Von Miklos Muhi

Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.

In meiner Zelle, im Bett liegend, sprangen die Gedanken in meinem Kopf herum wie wilde Affen. Nicht nur die Aufregung verhinderte, dass ich einschlief. Die 40-Grad-Nächte brachten nur wenigen und oberflächlichen Schlaf.

Noch vor einigen Stunden beschäftigte mich die Gegenwart kaum. Drei Mahlzeiten am Tag waren mir sicher. Ich hatte ein Bett, eine eigene Toilette und Dusche. Die Tage vergingen eintönig.

Das beklemmende Gefühl des Unbekannten, die Zukunft, die mir bevorstand, fraß meine Tage auf. Ich hatte Fragen, auf die es keine verlässlichen Antworten gab, nur die Gewissheit, dass ich alles selbst erleben würde, sobald die Zeit gekommen war.

Datum und Uhrzeit standen schon fest. Alles war detailliert bis auf die Minute geplant. Während ich tiefer im Morast meiner fruchtlosen Grübeleien versank, fing man an, den Ablauf zu organisieren.

*

Das Letzte, woran ich mich aus meiner Freiheit erinnere, waren das Hämmern gegen die Eingangstür und die Stimmen, die ich durch die zerfallenden Fetzen eines Traumes wahrnahm. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was die Männer vor dem Haus brüllten.

»Polizei! Sofort aufmachen! Wir haben einen Haftbefehl!«

Ich kletterte aus dem Bett, warf meinen Morgenmantel über und begab mich zum Eingang, um die Tür zu öffnen. Krachen und grelles Licht von Taschenlampen verrieten mir, dass es zu spät war. In wenigen Sekunden wurde ich von einigen Beamten gegen die Wand gedrückt. Die Welt hinter dem Leuchten versank in eine unnatürliche Dunkelheit.

»Sind Sie Ed Parker?«, fragte eine Männerstimme.

»Ja, das ist mein Name. Was ist hier los? Wer sind Sie?«

»Sie werden verdächtigt, Eliza Fender umgebracht zu haben. Wir haben einen Haftbefehl gegen Sie. Sie haben das Recht zu schweigen …«

Den Rest der Standardformel nahm ich kaum wahr, genauso, wie die Schmerzen. Diese kamen davon, dass man mir die Arme auf den Rücken gedreht und die Handschellen angelegt hatte.

Während der Fahrt zum Präsidium schwieg man. Die Kolonne fuhr mit Blaulicht. Der Krach der Einsatzhörner zerriss die nächtliche Stille der Kleinstadt.

Im Verhörraum ließ man mich lange allein. Sobald zwei Beamten zum Verhör aufgetaucht waren, setzte ich alles auf eine einzige Karte:

»Ich verlange einen Anwalt!«

»Kommen Sie uns nicht mit diesem Geschwätz!«, brüllte man. »Gestehen Sie und dann sind wir fertig.«

Ich wiederholte die Forderung und die zwei verließen den Verhörraum.

*

Mein Verteidiger unternahm alles Mögliche, um zu verhindern, dass der Fall überhaupt zur Verhandlung kam. Die erdrückende Beweislast, von der die Beamten sprachen, bestand aus Bildern minderer Qualität einer Sicherheitskamera. Die Polizei veröffentlichte ein Phantombild des Täters zusammen mit den Aufnahmen und bat die Bevölkerung um Hilfe. Man lieferte einige Hinweise und ich hatte den Großen Preis gewonnen.

Vor der Ära der DNS-Beweise wog die Behauptung, dass der Täter Handschuhe trug und deshalb keine Fingerabdrücke gefunden wurden, schwer. Genauso verhielt es sich mit der Meinung des Video-Experten, für den der Fall nur eine weitere Rechnung war, die er dem Gericht stellte.

Meine Vorstrafen brachten die Anklage ebenfalls zügig voran.

Es kam zur Verhandlung. Für die Staatsanwältin, die sich im darauffolgenden Jahr zur Wahl zu stellen hatte, waren die Beweise ausreichend. Ich selbst wurde nie in den Zeugenstand gerufen. Mein Anwalt beschränkte sich mangels eines Alibis darauf, Zweifel am von der Staatsanwaltschaft präsentierten Ablauf zu sähen.

Die Saat keimte nicht. Die Geschworene waren sich einig: Ed Parker hatte Eliza Fender umgebracht. Der Richter war der Meinung, dass ich damit den Tod auf dem elektrischen Stuhl verdient hatte.

Die späteren Versuche, eine Revision zu erwirken, schlugen fehl. Mit dem Urteil war man zufrieden. Nur ich hatte etwas dagegen einzuwenden. Aber wer hörte schon auf einen vorbestraften und rechtskräftig verurteilten Mörder.

