Von Jasmin Fürbach

London. Eine Stadt deren Geschichte heroischen Könige verzeichnet, begnadete Schriftsteller und große Künstler. Das Licht der Welt bündelt sich in dieser Metropole. Doch auch all dieses Licht kann nicht die dunklen Flecken der Stadt erhellen. Bilder von Verwüstung, Kämpfen und Gräueltaten säumten die Straßen, wenn nachts die Türen schließen. Düstere Gestalten wie Edward Hyde lauern an jeder Ecke. Dracula durchstreifte die Stadt auf der Jagd nach neuen Opfern. Im East End, wo Jack the Ripper sein Unwesen trieb, leerten sich die Straßen bei Einbruch der Dunkelheit. Es ließe sich so viel erzählen über diese Stadt voller Geheimnisse, jedoch nicht alles davon ist wahr. Ob Fakt oder Fiktion, das Urteil bleibt dem Leser überlassen. Jedoch hatte sich neulich eine weitere Begebenheit ereignet, grausam, schrecklich in ihrer Natur. Lassen Sie sich entführen in die Unterwelt Londons und mich Ihnen eine Geschichte erzählen. 

 

Die Lichter der Stadt brannten hell und auf den Straßen herrschte reges Treiben. Etwas Seltsames, fast schon Magisches lag in der Luft. Die Blumen in den Vorgärten blühten nicht mehr, und doch lag ihr schwerer Geruch belegte die Lungen der Vorbeiziehenden. Auf ihrem Weg reihten sich Häuser an Häuser, getaucht in den Schein der Straßenlaternen, die Straße selbst ein Wirrwarr aus Scheinwerfern und Autos, der Himmel tiefschwarz. Kein Stern erhellte die Nacht, beinahe, als wäre nicht ein einziges Licht auf dieser Leinwand des Firmaments übriggeblieben, als hätte die Dunkelheit sie alle verschluckt. Sie ging, in einen Mantel gehüllt, den Gehweg entlang, beobachtend, lauernd mit gemessenem Schritt und erhobenem Kopf. Ihre Beine überzogen hauchdünne Strümpfe, ein hellblaues Kleid umrahmte ihren zierlichen Körper wie eine zweite Haut. Brünettes Haar lag offen um ihr Gesicht und umschmeichelte es wie ein Rahmen ein Gemälde. Das Klacken ihrer Absätze war laut auf dem Asphalt zu hören und hallte in den engen Gassen von allen Seiten wider. Rundum war es still, so still, dass ihr der Klang ihrer Schritte vorkam wie Kanonenschüsse. 

 

Noch während sie ging, ihrem Ziel stetig näherkommend, spürte sie ein Paar Augen im Rücken. Es folgte ihr, wohin sie auch ging, blieb ihr unablässiger Begleiter. Doch als sie sich umdrehte, schnell und unerwartet, um ihren Beobachter zu ertappen, war da niemand. Die Straße hinter ihr war leer. Je näher sie ihrer Destination kam, desto schneller wurden ihre Schritte. Ihr Atem kam rasch und zeichnete sich als kalter Rauch vor ihr ab. Die Kälte der Nacht hatte sie eingeholt und umhüllt, bevor sie es überhaupt bemerkt hatte. Sie wechselte mehrmals die Straßenseiten, hektisch und getrieben, machte einen Umweg durch enge Gassen, hetzte wieder zurück auf die Hauptstraße nur um kehrt zu machen und die Gegenrichtung einzuschlagen. Vergebens, egal wie sehr sie sich mühte, egal wie schnell sie lief, der Schatten an ihrem Saum, der heimliche Beobachter in ihrem Rücken wich nicht von ihrer Seite– weit genug entfernt und doch stets präsent. Wohin sie auch lief, wohin sie sich drehte, immer war er da. Sie konnte es spüren, seinen Blick, seine Nähe, konnte fühlen, wie er unablässig an ihren Fersen klebte, sie keine Sekunde aus seinen Augen ließ. Ihr Herz pochte, schlug schnell in ihrer Brust als wollte es herausspringen. Das Blut schien in ihren Adern zu Eis zu gefrieren. Jede Stimme in ihrem Kopf, jeder Instinkt in ihrem Körper schien eine Nachricht zu schreien: Gefahr. 

