Von Monika Heil
Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde. Schlaflos, voller Hoffnung und Zuversicht. Und nun ist er da.
Einen Neuanfang hatten wir uns gestern Abend versprochen. Den wievielten? Ich sehe die Irene vor mir, wie ich sie kennengelernt hatte, jung, zart, verletzlich. Ist das erst zehn Jahre her? Unauffällig blicke ich auf die schlafende Irene. Ihre Gesichtszüge sind hart geworden. Ihre jugendliche Lebhaftigkeit ist einer rastlosen Unruhe gewichen. Die Zärtlichkeit der ersten Jahre ist verschwunden. Ihre Stimmungen sind in letzter Zeit starken Spannungen unterworfen.
Ständig geht mir unser Dialog von gestern Abend durch den Kopf.
„Liebst du mich noch?“, hatte sie gefragt.
„Aber ja, natürlich.“ Ich wusste, das war nicht ganz ehrlich. Irene wohl auch. Dennoch erwiderte sie:
„Dann wird auch alles gut werden. Wenn du mich lieb hast, schaffe ich es. Der Urlaub wird uns helfen.“
„Das hast du schon so oft gesagt, Irene. Bitte, beweise es. Sei einmal stark. Auch meine Kraft ist bald erschöpft.“
„Ich weiß, es ist unsere letzte Chance. Ich werde sie nutzen.“
„Wenn du wieder rückfällig wirst, werde ich dich in die Klinik bringen müssen.“
„Nein, nein, ab morgen wird alles besser. Wir werden lange Spaziergänge unternehmen. Abends lesen wir oder sehen fern. Der Bungalow hat doch einen Fernseher?“
„Sicher.“
„Und wir gehen jeden Tag früh schlafen. Vielleicht …“
Sie vollendete den Satz nicht. Wie so oft zogen wir uns in erschöpftes Schweigen zurück.
Habe ich Finnland und das ziemlich einsam gelegene Ferienhaus ausgewählt, weil dort der Alkohol teuer und schwer zu beschaffen ist? Oder wollte ich nur weit weg vom letzten Urlaubsziel? Alles sollte anders sein. Die Ferien im letzten Jahr in der Toskana waren auch als Neuanfang geplant. Sie endeten jedoch in einer Katastrophe. In unbewachten Augenblicken hatte Irene immer wieder Wege gefunden, an Alkohol zu kommen. Wie an jenem Abend in der Hotelbar. Ich sehe die Szene vor mir, als sei es gestern gewesen.
„Noch einen Schlaftrunk“, bettelte Irene. „Ein Glas. Du weißt, ich liebe diese Baratmosphäre.“
Ich war ja so arglos.
„Ein Bier, ein Mineralwasser“, bestellte ich. Irene wies auf einen Gast im Hintergrund:
„Sieht der nicht aus wie Dr. Wellmann?“
Ich schaute in die angezeigte Richtung, drehte mich dann kurz zum Tresen, um meine Zigarette auszudrücken. Der Barkeeper war nicht schnell genug, so entdeckte ich die Wodkaflasche in seiner Hand. Schlagartig wurde mir bewusst, dass Irene wieder einen Weg gefunden hatte, mich zu hintergehen. Offensichtlich hatte sie den Mann bestochen. Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass Irene mich jeden Abend mit einer Bemerkung über irgend einen Gast im Raum abgelenkt hatte, bis die Gläser gefüllt waren.
Diesmal passe ich besser auf. Zu lange habe ich mich gegen die Erkenntnis gesträubt, dass Irene Trinkerin ist. Ich weiß, dass ich mit schuld bin. Viel zu oft habe ich sie allein gelassen, meinem Job alles untergeordnet. Das soll nun radikal anders werden.
„Ich liebe dich und deshalb freue ich mich, dass er nun endlich da ist der Morgen, der die Wende bringen wird,“ flüstere ich wieder voller Hoffnung und Zuversicht.
***
Seit vier Stunden sind sie nun schon auf der Autobahn.
Irene tut so, als ob sie schläft. Ihre Gedanken kreisen unablässig um den einen Punkt:
Ich brauche etwas zu trinken. Ich bin zu nervös. Nur ein Schlückchen. Dann werde ich viel entspannter sein. In Finnland trinke ich keinen Tropfen, aber jetzt, hier in Deutschland, ein letztes Mal. Sie räkelt sich, richtet sich auf. Alle Muskeln in ihrem Rücken empören sich über die schlechte Behandlung. Teilnahmslos starrt sie auf die vorbeifliegende Landschaft. Ein fremdes Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Ihr Gesicht. Sie greift nach der Karte und folgt, scheinbar interessiert, der vorgegebenen Route. Plötzlich durchfährt es sie wie ein Blitz, ihr Herz klopft heftig. Sie zwingt sich, äußerlich Ruhe zu zeigen. Ihrer Stimme ist keine Nervosität anzumerken, als sie fragt:
„Ist die nächste Abfahrt Celle?“
„In zehn Kilometern, warum?“
„Weißt du, dass dort das Grab meiner Eltern liegt?“
„Du hast es mir mal erzählt. Willst du hin?“
„Ja, unbedingt. Wenn wir schon mal so nahe vorbeikommen.“
Rainer wirft einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Gut. Es ist fast Mittag. Fahren wir runter und essen dann gleich in Celle.“
Unhörbar stößt sie die Luft aus. Der erste Schritt ist geschafft. Kurz darauf verlassen sie die Autobahn.
