Von Ingo Pietsch

 

Valerie und Zander saßen in einem Café auf der Westminster-Seite an der Themse und hatten einen wunderbaren Blick auf das „London-Eye“ – Europas größtem Riesenrad.

Für Außenstehende wirkten die Beiden wie ein verliebtes Pärchen, das einen Kurztrip nach London gebucht hatte.

Sie, im luftigen Sommerkleid mit wehendem Haar, er, mit T-Shirt und kurzer Hose.

Hexen, Hexer, Mutanten, Sith-Lords. Es gab nichts, womit sie nicht schon beleidigt worden waren. Und es war ihnen inzwischen egal.

Valerie bewegte ihre Finger, um die Illusion aufrecht zuerhalten, die sie als normales Pärchen darstellte.

Zander nippte an seinem Eistee, den er fast geleert hatte.

Er schwenkte den Inhalt herum und musste aufpassen, dass der Tee nicht überschwappte und seinen hellen Leinenanzug beschmutzte. Oder seine schwarzen Doc Martens.

Valerie trug ebenfalls schwere Stiefel, aber sonst nur dunkle Kleidung, dunklen Lippenstift und Nagellack und hatte jede Menge Piercings im Gesicht.

Sie war eigentlich sehr hübsch, versteckte ihre Attraktivität aber unter ihrem Outfit. Es war wie eine Rüstung für sie. Zuviel hatte sie in ihrer Kindheit erleben müssen, dass sie sich jetzt so schützte.

Zander trank sein Glas aus und stellte es verkehrt herum auf den Korkuntersetzer des kleinen Bistrotisches.

Er betrachtete die vielen Touristen um sie herum.

Es herrschte bald vollständige Ebbe und dann würden die Mudlarker ihr Unwesen auf dem Grund der Themse treiben.

Leute, die im Schlamm des Flusses nach Schätzen suchten.

Oder einfach nur Schrott fanden.

Genau das hatten Valerie und Zander auch vor. Aber sie wussten, wonach die suchten.

Zander hob das Glas und hauchte hinein. Es beschlug und er stellte es wieder ab.

„Bist du es nicht auch Leid, immer nur für andere zu arbeiten?“, fragte er Valerie, die in Gedanken versunken eine Mutter mit ihrem Kind beobachtete.

Ihre eigene Mutter hatte vor ihr Angst gehabt und sie verstoßen, weil sie ihre Kräfte nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Aber da war sie ja auch nur ein Kind gewesen.

Zander hingegen kam aus reichem Elternhaus.

„Zander an Valerie, hast du mich gehört?“, bohrte er nach.

Sie beachtete ihn nicht: „Ich will einfach nur ein, ungestörtes Leben wie jeder andere führen. Aber das wird wohl niemals geschehen.“

„Warum so pessimistisch? Du gaukelst anderen doch schon seit Ewigkeiten nur Lügen vor.“

„Du bist ein Arsch, Zander.“ Eine Spur von Traurigkeit schwang in ihrer Stimme.

Zander lehnte sich zurück. „Ich weiß.“

Wassertropfen liefen innen im Glas herunter.

„Wenn wir hier fertig sind, haben wir genügend Geld, um uns zur Ruhe zu setzen.“ Zander grinste in Richtung Themse.

Valerie sah ihn an: „Du hast doch schon genug Geld, was willst du wirklich?“

„Macht! Und wenn es stimmt, was uns dieser Händler über dieses schöne Schmuckstück verraten hat, werden wir jede Menge davon haben.“

Zander betrachtete eine kleine goldene Löwenfigur in seinen Händen. Auf ihr waren die lateinischen Worte eingraviert: Die Augen werden dich sehen lassen.

Im Glas wurde es dunkler.

Die ersten Touristen kletterten an der Böschung der Themse herunter und begannen mit Schaufeln und Metalldetektoren den Schlamm zu durchwühlen.

Das London-Eye drehte sich unaufhörlich und von irgendwo her dudelte die Melodie eines

Leierkastenmannes.

„Und wenn die Leute uns zu fürchten wissen, statt uns immer nur mit Füßen zu treten, kaufen wir dir was Schickeres zum Anziehen und verpassen dir eine neue Frisur. Du bist eigentlich ziemlich hübsch und ich finde es schade, dass du dich hinter dieser Maskerade versteckst.“

Valeries Wangen röteten sich.

Noch nie hatte er ihr Komplimente gemacht. Aber er wusste, wie man jemanden um den Finger wickelte.

Sie mochte Zander, auch wenn er manchmal unerträglich war. Schließlich hatte sie kaum Umgang mit normalen Menschen.

Aber die Beziehung der beiden war nur beruflicher Natur.

Wolken entstanden im Glas und wurden immer größer.

Nur noch ein Rinnsal trennte die beiden Uferhälften der Themse voneinander.

