Von Eva Fischer
Die Sterne funkelten am Firmament, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte in meiner fernen Großstadt, wo falsche Lichter ablenkten, wo Fabriksmog den Himmel verschleierte.
Unter unseren Schritten knirschte der Schnee in makellosem Weiß, das von innen leuchtete, nicht blendete wie tagsüber. Ich hatte meine Hand in die von Markus gelegt und wünschte, er würde sie nie loslassen.
Tief atmete ich die kühle Luft ein, pumpte sie in meine Lungen, rein und klar, kostbar wie die Eiskristalle der hohen Tannen am Wegesrand, träumte mich in eine Tolstoi-Schneelandschaft, hörte die Glöckchen der Pferde, sah, wie sie Schlitten mit bunten Holzschnitzereien hinter sich herzogen, wie feine Damen ihre Hände im Muff wärmten und ihr Atem Wölkchen in den Himmel blies.
Markus schwieg. Kein Laut war mehr zu hören. Die Autos am Straßenrand mit ihren weiß gepuderten Zipfelmützen hatten sich schon längst schlafen gelegt. Wir entfernten uns von dem Bauernhof, wo meine Eltern mit den Bauern um einen runden Tisch saßen und die Weltpolitik diskutierten. Wohin sollte das Wettrüsten führen? Zu einem neuen Krieg? Wo man doch alles wieder so schön aufgebaut hatte.
Ich drückte Markus dankbar die Hand, denn er hatte die Idee zu diesem Nachtspaziergang gehabt. Markus kannte sich aus in diesem Dorf, umgeben von Bergen, wo die Städter Schnee als Wunder erlebten, den sie, wenn überhaupt, nur als grauen Matsch kannten.
Nach einer Weile standen wir vor einer Bergkuppe. Spiralförmig führte ein schneebedeckter Weg nach oben, von Straßenlaternen beleuchtet.
„Mogst a Gaudi?“ Ich verstand nicht ganz, was Markus meinte, aber das machte nichts. Gemeinsam kletterten wir die Serpentinen hoch. An jeder Kurve schaute ich über die Tannen hinunter ins Tal, wie sich allmählich alles zu einer Puppenstube verkleinerte. In der Ferne ragten die dunklen Dächer der letzten Häuser des Dorfes hervor.
Nach knapp einer Stunde waren wir am Gipfel angelangt. Dort stand eine Holzhütte, aus der Licht schien. Markus öffnete die Tür. Laute Musik schlug uns entgegen. Hinter Rauchschwaden erkannte ich einen Trupp junger Burschen, die an einer Theke standen.
„Jo mei, der Markus mit seiner Cousine“, rief einer aus, der sich als Hansi vorstellte. Groß und schlank, mit widerspenstigen blonden Locken und einem Grübchen am Kinn. Seine grau-blauen Augen musterten mich neugierig. Ich zog meine rote Winterjacke aus, ließ sie mir von ihm an den Nagel hängen. Hansi hatte das Wort „Cousine“ ausgesprochen wie etwas Fremdartiges, Kostbares, leicht Zerbrechliches.
„Mogst a Cola?“
Ich nickte. Hansi schüttete ein Stamperl Rum hinein.
„Zum Aufwärmen!“, prostete er mir zu.
„Übertreib’s nicht!“, warnte Markus. „Die Birgit ist erst fünfzehn.“
„Die Cola schmeckt aber gut so“, entgegnete ich trotzig und nahm einen kräftigen Schluck. Hansi wich mir nicht mehr von der Seite, wollte wissen, wie man in einer Großstadt leben könne, ohne all die Schönheit der Natur, die Weite, die Freiheit. Ich wusste es auch nicht mehr, mit jedem Schluck weniger. Markus und seine Freunde hatten die Musik noch lauter gestellt, so dass unser Gespräch mühsam wurde und schließlich stockte.
„Komm, wir tanzen!“, schlug Hansi vor und zog mich am Arm hoch.
„Auf den Tisch!“, feuerten uns die Jungen an, klatschten und stampften den Beat.