*

Es war schon dunkel, als der diensthabende Wachmann vor meiner Zellentür aufgetaucht war.

»Wenn es wieder um die Henkersmahlzeit geht, sage ich es nochmal: Ich will nichts essen. Ich werde eingeäschert, noch bevor ich irgendetwas verdauen kann. Nicht einmal die Würmer hätten etwas davon.«

»Das haben wir schon begriffen. Ihr Anwalt möchte Sie sprechen. Wollen Sie?«, fragte der Beamte.

»Warum nicht?«

Nachdem zahlreiche Gittertüre, gefertigt aus dicken Stahlrohren und Platten, geöffnet und wieder geschlossen waren, nahm ich gegenüber meinen Anwalt Platz. Der Rechtsvertreter wirkte aufgeregt.

»Wie laufen die Vorbereitungen für den großen Tag?«, fragte ich.

»Lassen wir das vorerst. Man hat uns endlich erlaubt, die Beweise Ihres Falles nochmal vorzunehmen«, antwortete der Anwalt und breitete zahlreiche Blätter aus.

Das Gespräch dauerte eine Stunde. Ich hatte einige Kenntnisse im Thema Forensik aufgeschnappt, doch Biologie und computergestützte Bildanalyse waren nicht meine Stärken. Die Erklärungen verstand ich nur teilweise.

»… was zeigt, dass es selbst mithilfe modernster Technik keine stichhaltigen Beweise gibt, dass Sie überhaupt dabei waren«, sagte der Anwalt.

»Und was heißt das?«

»Ich habe heute Nachmittag einen dringenden Antrag auf Zulassung einer Revision Ihres Falles gestellt. Morgen gibt es dazu eine Entscheidung. Wir haben neue Kenntnisse gewonnen, die sich aus einer Neuauswertung der Beweislage ergeben. Ich bin optimistisch.«

»So weit ist es also gekommen? Wir müssen beweisen, dass ich unschuldig bin. Liegt die Beweislast nicht beim Staat Texas?«

»So lautet die Theorie, Ed. Wie das in der Praxis aussieht, haben Sie selbst erlebt. Sollten wir Erfolg haben, werden Sie nicht nur auf freien Fuß gesetzt. Ihnen steht eine hübsche Stange Geld als Entschädigung zu.«

»Danke. Bitte lassen Sie mich wissen, wenn es etwas Neues gibt«, sagte ich. Es kostete eine gehörige Portion Anstrengung, meine Aufregung zu verstecken.

»Selbstverständlich mache ich das. Kopf hoch!«

*

Nach einer Woche war ich entlassen, zuerst auf Bewährung. Staatsanwältin und Richter, die mich in diese Lage gebracht haben, waren schon verstorben.

Weitere zehn Tage dauerte es bis zum Freispruch.

Neben Freude und Erleichterung darüber, dass ich weiterhin an dieser verrückten Welt teilhaben würde, hinterließ der Abschied vom Todestrakt ein mulmiges Gefühl in mir. Die anderen 50 Insassen hatten nicht das Glück, das ich hatte.

Der erste Tag in der Freiheit war trüb und nachdenklich. Die kurzen Interviews, die ich gab, waren die Kompositionen meines Rechtsvertreters. So richtig Lust zum ganzen Trubel hatte ich nicht.

Unsere Klage für die Entschädigung, die mir nach dem Gesetzt zustand, führte auf einem verdächtig schnellen Weg zu einem Urteil zu meiner Gunsten. Der Staat Texas ließ sich nicht lumpen. Man brauchte wohl die Aufmerksamkeit im Wahljahr nicht und zahlte geschwind und in aller Stille die geforderte und zustehende Summe.

Erst nach zwei Monaten wagte ich mich allein auf die Straße. Das schnelle Geschäft mit Nachrichten warf neues Fressen vor die wankelmütige Gesellschaft. So hatte man mich vergessen.

Nur ich sah mich nicht imstande, meinen Leidensweg aus den Erinnerungen zu verdrängen.

*

In meinem Alter hieße der Besitz solcher Summen, die ich als Entschädigung für 30 Jahre Kost und Logis zur Lasten der Steuerzahler bekommen habe, dass ich nie wieder arbeiten muss. Aber das wäre langweilig. So habe ich eine Stiftung zur Unterstützung zum Tode verurteilter Menschen gegründet.

Wir bezahlen Anwälte und forensische Spezialisten, die die Beweise neu auswerten. Falls sich nichts Neues ergibt, wird die Zusammenarbeit beendet.

Das kommt erschreckend selten vor. Nur die Tötungsmaschine läuft zuverlässig wie ein Uhrwerk. Sobald alle menschliche Rädchen nach bestem Wissen und Gewissen ihren Beitrag geleistet haben, ist es zu spät.

 

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