Von Angela Güntner

„Ja, das ist er“, flüsterte Stella ehrfürchtig. „Der Heiau. Der heilige Platz. Hier war ich mit meinem Großvater, bevor wir von der Insel weggezogen sind.“ Sie überquerte vorsichtig die Rasenfläche und blieb an dem Wall aus schwarzem Lavastein stehen. „Danke, Keanu, dass du mich hergebracht hast.“
Unter ihnen lagen die Hotelgebäude, dehnte sich der goldfarbene Strand, glitzerte der türkisblaue Ozean in der Sonne. Stellas Blick verlor sich in den anbrandenden Wellen – bis sie auf ein Leuchten im Stein aufmerksam wurde. An einer Stelle schimmerte die Lava rosig. Sie legte die Hand darauf. Pulsierende Wärme durchflutete ihren Körper.
Er war noch da. Der lebendige Stein … der Hüter des hilfreichen Schatzes. So hatte Großvater ihn genannt. Stella war wieder sechs Jahre alt. Sie stand neben ihrem Großvater, sie hörte den Ruf, der aus den unendlichen Tiefen des Meeres heraufzusteigen schien … und sie sah fern am Horizont alle kommen, die diesem Ruf folgen mussten …
„Stella! Ist dir schlecht?“ Keanus besorgte Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Sie lächelte ihn an. „Nein, keine Sorge. Ich hab mich bloß an meinen Großvater erinnert. Er würde sich so darüber freuen, dass ich wieder hier bin. Dass die ewigen Geldsorgen ein Ende haben. Er würde mich bestärken, mit Papa nochmal über das Medizinstudium zu reden. Ganz gleich, was er Mama und mir angetan hat. Genau wie du.“
„Na klar, Frau Doktor!“ Keanu fasste sie an den Schultern. Er war der einzige Mann weit und breit, der auf sie herunterschauen konnte. „Ich brauche eine hawaiianische Ärztin, wenn das hier etwas werden soll mit einem Zentrum für traditionelle Heilmethoden.“
„Also dann. Gehen wir zurück.“ Sie seufzte ein bisschen. „Keine Angst, Stella. Dein Vater hat von Frances nicht nur das Hotel geerbt, sondern auch einen Haufen Geld. Deiner Mutter kommt das leider nicht mehr zugute – aber dir. Er könnte zehn Töchtern ein Studium bezahlen.“ 

