeln blühte auf, dass die ebenmäßigen Gesichtszüge betonte. Sie nahm ein Glas Weißwein entgegen und trank einen Schluck.
„Danke, mein lieber Jacques. Ich bin mir nicht sicher, ob die Entscheidung zurück nach London zu gehen die Richtige ist, aber ich freue mich auf meine Familie und ein neues Aufgabengebiet. Das bewilligte Stipendium gilt für drei Jahre, vielleicht komme ich wieder zu euch zurück und in diese wundervolle Stadt.“

 

London empfing Rosalind mit dem typischen Einheitsgrau des Winters. Zu Fuß lief sie zu der altehrwürdigen Akademie. Ihre Absätze klapperten auf den Steinen vor dem Eingangstor. Nach dem Eintritt strich sie sich das vom Wind verwirbelte Haar aus der Stirn. Sie knöpfte den beigen Mantel auf, legte ihn über den Arm und eilte zielstrebig die Flure zum Büro von Mr. Randall. Das Gebäude verströmte eine eigenwillige Mischung aus altem Papier, Bohnerwachs und Staub. Die Gemälde an den Wänden, Bilder von intelligenten und reichen Männern des Landes in der Forschung vereint, ignorierte sie. Durch die Flure der naturwissenschaftlichen Abteilung hallten nur selten Damenschuhe. Couragiert klopfte sie beim Leiter des Laboratoriums an und öffnete die braune Holztüre mit Schwung.
„Guten Tag, Miss Franklin. Treten Sie ein,“ begrüßte sie Mr. Randall. Rosalind nahm auf der anderen Seite des Eichenschreibtisches Platz.
„Guten Tag, Mr. Randall. Ich freue mich auf mein neues Aufgabengebiet. Was genau erwarten Sie von mir?“
„Sie werden mit Mr. Gossling Röntgenbeugungen anfertigen. Zusammen mit Mr. Wilkins, meinem Stellvertreter, hat er herausgefunden, dass die Fasern der Desoxyribonukleinsäure gute Röntgendiagramme liefern. Da die Kristallstrukturanalyse Ihr Spezialgebiet ist, werden sie weitere Proben untersuchen. Mr. Wilkins ist im Urlaub und kommt Mitte des Monats zurück. Kommen Sie, ich zeige Ihnen ihren Arbeitsplatz.“ Rosalind folgte ihm zum Labor. Dort angekommen legte sie ihren Mantel auf einen Stuhl, nahm den weißen Laborkittel aus der Aktentasche und schlüpfte hinein. Rasch steckte sie Notizheft und Bleistift in die Tasche. Beim Umdrehen bemerkte sie, dass sich sein Blick auf ihren Rock geheftet hatte. Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch und sah Mr. Randall, der ihr wieder in das Gesicht blickte, direkt in die Augen. Er schenkte ihr ein Lächeln, das sie nicht erwiderte.
„Ich sehe, Sie sind gut vorbereitet. Ich werde Sie jetzt mit Mr. Gosling bekannt machen.“ An einem der Tische stand ein großer Mann im Laborkittel und grauen Hosen. Er hatte versucht, das dunkelblonde Haar mit einem Seitenscheitel zu bändigen. Raymond reichte Rosalind seine Hand.
„Herzlich willkommen! Vor Kurzem habe ich Ihren Aufsatz über die Röntgenbeugungsanalyse bei Kohlenstoffen gelesen. Ich finde ihn aufschlussreich und freue mich darauf, mit Ihnen zu arbeiten.“

„Danke für die Begrüßung. Welche Proben untersuchen Sie im Moment?“
„Dann überlasse ich sie mal ihren Aufgaben. Ich habe noch einen Termin“, verabschiedete sich Mr. Randall.
Rosalind und Raymond bildeten rasch ein Team und ergänzten sich bei den anfallenden Arbeiten. Als Mr. Wilkins nach seinem Urlaub zurück ins Labor kam, hielt er Rosalind für seine neue Assistentin. Wie selbstverständlich wies er ihr täglich neue Aufgaben zu.
„Rosi, wie weit sind Sie mit dem Erstellen der Protokolle meiner letzten Versuchsreihe?“
„Mr. Wilkins, mein Vorname ist Rosalind. Darauf habe ich Sie bereits mehrmals hingewiesen. Da mich Mr. Randall beauftragt hat, Aufnahmen der Desoxyribonukleinsäure anzufertigen, werde ich ab jetzt keine weiteren Arbeiten für Sie erledigen. Sie sollten sich eine Assistentin suchen, wenn Ihnen Ihr Arbeitspensum über den Kopf wächst.“ Wilkins schluckte, so eine Antwort war er von Untergebenen nicht gewohnt. Mit kühlem Blick taxierte er die Frau vor sich.
„Sie sind eine mir unterstellte weibliche Angestellte und vergreifen sich im Ton. Muss ich Sie extra darauf hinweisen, wer dieses Institut leitet? Stellen Sie meine Autorität infrage?“
„Ich habe zu arbeiten. Guten Tag!“ Rosalind drehte sich um und ließ ihn stehen. Nach diesem Gewitter wurde die Atmosphäre im Labor zur frostigen Winternacht im Januar. Wilkins und Franklin ignorierten einander so weit als möglich.

