Von Michael Kothe
Philadelphia war nicht wie New York berühmt für seine Yellow Cabs, aber deren Pendant war es, das Sam jetzt durch den frühen Abend bugsierte.
»Sam, hast du Lust auf ´ne Fuhre quer durch die Stadt? 10 Dollar sind für dich drin.«
»Klar, Phil. Gib mir die Adresse!«
Phil war ein Freund geworden während der Jahre, die Sam den alten Lincoln steuerte. Nicht von Philipp war Phil abgeleitet, sondern von Phileas. Phileas Fogg kam ihr in den Sinn, der Optimist und Abenteurer. Sam schmunzelte wegen dieser nicht hierher passenden Assoziation, als sie das Mikrophon einhängte. Das Spiralkabel verhedderte sich an einer anderen Strippe.
»Shit!«
Die eine Silbe barg alle Wut und Enttäuschung über diesen Moment der Unachtsamkeit, denn auch ihr Leben geriet manchmal aus der Spur. Der Blick auf das Kabelgewirr hatte zu lange gedauert, und zwei Räder hatten die durchgezogene Linie überquert. Zum Glück hatte Sam in dem Vorort Philadelphias die Straße für sich allein, und der Lapsus war sofort vergessen.
Sam war eine stahlharte Braut. Notgedrungen. Wenn man Taxi fahren musste in dieser Stadt und bevorzugt Spätschichten, war das nichts für Weicheier. Von jahrelanger Arbeitslosigkeit in ein spät begonnenes Studium gezwungen zu sein, um überhaupt irgendwo wieder Fuß zu fassen, verlangte doppelten Einsatz. Die Konkurrenz war groß und nicht zimperlich. Sams Studium war der verzweifelte Versuch, wieder auf die Beine zu kommen. Oft genug verzagte sie, denn ein Diplom war keine Garantie für eine gesicherte Zukunft. Nur ihr Trotz dem Leben gegenüber gab ihr Kraft, sich der Herausforderung immer wieder zu stellen.
Samantha bog in die menschenleere Straße und hielt vor der Hausnummer 449. Der übliche Block, tagsüber war er ockerfarben, aber schon in der Dämmerung sind bekanntlich alle Häuser grau. Sie hupte. Nichts tat sich. Müde lehnte sie sich zurück, schloss für einen Moment die Augen, um ein kleines bisschen Energie zu tanken. Als Sam sich von ihren Gedanken losriss, waren vier Minuten vergangen, und noch immer klopfte ihr Fahrgast nicht an die Scheibe.
»Shit! Und wenn es nur ein böser Streich war?«
Weiter wollte sie nicht denken. Durch die halbe Stadt war sie gefahren für 10 Dollar. Sie hupte wieder. Das Navigationsgerät versicherte ihr, vor dem richtigen Haus zu stehen. Ungeduldig stieg sie aus und zündete sich eine Zigarette an. Die halb gerauchte Zigarette trat sie mit dem Stiefelabsatz aus. Ein harter Tritt, sekundenlanges Drücken und Drehen. Sie reagierte sich an dem Stummel ab, bevor sie die sechs Stufen nach oben stieg. Ihre Augen suchten das Blech mit den Klingelknöpfen, und im selben Moment, als sie es fand, bemerkte sie, dass die Haustür angelehnt war. Mit festem Schritt nahm sie im Treppenhaus weitere Stufen, bis sie die Tür vor sich hatte. Eine Klingel? Fehlanzeige! Sams Handschuhe waren fingerlos, so war das Klopfen ihrer Knöchel nicht zu überhören. Ein Schlurfen war die Antwort.
Unendlich langsam öffnete sich die Tür. Eine Alte stand Sam gegenüber. Gebeugt und in einer Kleidung, die Sam in eine andere Zeit versetzte. Schwarz und knöchellang das Kleid, die Ärmel umflossen die Handgelenke. Unter der Haube fielen graue Haare in eine runzlige Stirn.
Im ihrem Innern sträubte sich Sam gegen diesen Fahrgast, eine Hexe aus einem anderen Jahrhundert. Aber sie hatte gelernt, sich vor ihren Passagieren zu verschließen. Sich mit ihnen zu befassen, war gefährlich. Es konnte verletzen, die Seele aufreißen, die sie mit großer Anstrengung gegen den Alltag und gegen das Leben abschottete.
