Von Monika Heil

Sie würde es schaffen und niemand würde ihren Kampf mitbekommen. Sie war die Starke, die Unbesiegbare!

 

Andrea Weidmann war Juristin mit Leib und Seele, hatte ihr Studium summa cum laude abgeschlossen und eine Kanzlei gefunden, die ihre Qualitäten schätzte und förderte. So kletterte sie die Karriereleiter empor, langsam aber stetig. Erst Assistentin des Juniorpartners, dann mit eigenem Fachbereich im Pool der Kollegen. Das Ziel stand klar vor ihren Augen – gleichberechtigte Partnerin der Sozietät. In spätestens einem halben Jahr würde Dr. Kleinschmidt aus dem aktiven Geschäft aussteigen. Dann, endlich …

 

Wäre da nicht dieser neue Feind, der ihr Leben bedrohte.

Ihn galt es jetzt zu bekämpfen. Kein Mensch sollte davon erfahren, weder im privaten Umfeld, noch im Büro. Nur keine Schwäche zeigen! Eine Devise, nach der sie ein Leben lang gehandelt hatte. Sie war die Starke, die Unbesiegbare!

 

In der Kanzlei erweckte niemand den Anschein, etwas bemerkt zu haben. Glücklicherweise war Winter. Da konnte sie ihren Körper unter der Kleidung verstecken. Mehrere Schichten verhinderten zu erkennen, wie schmal sie geworden war. Andrea achtete darauf, keine Ausschnitte zu zeigen, schminkte sich stärker als früher. Meist freundlich lächelnd saß sie in ihrem Büro, sprach mit Mandanten, scherzte mit den Kollegen, lobte ihre Sekretärin. Niemand sollte erkennen, was sie hinter dieser vorgetäuschten Fassade verbarg.

Gleich einem Mantra versprach sie sich immer und immer wieder: Ich schaffe das, ich schaffe das.

 

                               ***

 

Der Anfang vom Ende kam völlig unerwartet. Eines Tages saß sie im Wartezimmer der onkologischen Klinik, ein seit Wochen wiederkehrender Termin.

„Dr.O. Was bedeutet diese Abkürzung?“, hatte Sandra, ihre Sekretärin, gefragt.

„Besprechung in einer Familienangelegenheit“, war Andreas knappe Antwort gewesen und sie hatte weiterhin Dr.O. selbst in den elektronischen Kalender eingegeben. Wenn sich Sandra wunderte, dass keine Diktate zu diesem Vorgang erfolgten, erfuhr es Andrea nicht. Sollte sie doch denken, es handele sich um eine amouröse Angelegenheit. Besser als die Wahrheit.

 

„Frau Dr. Weidmann bitte!“ Schwester Petra öffnete die Tür. Zwei Meter trennten den privaten Wartebereich vom Bestrahlungsraum. Und genau da stand Veronika, die junge Praktikantin aus der Kanzlei mit einer älteren Dame, wahrscheinlich ihrer Mutter.

„Frau Dr. Weidmann. Sie hier?“

Andreas oft geübtes Lächeln gefror auf den Lippen. Ihre Gedanken wurden schlagartig ebenso schlaff wie ihr Körper. Die Maskerade brach zusammen durch eine dumme, kurze Frage. Sie wurde blass, stotterte: „Nein, nein, also ja“, fing sich schnell.  „Ich warte nur auf eine Bekannte, die hier zur Bestrahlung ist“, log sie und registrierte sofort, dass die junge Frau ihr nicht glaubte. Schwester Petra mahnte: „Kommen Sie bitte?“

„Ja, sofort.“ Sie spürte Veronikas Blicke in ihrem Rücken, bis sich die Tür hinter ihr schloss.

 

Die Wahrheit machte die Runde, noch bevor Andrea am nächsten Morgen wieder in der Kanzlei erschien. Sie spürte sofort die veränderte Atmosphäre, registrierte mitleidige Blicke, demonstratives Wegschauen, glaubte bei einem Kollegen sogar ironisches Lächeln wahrzunehmen.

 

Eine Illusion war zerplatzt, nur weil ein einzelner Mensch die Wahrheit erkannt hatte und sie weitersagte.

 

                      ***

Ein Jahr später.

 

„Wir schaffen das“, flüsterte Sören und nahm Andrea, seine frühere Mitpatientin und jetzige Lebensgefährtin in den Arm. Mindestens ein Dutzend Menschen waren zum Stadthafen gekommen, das junge Paar zu verabschieden.

„Gutes Gelingen“, wünschte Sandra, ihre frühere Sekretärin.

„Grüßt mir meine speziellen Freunde, die Pinguine“, verlangte Peter Wegener, ihr Coach der letzten drei Monate.

Ihm vor allem hatte sie die Einsicht zu verdanken, ihrem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Nicht alles mit sich allein auszumachen, sondern Gefühle zuzulassen war das Werk von Sören gewesen. Sie hatte den Landschaftsfotografen bei psychologischen Gruppengesprächen im Krankenhaus kennengelernt und hatte sich zu ihrer großen Überraschung schnell von dessen ruhiger, positiver Lebenseinstellung angezogen gefühlt. Fünf lange Wochen Intensiv-Reha, fünf Wochen tägliches Miteinander festigten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl.

Seiner Idee, ein Jahr auf Segeltörn zu gehen, stand sie erst skeptisch gegenüber, sagte aber zu, wenigstens das Coaching bei Peter Wegener mitzumachen. Peter erwies sich schnell als exzellenter Psychologe.

 

„Gute Reise“, riefen alle, als die beiden die Leinen losmachten und in ihr Sabbatjahr Richtung Feuerland starteten.

„Siehst du jetzt, dass du niemals Grund hattest, deine Angst vor den möglichen Folgen deiner Krankheit zu verbergen?“, fragte Sören am Abend, als sie, die ruhige See genießend, dem Sonnenuntergang entgegen segelten. „Glaub´ mir, du tatest gut daran, endlich zu deinen Empfindungen zu stehen. Du hast es doch heute an den Reaktionen all der lieben Menschen gesehen, die uns verabschiedet haben.“

„Wahrscheinlich hast du Recht“, flüsterte sie kaum hörbar.  

„Ganz sicher, mein Schatz. Ab sofort stellen wir uns offen und ehrlich allen Herausforderungen. Wir schaffen das, denn nur gemeinsam sind wir stark.“

Sie wollte ihm so gern glauben.

 

V3