„Findest du den Friedhof? Kennst du dich hier noch ein bisschen aus?“
„Nicht sehr. Wir werden ihn schon finden.“
Als sie die ersten Häuser eines kleinen Vorortes erreichen, hält Rainer am Straßenrand. Irenes Stimme ist ganz rau, als sie eine Passantin nach dem Weg fragt.
„Da fahren Sie geradeaus bis zur nächsten Ampel. Dann rechts bis zum Krankenhaus. Daneben liegt der Friedhof.“
„Wie sinnig“, murmelt Rainer, als er wieder anfährt. Irene hat nur einen Gedanken. Noch fünf Minuten. Wie kann sie Rainer ablenken? Sie hofft auf einen glücklichen Zufall.
„Dort ist das Krankenhaus. Da ist sogar ein Parkhaus. Lass mich aussteigen. Parke du in Ruhe ein. Ich suche schon mal einen Blumenladen. Wir treffen uns am Friedhofseingang. Nimm dir Zeit.“ Ihre Wangen sind gerötet. Ihre Augen glänzen fiebrig. Steif wie eine Holzpuppe steigt sie aus. Ihr Herz rast davon, ihr Atem hinterher. Sie versucht, beide wieder einzufangen, zwingt sich, langsam zu gehen, solange Rainer sie noch im Rückspiegel beobachten kann. Ihre Blicke suchen die Gegend ab. Dort! Ein Reklameschild für Bier. Ein Zeitungskiosk mit Getränken, daneben ein Blumenladen! Sie hastet über die Straße.
Der Kioskbesitzer bedient einen älteren Mann im Trainingsanzug, der quälend langsam sein Geld zusammensucht.
„Ein Fläschchen Cognac bitte!“
Fast flehend sieht sie den Verkäufer über die Schulter des alten Mannes an.
„Langsam, junge Frau. Einer nach dem anderen. Wie beim Brötchenbacken.“
Aufgeregt blickt Irene in Richtung Parkhaus.
„Lieber Gott, lass ihn nicht so schnell einen Parkplatz finden“, betet sie lautlos. Es erscheint ihr endlos, bis der alte Mann sein Wechselgeld eingesteckt hat und den Platz an der schmalen Verkaufstheke frei macht.
„Cognac!“
Mehr bringt Irene nicht heraus. Der Verkäufer greift in ein Regal.
„Groß oder klein?“
Er hält ihr zwei Flaschen entgegen.
„Die kleine.“
Zitternd öffnet sie den Schraubverschluss. Verstohlen blickt sie sich um.
„Erst mal zahlen, Madame.“
Der Verkäufer will wieder nach dem Fläschchen greifen, doch Irene ist flinker. Mit einer fahrigen Bewegung dreht sie sich ab und setzt die Flasche an. Sie nimmt einen großen Schluck, atmet dann tief durch.
„Ich hatte Durst.“ Ihr Lachen klingt, als rollten Bleikugeln über ein Tablett aus Blech.
„Das sieht man“, knurrt der Kioskbesitzer. Er nimmt das Geld entgegen. Missbilligend schüttelt er den Kopf.
„So jung und schon so kaputt“, denkt er und betrachtet sie unauffällig. Eigentlich wirkt sie sehr gepflegt. Die blonden Haare trägt sie hochgesteckt, das Kostüm ist nach der neuesten Mode geschnitten. Nur ein leichtes Zittern ihrer Hände verrät sie. Er kennt sich da aus. Noch einmal schaut er in ihr Gesicht, registriert ein Erschrecken in ihren dunklen Augen, die eben noch geleuchtet haben. Er folgt ihren Blicken und sieht einen großen, gut aussehenden Mann auf den Kiosk zustürmen.
„Irene!“, schreit Rainer. Seine Stimme gefriert die Szene ein. Passanten bleiben stehen. Er achtet nicht darauf. Mit weit ausholenden Schritten läuft er auf den Kiosk zu. Irene steht starr vor Schreck. Die Flasche hält sie noch in ihrer rechten Hand.
„Mein Gott, Irene!“ Erschütterung liegt in seiner Stimme. Er schlägt ihr die Flasche aus der Hand. Mit einem unschönen „Klirr“ zerspringt sie am Boden. Sie ist leer.
Bei diesem Ton zerbricht in Rainer die letzte Hoffnung. Er weiß, seine Frau wird ihren ärgsten Feind nicht aus eigener Kraft besiegen können. Und er weiß, sie hat den Rest seiner Liebe in einem Augenblick der Schwäche vergeudet. Mit hartem Griff umfasst er ihren Arm und zieht sie in Richtung Parkhaus, ohne sich um die Scherben zu kümmern.
„Wir fahren nach Marbach zurück.“
„Nein!“, schreit sie. „Ich will auf den Friedhof!“
„Vergiss es!“, schleudert er ihr entgegen. Ein hartes Schluchzen erschüttert ihren Körper.
„Rainer, bitte! In Finnland trinke ich keinen Tropfen mehr. Bestimmt!“
„Schon gut, Liebes. Komm jetzt.“
Als der Kioskbesitzer mit einem Besen in der Hand aus dem Büdchen tritt, registriert er das müde Gesicht und die verschlossene Miene des Mannes. Unausgesprochen solidarisiert er sich mit dem Fremden, der langsam wieder in Richtung Parkhaus geht. Die Frau folgt ihm widerspruchslos.
***
Warum nur habe ich geglaubt, dieser Tag werde die Dinge ins Rollen bringen? Positiv ins Rollen bringen. Habe ich wirklich geglaubt, ab jetzt wird alles besser? Was bin ich doch für ein Narr. Ein riesengroßer Scheißnarr!
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