„Wild thing!“
Hansi kletterte als Erster hinauf, reichte mir seine Hand wie ein Kavalier. Ausgelassen steppten und rockten wir auf dem Holztisch.
„You make my heart sing.”
Bald gesellten sich die anderen dazu und der Körperkontakt war nicht mehr zu vermeiden. „Come on and hold me tight.“ Ich spürte Hansis Atem dicht neben mir.
„Wild thing, I think I love you“, sang er mit, seinen Blick liebevoll auf mich gerichtet.
“Shake it, shake it, wild thing”, ertönten die anderen unisono im Chor.
Irgendwann mahnte Markus zu meinem größten Bedauern zum Aufbruch.
„Kost rodeln?“, fragte er mich.
„Jo, freili“, imitierte ich seine Sprache und dachte an die Hügel, die ich dann und wann mit dem Schlitten hinuntergefahren war, wenn der Schnee einmal länger als einen Tag liegen geblieben war. Markus ging zu einem Verschlag, wo jede Menge Schlitten gelagert waren.
„Mogst alloan rodeln oder soll i di mitnehma?“ , fragte er mich.
Ich schaute zu Hansi, der bereits auf einem Schlitten saß und mit Gebrüll startete. Die anderen taten es ihm gleich.
„Ich probiere es allein“, sagte ich zu Markus. Er reichte mir einen Schlitten.
„Ok, i bleib hinter dia“, versicherte er mir.
Ich nahm den Strick in die Hand wie die Zügel eines Pferdes, setzte meine Stiefel auf die Kufen. Das Gefährt glitt zuerst sanft über den Schnee, wurde aber zunehmend schneller. Ich versuchte zu bremsen, ließ den Schnee an mir vorbeispritzen, hörte das Gejohle der anderen, die sich an jeder Kurve wie Rennfahrer ins Zeug legten. Die Geräusche verebbten allmählich und es blieb nur noch das sanfte Kratzen unserer beiden Schlitten. Markus sagte nichts, aber ich ahnte, er langweilte sich bei meinem Tempo.
„Du kannst mich überholen! Wir treffen uns unten!“, rief ich ihm zu.
Eine Serpentine lang blieb er noch hinter mir, dann rodelte er an mir vorbei.
Nun war ich ganz allein. Die Musik hallte in mir nach.
„You make everything groovy.“
Hatte der Alkohol meine Sehnsüchte nach oben geschwappt? Ich wollte wie ein Pfeil den Berg hinunterrasen, den Rausch der Geschwindigkeit spüren.
„I wanna kiss you“, sang ich aus voller Kehle den vorbeiflitzenden Bäumen zu und stellte mir doch Hansi vor, wie er hinter mir saß, sich unsere Arme berührten, er mich fest an sich drückte, mich küsste in dieser unwirklichen Winterlandschaft, wo die Zeit stillstehen sollte.
Bei jeder Kurve musste ich scharf abbremsen. Meine Füße fühlten sich an wie taube Paddel. Die Angst kam zurück, dass ich es nicht schaffte, dass ich die Kontrolle verlor, dass ich in die Tiefe stürzte. Wann nahm diese Höllenfahrt endlich ein Ende, fragte ich mich, als ich mit voller Wucht gegen eine Mauer prallte, deren Existenz ich zu spät bemerkt hatte. Ein stechender Schmerz flammte in meinem rechten Bein auf.
Irgendwann hörte ich Markus zurückkommen.
„Jo Madl, wos machst füa Sachen?“
Das war alles, was er sagte. Dann zog er mich mit dem Schlitten nach unten, den langen Weg zurück zum Bauernhof, der ganz im Dunklen lag. Nur Barry, der Hofhund, begrüßte mich mit seiner warmen Schnauze.
Jedes Mal, wenn der Regen an die Fensterscheiben trommelt und Kreise auf den Tisch der Terrasse malt, dann spüre ich den Schmerz in meinem rechten Bein. Knochen vergessen nicht, auch wenn der Bruch längst verheilt ist.
„Come on, come on wild thing“ , ertönt noch immer der Sirenengesang.
- Fassung