Sam bückte sich nach dem Köfferchen. Sie schickte ihren Blick in das Zimmer, ja in die ganze Wohnung, die wohl nur aus diesem Raum bestand. Ein Sofa und ein Sessel ordentlich mit Bettlaken bedeckt, Schranktüren geöffnet. Überall Umzugskartons, den Inhalt der Schränke in sich aufgenommen. Sam schluckte. Vor allem schluckte sie die zynische Bemerkung hinunter, mit der sie die Alte fürs Wartenlassen hatte bestrafen wollten. Wortlos hob sie den Koffer auf und nickte der Frau in Schwarz zu.
»Lassen Sie uns gehen, Kindchen!« Die Alte sprach leise. Nach einem letzten Blick zurück folgte sie Samantha die Stufen hinab. Vom Rücksitz aus gab sie dann die Adresse bekannt, zu der sie wollte.
Im Rückspiegel bemerkte Sam die gefurchte Stirn, den unsicheren Blick.
»Vielleicht kennen Sie sie ja.«
»Die Straße kenne ich vom Durchfahren, aber die Hausnummer sagt mir nichts.«
»35 Jahre habe ich hier gelebt, seit elf Jahren bin ich allein, und habe seitdem meine Straße nicht verlassen. Und immer habe ich mir gesagt, dass ich nur noch einmal umziehen würde. Fahren Sie mich bitte durch die Stadt!«
»Jetzt im Berufsverkehr ist das nicht die beste Strecke. Ein Umweg über die Wohnviertel brächte uns schneller hin.«
»Durch die Stadt, bitte. Es ist meine letzte Fahrt, und ich habe Zeit. Sie sagten …« Die Alte beugte sich zwischen den Lehnen der vorderen Sitze nach vorn, bis ihr Mund fast an Sams Ohr stieß. »Sie sagten, die Hausnummer sage Ihnen nichts. Das ist gut für Sie. Es ist ein Hospiz, eine Sterbeklinik. Und eine Fahrt durch das Stadtzentrum lässt mich ein letztes Mal Erinnerungen tanken.« Dann sank sie wieder auf die Rückbank und blickte stumm aus dem Seitenfenster.
Sam schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? »Philadelphia hat seine schönen Seiten. Sie haben es ja kennengelernt.« Oder die alte Dame beruhigen. Womit? »Sicher hatten Sie ein erfülltes Leben. Ihnen bleibt noch reichlich Zeit, Ihre Erinnerungen zu genießen.« Sam schwieg.
Ein Seufzen erklang von der Rückbank.
»Dort! In dem Redaktionsgebäude da habe ich zwölf Jahre lang gearbeitet.« Ein verhaltenes Kichern. »Nicht als Reporterin oder Redakteurin. Als einfache Schreibkraft.«
Ein paar Straßen weiter ein Theater, eine kleine Konzerthalle. Ein- oder zweimal hatte Sam hier selbst ein Konzert erlebt. Dennoch fühlte sie sich seltsam berührt, als sie von der Rückbank her die geseufzten Erinnerungen hörte.
»Chubby Checker, Daryl Hall. Howard und ich haben regelmäßig ihre Konzerte besucht. Ach ja, Howard! Gut, dass er mich nicht mehr begleiten muss auf meiner letzten Fahrt!«
Sam fühlte sich unsicher. Sie fühlte sie bröckeln, die Mauer, die sie gegen den Alltag abschirmte und gegen die Menschen mit ihren Nöten, Sorgen und Aggressionen. Immer wieder blickte sie in den Rückspiegel, um ihren Fahrgast zu beobachten. Sie sah strahlende Augen. Und ab und zu eine Hand, die darüberfuhr, um Tränen wegzuwischen.
»Wo haben Sie sonst noch gearbeitet?«
»Wie bitte?« Die Alte schreckte auf.
»Wo haben Sie sonst noch gearbeitet? Ich meine, wollen Sie noch etwas anderes sehen? Von hier aus ist es egal, welche Route ich nehme.«
Die alte Frau zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Ein paar Straßen und Gebäude nannte sie.