Er kam näher, immer näher und sie wagte es nicht mehr sich umzudrehen, wagte nicht, sein Gesicht zu sehen, während alles in ihr still um Hilfe rief. Wieder bog sie in eine Gasse ein, in der verzweifelten Hoffnung ihn doch abschütteln, sich womöglich geborgte Zeit stehlen zu können. Doch sie bemerkte ihren Fehler zu spät.

 

Die Premiere des Stücks wurde in einem kleinen Theater in einer spärlich beleuchteten Gasse gezeigt. Das Gebäude strahlte den Charme vergangener Künstler aus. Die Gäste saßen bereits gespannt auf den Theatersesseln, ein Programmheft in den Händen und eifrig diskutierend. Hinter der Bühne liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Nichts funktionierte so wie es sollte: der Kostümschneider hatte bei mehreren Kostümen einen Anpassungsfehler gemacht, die Bühnenbildnerin hatte ein Bühnenelement in der Werkstatt vergessen und musste es notdürftig durch einen geformten Karton ersetzen, drei der Schauspieler erkrankten an einem unerklärlichen Virus, dessen Symptome Unwohlsein, Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, Übelkeit und ein leidlicher Hang, seinen Text zu vergessen, zu umfassen schien, die Regisseurin war nirgendwo aufzufinden und man munkelte, sie habe vor Nervosität die Toilette seit Stunden nicht mehr verlassen. Zu guter Letzt, als wäre all das nicht schlimm genug, war die Hauptdarstellerin gar nicht erst aufgetaucht. Man bog also die Kulisse zurecht, verabreichte den Schauspielern ein Aspirin, sorgte für eine Souffleuse, hielt die zu weiten Kostüme mit Sicherheitsnadeln zusammen, reichte der Regisseurin über die Toilettenwand ein Mittel gegen Übelkeit und zog die Zweit- der Erstbesetzung vor.

 

Das Publikum saß einstweilen im Saal und erwartete gespannt den Beginn der Aufführung. Es handelte sich um die moderne Inszenierung eines alten Stoffs, den die Regisseurin mit einer außergewöhnlichen Methode zu verwirklichen gedachte. Die Programmhefte, die am Eingang ausgegeben worden waren, zeigten das Bühnenbild, abstraktiert durch metallene Elementen, Kostüme in Pastellfarben mit engem Schnitt und Schauspieler mit zierlicher Figur und langen Beinen, ausgestattet mit  Fliegenbeinwimpern, herzförmigen Lippen und großen Augen.

 

Der Saal füllte sich, immer mehr Premierengäste fanden sich ein. Trotz der Abgelegenheit des Theaters und der noch unbekannten Regisseurin waren die Gäste in Roben gekleidet. Die Frauen trugen lange Kleider in dunklen Tönen wie schwarz oder petrol, hatten elegante Hüte mit Federn und Netzen auf ihren Köpfen drapiert und schienen ihre gesamte Juwelenkollektion um den Hals  zu tragen. Die Männer hingegen setzten auf schlichte Eleganz, in schwarzen Anzügen mit weißen Hemden. Einzig ihre Krawatten erlaubten einen Hauch von Couleur. Die Palette reichte von grellem Rot bis kühles Silber, über langweiliges Schwarz oder mutiges Pink. Der gesamte Saal erstrahlte im falschen Glanz verborgener Geheimnisse und falscher Fassaden. Nachdem das Publikum Platz genommen hatte, das Licht im Saal erloschen und Ruhe eingekehrt war, teilte sich der Samtvorhang und gab den Blick auf eine, kaum beleuchtete Bühne frei. Das Stück begann mit tosendem Applaus und großem Spektakel. Doch worum es eigentlich ging, daran sollten sich später weder Gäste noch Mitarbeiter erinnern können. 