Der Lärm, der von unten heraufdrang steigerte sich.

Möwen kreisten umher und schnappten sich im Sturzflug zappelnde Fische.

Die Wolken im Glas waren jetzt schwarz und Blitze zuckten daraus hervor.

Zander begann das Glas zu schwenken und ein Tornadorüssel bildete sich.

Es war so weit.

Er gab Valerie ein Zeichen, sie standen auf und gingen zur Kai-Mauer.

Zander hielt das Glas mit der Öffnung Richtung Themse und der Mini-Tornado sprang heraus.

Kaum hatte er den Boden berührt, wurde er größer und größer, bis er seine normale Größe erreicht hatte.

Der Rüssel bohrte sich in das restliche Wasser und sog es nach oben. Schlamm wirbelte auf und bespritze die Mudlarker, die sich zu retten versuchten.

Die Leute im Flussbett kreischten und versuchten sich irgendwie zu schützen.

Jetzt verdunkelte sich auch der Himmel über London und es wurde Nacht.

Der Tornado erfasste das London Eye und riss es aus seiner Verankerung.

Unzählige Menschen filmten das Unglück.

Das Riesenrad rollte in das Flussbett und dann trotz der Sturmgewalten ganz langsam bis an die nächste Brücke, wo es mit lautem Kreischen von Metall stehen blieb.

Zander hoffte, dass niemand verletzt worden war.

Die Sirenen von Rettungskräften näherten sich.

Der Tornado hatte den ganzen Boden ausgetrocknet.

Valerie und Zander kletterten nach unten. Viele Leute kamen ihnen entgegen.

Zander ärgerte er sich, weil sein Anzug schmutzig wurde und Valerie grinste ihn an, als sie den Schlamm einfach von ihrer Lederkleidung abwischte.

„Warum hast du nicht was angezogen, was schmutzig werden kann?“, fragte Valerie.

Zander zuckte mit den Achseln: „Der Anzug ist einfach bequem.“

Auf dem Grund der Themse war ein gepflasterter Weg erkennbar, der zu einer großen Windrose führte. Ein Löwe prangte in der Mitte. Der gleiche Löwe, wie die Statuette.

Immer noch hielt Valerie eine Illusion aufrecht, und sie und die Windrose war für alle anderen nicht mehr erkennbar.

„Die Augen“, meinte Zander.

Beide drückten gleichzeitig die Augen des Löwen nach unten und eine Luke schwang nach unten.

„Und hier unten sollen Sir Francis Drake und andere ihre Schätze versteckt haben? Ist es nicht ein wenig kompliziert da hin zu kommen?“, fragte Valerie.

„Wahrscheinlich gab es auch noch andere Zugänge, die sie verschlossen haben. Aber der Wasserstand war früher möglicherweise niedriger als heute und das Flussbett komplett ausgetrocknet. Mit der Zeit werden die Leute vergessen haben, dass es diesen Zugang gibt. Ich hoffe wir finden einen anderen, sonst sind wir da unten gefangen.“

„Hoffentlich finden wir, was wir suchen und nicht nur ein paar Tonscherben!“

Der Tornado hatte sich aufgelöst und der Schlamm und das Wasser kamen zurück.

„Los, bevor es zu spät ist.“ Sie kletterten nach unten in die Dunkelheit und verschlossen die Luke gerade noch rechtzeitig, ehe sie wieder unter dem Schlamm begraben wurde.

„Hier stinkt es“, meinte Valerie. Sie zog eine Taschenlampe hervor, was Zander ihr gleichtat.

Wasser tropfte von oben herab und die Wände und Decke waren bewachsen mit Grünspan und Algen.

Sie gingen eine Weile abwärts bis zu einer riesigen natürlichen Höhle.

Ihre Taschenlampenkegel erreichten kaum die Decke und die Wände.

„Du hattest Recht, der größte Schatz aller Zeiten“, meinte Valerie.

Zander stand mit offenem Mund da und war überrascht, was eher selten der Fall war.

Überall lagen leere, zerbrochene Kisten und Truhen. Nichts, was auch nur annähernd einem Schatz ähnelte.

„Verdammt! Sie haben alles weggeschafft“, Zander war enttäuscht.

„Schau mal hier, da liegt ein Toter!“, Valerie leuchtete auf ein Skelett mit schwerer Rüstung, welches auf dem Boden, zwischen all den Brettern fest gekettet war. Ein Holzschild hing um seinen Hals. Es war aufgequollen und kaum mehr leserlich.

„No way out!“ stand dort eingeritzt.

Den beiden fiel auf, dass alles in der Höhle dreckig war. Anscheinend füllte sich die Höhle bei Flut mit Wasser.

„Los, schnell, lass uns einen anderen Ausgang suchen!“, sagte Zander panisch. Für einen weiteren Tornado hatte er noch nicht wieder genügend Kraft …

 

V2