„Wirklich keinen Cocktail nach dem Essen, Miss Stella?“ fragte Sharon freundlich. „Der Drink des Hauses ist der beste. Heißt nicht umsonst Willkommen im Paradies.“ „Nein danke.“ Stella nippte an ihrem Kokosnusswasser und warf einen unsicheren Blick auf ihren Vater.
„Hat dir ja eine Menge Flausen in den Kopf gesetzt, mein Geschäftsführer, der studierte Herr. Dafür hab ich dich nicht hierher eingeladen.“ Jack Folkerts schluckte das letzte Stück von seinem blutigen Steak hinunter, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche. „Kannst deinem Macker sagen, dass ich keinen hawaiianischen Hokuspokus finanziere. Du mach dein Krankenschwestern-College zu Ende, soll dir an nichts fehlen dabei, dann hast du einen schönen Beruf für ein Mädchen. Von der ewigen Lernerei schnappst du bloß über. Hab ich vielleicht studiert? Ich bin nach acht Jahren Schule von Hamburg abgehauen …“
„Ihr Vater will Ihnen das anstrengende Studium nicht zumuten. Den Stress. Die Verantwortung als Ärztin …“ schaltete sich der Doktor mit salbungsvoller Stimme ein. Stella versetzte seinem  zudringlichen Fuß unter dem Tisch einen kräftigen Tritt. „Ich rate Ihnen auch davon ab. Sie sind schon dreiundzwanzig. Sie haben viel mitgemacht. Das sind mit Verlaub nicht die besten Voraussetzungen, um an die Uni zu gehen.“
„Meine Mutter war sehr krank“, antwortete Stella leise. „Ich musste Geld verdienen und mit dem College aussetzen. Aber ich hätte die Noten für das Medizinstudium.“
Sie wandte sich  mit flehentlichem Blick ihrem Vater zu. „Papa. Keanu  hat mir bestätigt, dass du jetzt ein vermögender Mann bist. Willst du es dir nicht nochmal überlegen?“
„Keanu, Keanu“, höhnte Jack. „Jetzt ist Schluss mit dem Blödsinn. Mein Geld investiere ich gewinnbringend. In meinen Kumpel, den Doktor hier, zum Beispiel. Der braucht dringend einen Anbau für seine Klaps … äh, für seine Klinik drüben in Kalifornien. Läuft sehr gut, die Hütte.“
Der Doktor zuckte peinlich berührt zusammen, malträtierte aber weiterhin mit seinem bleichen Bein Stellas langen braunen Unterschenkel.
„Außerdem“, fuhr Jack mit einem lüsternen Seitenblick auf Melody fort, „möchte ich mein Schätzchen hier so schnell wie möglich heiraten und zu meiner dritten Ehefrau machen. Leider ist sie im Moment noch verheiratet, und ihr Mann lässt sich nicht scheiden, bevor wir nicht ein paar … ausstehende Forderungen begleichen. Das wird ziemlich teuer, fürchte ich.“ Melody strahlte Jack an wie die Jungfrau den Drachentöter. Ihre hochgepressten Brüste streiften seinen Arm. „Nicht zu vergessen mein geplantes Golfhotel.“ Jack schwenkte die Bierflasche in die Runde. „Es wird mich ein hübsches Sümmchen kosten, diesen Hawau oder Helau in einen Golfplatz zu verwandeln, ohne dass mir hawaiianische Wichtigtuer dazwischenfunken …“
Stella starrte ihren Vater entsetzt an. „Ist das dein letztes Wort, Papa?“
„Nicht ganz. Damit meine Zukunftspläne abgesichert sind, wird es nötig sein, dass du eine Verzichtserklärung auf sämtliche weiteren Erbansprüche unterschreibst … morgen kommt mein Anwalt aus Honolulu mit den Papieren. – Schlaf drüber. Das ist ein Angebot, nach dem sich jeder vernünftige Mensch die Finger abschlecken würde. – Und wir drei Hübschen gehen jetzt unsere Abendrunde schwimmen, nicht? Tschüss Kleine, bis morgen.“ Ein flüchtiges Winken hatte er noch für seine Tochter übrig, dann setzte Jack sich mit dem Doktor in Richtung Strand in Bewegung.
Stella kämpfte mit den Tränen. Melody zog sie von der Terrasse weg in den Schatten der Hibiskusbäume.
„Ein Rat unter Schwestern: schnapp dir den Scheck für dein College und hau ab von hier“, sagte sie kalt. „Denn wenn du das nicht tust, dann wirst du schon sehen, wie schnell du in der Klapse vom Doktor verschwindest. Deine Mutter ist verrückt geworden, oder nicht? Sowas kann sich vererben. Ich hab ja nicht studiert. Hab nur in einem … Restaurant in Las Vegas gearbeitet. Aber so viel weiß ich. Und ich weiß auch, dass ich dahin nie wieder zurückgehe. Ich bin die Verlobte von Jack Folkerts, dem reichsten Mann auf dieser Insel. Aber du bist und bleibst nichts als eine – Kanakenschlampe.“
Damit lief sie hinter den Männern her. Ihr diamantbesetztes Fußkettchen glitzerte höhnisch im Licht der Gartenfackeln.