Die Beiden kommunizierten nicht mehr miteinander, sondern nur noch über Mr. Gosling. Um die Fronten zu klären, beorderte Mr. Randall beide zu einem Gespräch in sein Büro. Er legte fest, welchen Status Rosalind innehatte und verteilte die Aufgaben neu.
„Ich werde Sie zusammen nach Cambridge entsenden. Sie beide werden sich mit Mr. Crick und Mr. Watson treffen, um sich über die Struktur der kristallinen DNA auszutauschen. Die beiden haben ein Modell angefertigt, das Sie an der Universität ausgestellt haben. Es ist eine Ehre, dass Cambridge uns um eine Expertise bittet. Sie reisen übermorgen.“

***

„Es freut mich sehr, dass wir Ihnen heute unser Modell der DNA vorstellen dürfen, kommen sie Miss. Franklin. Mit ihrem Kollegen haben wir uns seit Monaten über Briefe ausgetauscht. Was halten Sie von unserer Arbeit,“ fragte Mr. Crick. Auf einem der Arbeitstische des Labors stand ein Modell mit drei Spiralketten, zu einer Helix angeordnet. Die Besucher sahen sich das Gebilde von allen Seiten an.

„Meine Herren, ich muss sie enttäuschen. Wenn ich ihr Konstrukt mit unseren Ergebnissen vergleiche, stelle ich Folgendes fest. Es besteht aus drei Strängen mit Phosphaten im Zentrum. Die positiven Ionen im Kern der Helix sind von Wasser umgeben und somit neutral. Da sich bei meinen Versuchen herausgestellt hat, dass die DNA in der Lage ist, beträchtliche Mengen an Wasser aufzusaugen, müssen sich die Phosphate höchstwahrscheinlich auf der Außenseite befinden. Diese Vermutung versuche ich derzeit nachzuweisen. Mit unseren bisherigen Ergebnissen kann ich Ihnen klar sagen, dass dieses Modell nicht der Wirklichkeit entspricht. Diese Reise war verschwendete Zeit, die ich im Labor besser nutzen könnte.“ Mr. Watson war durch diese harsche Beurteilung brüskiert und beachtete die Frau nicht weiter, in Gedanken gab er ihr den Namen „Dark Lady“.
„Sie scheinen sich ja ganz sicher zu sein“, bemerkte Mr. Crick. Er nahm ihr die vernichtende Meinung nicht übel und bemühte sich um sachlichen Austausch, da er von ihrem Fachwissen fasziniert war. Am nächsten Tag reisten die Besucher nach London zurück.

 

Einige Zeit später gelang es Rosalind, mit Hilfe von Gosling eine weitere Aufnahme der DNA anzufertigen. Dieses Foto (Nr. 51) belegte ihre Theorie der Dimensionen des DNA-Moleküls, es zeigte zwei Stränge. Sie benannte sie Strang A und B. Sie schrieb einen Aufsatz über diese neuen Erkenntnisse. Diesen Aufsatz reichte sie bei einer medizinischen Forschungsorganisation ein, ohne ihn vorher zu veröffentlichen. Ein Mitarbeiter, der diesen Aufsatz las, erkannte sofort seine Wichtigkeit. Als ehemaliger Student der Universität Cambridge fühlte er sich verpflichtet, eine Abschrift an Watson und Crick weiterzuleiten.

 

„Hast du den Text der Dark Lady durchgelesen, er liegt auf meinem Schreibtisch“ fragte Watson.

„Ich kenne die Textstellen auswendig, verstehe aber den Kontext nicht. Da Rosalind diesen Aufsatz geschrieben hat, muss sie inzwischen Beweise für ihre Theorie haben. Da sie die Angewohnheit hat, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse sorgfältig zu überprüfen.“

„Das hat Sie. Im letzten Brief von Wilkins hat er genau beschrieben, was auf Foto Nr. 51 zu sehen ist. Mir erschließen sich jetzt die Einzelheiten, lass uns ein neues Modell bauen. Wir sind dem Rätsel auf der Spur.“

Rosalind wechselte 1953 vom King’s College ans Birkbeck College. Dort leitete sie eine Arbeitsgruppe, die die Struktur des Tabakmosaikvirus erforschte. Sie publizierte 37 Aufsätze und war auf dem Gebiet der Kohle-Strukturanalyse und in der Virusmorphologie eine weltweit geachtete Wissenschaftlerin. Rosalind Franklin verstarb 1958 mit 37 Jahren an Krebs.

1962 wurde der Nobelpreis für Physiologie und Medizin an Francis Crick und James Watson von der Universität von Cambridge und an Maurice Wilkins vom King’s College in London vergeben, für die Entdeckung der Doppelhelix-Struktur der DNA.

Heute ist die Geschichte der DNA-Entschlüsselung untrennbar mit dem Namen Dr. Rosalind Elsie Franklin verbunden.

 

 

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