Es war kaum etwas dabei, das Sam nicht kannte, und so war die Orientierung unkompliziert. Dennoch fühlte sie sich seltsam. Eine vergessene Saite war angerührt, schüchtern begann sie zu schwingen. Sam beugte sich nach vorn und schaltete den Taxameter aus. Die roten Leuchtziffern verharrten bei null. Schweigend fuhr sie die Stationen ab, lauschte den Erinnerungen ihres Fahrgastes und versuchte, eigene Erinnerungen oder Erfahrungen damit zu verknüpfen. Obwohl sie viele der Bürogebäude, Museen oder Theater nie betreten hatte, hatte sie immer öfter ein Gefühl des Déjà vu. Sie glaubte, Buchhalter mit Ärmelschonern und Schirmmützen und Reihen von Schreibdamen vor ihren Schreibmaschinen zu sehen, Musiker spielten Twist, Soul und Rock´n´Roll, Tanzszenen spulten vor Sams innerem Auge ab. Dieses von Verbrechen gebeutelte, von Konflikten historischen Ausmaßes beunruhigte Philadelphia zeigte sich ihr von der versöhnlichen Seite.
Durch Gegenden fuhren sie, in die Sam noch nie geraten war, und die dennoch ein Gefühl von Vertrautheit hervorriefen. Die Stadt mit ihrem Trubel hatten sie durchquert, immer wieder angehalten. Mittlerweile rief die alte Dame laut und begeistert ihre Erinnerungen wach, und Sams Seele legte den eisernen Harnisch ab und tauchte mit ein in diese Erinnerungen. Sam hatte Teil an der Energie, die die Alte durchflutete.
»Nun ist es genug, Kindchen. Lassen Sie uns zum Hospiz fahren!«
Wortlos richtete Sam den Blick nach vorn. Als sie den Lincoln die Einfahrt hinauf steuerte, war es stockfinster. Im Eingang ging Licht an, eine Frau schloss die Türe auf und kam ihnen entgegen, gefolgt von einem jungen Mann, der einen Rollstuhl schob.
»Was schulde ich Ihnen, Kindchen?«
»Nichts.« Verstohlen wischte Sam die Träne von ihrem Nasenflügel. »Der Taxameter ist kaputt. Die Taxigesellschaft merkt´s nicht, und mir haben Sie einen unvergesslichen Abend beschert.« Sie hielt ihrer Passagierin die Tür auf und stützte sie, bis sie sich in den Rollstuhl sinken ließ. Der Pflegerin drückte sie das Köfferchen in die Hand.
»Danke. Vielen Dank« Fast gehaucht kamen die Worte aus dem Mund der alten Frau.
Sam beugte sich zu ihr hinab und umarmte sie.
»Nein! Ich danke Ihnen. Sie haben viel für mich getan.« Sie richtete sich auf und sah der Gruppe nach, bis die Pfleger mit ihrem neuen Gast im Flur verschwunden waren und das Licht ausging.
»Shit!«
Sie setzte sich hinters Steuer, ließ den Motor an und rollte zur Ausfahrt. Vor der Einmündung in die Straße hielt sie an. Sie zog die Nase hoch, beugte sich zur Seite, fingerte aus einer Ablage ein Papiertaschentuch, schnäuzte sich und ließ ihren Tränen freien Lauf.
»Wie die Weihnachtsgeister bei Charles Dickens! Kindchen, was hast du bisher falsch gemacht und heute richtig?«
Sam kniff die Augen zusammen, bis ihr Blick wieder klar wurde. Dann setzte sie sich gerade, schaltete das Autoradio an und suchte einen Sender, der Musik von Chubby Checker und seinen Zeitgenossen spielte. Entspannt fuhr sie zur Zentrale und parkte den Lincoln am Straßenrand.
Sam war eine stahlharte Braut? Am nächsten Morgen nahm sie nicht den Bus, der sie fast täglich zur Uni brachte, sondern einen, der dorthin fuhr, wo sie spät nachts ihre letzte Station hatte.
Sams Bewerbung als Hilfskraft im Hospiz wurde angenommen.