 

Ausgesprochene Schlichtheit und simple Eleganz bestachen das Auge des Zuschauers. So war auch das Kleid der lebensgroßen Puppe, der eigentlichen Hauptakteurin, von Einfachheit gezeichnet. Helles Blau umschmeichelte den Körper an jeder Kurve. Die Puppe hing in ihren Marionettenseilen, mit großen, weit geöffneten blauen Augen und brünettem Haar. Der Marionettenspieler zog gekonnt ihre Fäden und ließ sie über die Bühne tanzen, hölzern, fast steif.  Es bedurfte einiger Minuten, bis sie es bemerkten.

 

Sie blinzelte in das grelle Scheinwerferlicht. Blinzelte, weil es das einzige war, was sie tun konnte. Ihr Herz schlug schnell. Als sie die Hand vor das Gesicht heben wollte, um ihre Augen zu schützen, fuhr ihr nackte Panik durch die Glieder. Sie konnte nicht einen Muskel bewegen, lediglich ihre Augen wurden wie durch Zahnstocher offengehalten. Vor ihr saßen Menschen die zu ihr hinauf starrten und applaudierten, tobten. Sie hatte Angst, schrie, doch kein Ton kam heraus, ihre Lippen ließen sich nicht öffnen, blieben verschlossen wie geleimt. Sie fühlte, wie das Klopfen ihres Herzens schneller wurde, ähnlich eines Kolibris Flügelschlag. Flehend sah sie ihre Zuschauer an, klammerte sich an den letzten Strang der Hoffnung jemand möge sie sehen, möge sie befreien, ihr helfen. Ihre Beine und Arme wurden von Schlaufen gehalten, ihre Gliedmaßen in einem verdrehten Winkel von ihr weggestreckt, als grausames Abbild menschlicher Bewegung. Blut trat aus ihren Gelenken hervor. Tropfen für Tropfen quoll es aus ihrem Körper, ohne dass jemand es sah. 

 

Die Zuschauer genossen das Stück, war es doch herzergreifend. Doch dann bemerkten sie es. Einer nach dem anderen wandte den Kopf in Richtung der Puppe. Die Erkenntnis verschlug ihnen allen die Sprache. Totenstille. Es war nur ein Moment, ein einziger Moment, aber in diesem sahen sie zu, wie sich die Blutstropfen an ihren Armen lösten und zu Boden fielen. Tropfen für Tropfen. Und mit einem Schlag wurde ihnen klar, dass die Puppe keine Puppe war. 

 

Chaos brach aus, wie es die Stadt selten gesehen hatte. Zwei Frauen fielen in Ohnmacht, eine dritte übergab sich auf den Boden während die Männer versuchten ihre Begleiterinnen zu beruhigen. Es herrschte Aufregung, selbst die Mitarbeiter wussten sich nicht zu helfen, sondern standen fassungslos hinter der Bühne. Die Lichter im Saal entflammten, Angestellte unternahmen verzweifelte Versuche, die aufkommende Massenpanik zu verhindern, konnten aber selbst die Augen nicht von dem grauenvollen Bild vor ihnen abwenden. Noch während alles schrie und zum nächsten Ausgang stürmte, Menschen fielen und beinahe zertrampelt wurden, saß eine Dame, in schwarz gekleidet auf ihrem Platz und beobachtete das Schauspiel genüsslich. 

 

Langsam erhob sie sich von ihrem Platz in der letzten Reihe, streifte ihre Handschuhe von den Fingern, legte diese auf den nun leeren Sitz und schritt hinaus. Schreie, Weinen drang an ihre Ohren. Und bevor sich die Tür hinter ihr schloss, drehte sie sich ein letztes Mal zur Bühne hin, zog, in der grässlichen Imitation einer Verbeugung ihren Hut vor den Schauspielern. Noch einmal sah sie in die Augen ihres Opfers, aus dem mit einem finalen Schlag seines Herzens der letzte Rest Leben wich. Niemand hatte sie bemerkt.