Nachher wusste Stella nicht, wie sie durch den Hotelgarten zum Heiau gekommen war, tränenblind, schluchzend vor Enttäuschung. „Großvater. Hilf mir.“ Eine große Hand schien sie vorwärts zu schieben, schien die ihre zu führen, damit sie den lebendigen Stein aus der Mauer heben konnte. Dahinter lag die rosaweiße Schneckenmuschel. Stella zögerte nicht. Sie umfasste das schwere Gehäuse und setzte die Muschel  an die Lippen.
Und dann wusste sie alles wieder. Nicht Großvater hatte damals gerufen. Sie selbst war es gewesen. Ein kleines Mädchen. Die Nachfahrin der letzten hawaiianischen Königin.
Der Ton durchdrang sie von Kopf bis Fuß mit dunklen, klagenden Schwingungen.
Die drei, die sich unten am Strand auszogen, grölten und kicherten und hörten nichts. Aber der Ruf ging übers Meer. Und weit draußen sah Stella sie kommen. Keine munter schwimmenden Schildkröten und keine silbrigen Schwärme fliegender Fische wie damals.
Sie waren zu dritt. Sie teilten die Wellen mit scharfkantigen Dreiecken. Und sie hielten genau auf die prustenden und herumalbernden Schwimmer zu.
Stella setzte das Schneckenhorn ab und holte tief Atem. Der Wind frischte auf, fasste nach ihr, hob sie hoch, dass sich ihr rotweiß geblümtes Kleid um sie bauschte, dass ihre kokosnussbraunen Haare sich aus dem Zopf lösten. Er trug sie bis zu den Sternen, er nahm die Schleier vom Mondlicht und die Gewalt aus der Brandung, damit sie alles sehen und hören konnte.
Die weißen Dreiecke kreisten ihre Beute ein. Schreie des Entsetzens und der Todesangst drangen an Stellas Ohren. Der erste schnappte zu, und ein bleiches weißes Doktorbein hüpfte über rötlich-schaumige Wellenkämme. Der zweite schnappte zu, und aus seinem Maul hing ein zerfetzter pummeliger Fuß mit einem neckisch blitzenden Diamantkettchen.
Der Wind brachte Stella jetzt ganz nahe an die Wasserfläche.  Sie konnte Jack in die Augen sehen – in diese hellblauen Augen, die sie von ihm geerbt hatte – und sie hielt seinem Blick und dem Ausdruck des Grauens darin stand.
„Tschüss Papa“, sagte das kleine Mädchen.
Der dritte schnappte zu und spuckte einen blutigen herzförmigen Klumpen in die Tiefen des Ozeans.
Da schloss Stella die Augen. Mit dem nächsten Wimpernschlag stand sie wieder auf der leeren Rasenfläche. Und da war kein Schneckenhorn mehr und auch kein leuchtender Stein – nur noch ein schwarzer schweigender Lavawall.

„Schon so früh auf heute, Miss Stella?“ Sharon hob einladend die Kaffeekanne. Stella lächelte strahlend. Ihre langen lockigen Haare hingen offen bis zur Taille. Sie trug ein figurbetontes grünlichblau schillerndes Kleid. „Ein großes Frühstück für mich, Sharon. Ich hab solchen Hunger.“ „Und ich auch!“ Keanu betrat die Terrasse und fasste Stella leicht am Unterarm. „Darf ich mich zu dir setzen heute morgen?“ Sie schauten beide aufs Meer hinaus. „Ist alles gut gegangen gestern?“

„Ja“, sagte Stella mit glänzenden hellblauen Augen. „Alles ist gut.“ Sie riss Sharon fast den Teller aus der Hand und fing mit ungewohntem Appetit an zu essen.
Vom Strand her kamen Rufe und erregte Stimmen. Eine Frau schrie schrill auf. Die Stimmen wurden lauter. Auf der Zufahrtsstraße zum Hotel näherte sich unter Sirenengeheul eine Polizeistreife.
Keanu ließ sein Frühstück stehen. „Ich schau mal nach, was da unten los ist. Manchmal schwemmt das Meer unangenehme Sachen an – eine tote Robbe oder vielleicht sogar einen verendeten Wal. Ich bin gleich wieder da.“
Stella nickte gleichmütig und wandte sich Sharon zu. „Und jetzt hätte ich gern noch einen Drink des Hauses, Sharon. Auf Hawaii. Auf das Hotel hier. Und auf uns.“ Sharon mixte, was das Zeug hielt. „Gern, Miss Stella. Willkommen im Paradies!“