Von Nadine Fornacon
„Flaubert!!!“ Seine Stimme donnert durch die geschlossene Tür in den Flur.
Der vertraute, eiskalte Schauer jagt durch mich hindurch. Die Angst vor dem nächsten Schritt steckt mir in den Gliedern. Das Kind, das in der dunkelsten Nacht seines Lebens alleingelassen wird, erwacht.
Die Aura meines toten Vaters schwebt noch immer im Haus.
Vor ein paar Tagen hat er das Zeitliche gesegnet. Seinem Leben ein Ende gesetzt. Endlich erkannt, dass er hier nichts mehr verloren hat. Dieses Zimmer ist die letzte Verbindung zu ihm. Das Übertreten der Schwelle zu seinen Lebzeiten verbotenes Terrain.
Strafbare Zone.
Sein Reich.
Alles in mir will auslöschen und vergessen.
Diesen Ort.
Meinen Vater.
Dann bin ich endlich frei.
Sein Ende ist der Beginn meines Lebens.
Sein Tod bedeutet meine Neugeburt.
Rückblick. Ich bin 40 Jahre jünger und gerade Schulkind geworden. Auf seinem Tisch fand er einen Zettel mit einer Notiz von mir. Es sollte eine Überraschung sein. Ich war so stolz, dass ich meinen Namen schreiben konnte. Bald würde ich in seine Fußstapfen treten. Ich wollte mich in Bücher versenken, Texte schreiben und Zeilen füllen. So wie er.
Oh, wie stolz er auf mich wäre. Er würde mir zum ersten Mal seine Anerkennung schenken.
Doch nichts von dem geschah. Seine Wut ähnelte einer Explosion, als er bemerkte, dass ich ohne seine Erlaubnis das Arbeitszimmer betreten habe. Die körperliche Lektion, die er mir danach erteilte, hallt noch heute in mir nach.
Gnadenlos. Wütend. Kalt.
Nie wieder wollte ich dieses Zimmer betreten. War mein Vater in der Nähe, phantasierte ich mich in andere Welten. Gab ihm zu verstehen, dass ich seine Hasstiraden und Demütigungen überhörte.
Wachsam wie ein Luchs beobachte ich jedoch alles, was um ihn herum geschah.
Seine nächtlichen Damenbesuche in diesem Zimmer, während meine Mutter schlief.
Seine Wutanfälle hinter der Tür, die er mit sich austrug. Den Klang seiner Stimme, wenn er nach mir rief.
Wann immer es möglich war, ging ich ihm aus dem Weg und reagierte nur auf das, was er forderte, wenn er vor die Tür trat. Traute mich in seine Nähe, wenn er nicht allein war. Er wirkte dann wie ein loyaler optimistischer, ehrenhafter Familienmensch. Doch mit dem Schließen der Haustür blieb nur der Tyrann.
Meine Mutter lieferte sich ihrem eigenen seelischen Schmerz restlos aus. Alle Hoffnung ging in den Jahren verloren, dass sie mich vor ihm beschützen würde.
Niemals stellte ich Fragen. Rollte mich ein wie ein Igel im Winterschlaf und zeigte nur meine Stacheln. Ich wollte das Haus nicht verlassen, oder nach einer Frau suchen oder schlimmer noch: eine Familie gründen. Die Spuren, die er hinterließ, gaben nur eine Richtung vor: Bleib allein und schade niemandem. Warum sollte man einen Menschen wie mich lieben? Niemand verbrachte freiwillig Zeit mit mir. Weder draußen noch hier drinnen. Nur dieser eine Weg zeigte mir die Richtung.
Ich verstand das Leben als Reaktion auf alles bisher Geschehene.
Mein Vater hinterließ Spuren, die ich lieber verwischen wollte, ohne zu wissen wie.
Jetzt ist er tot. Ohne Anweisungen oder Befehle stehe ich an der Schwelle. Dieses Zimmer mit all seinen Büchern und Geschichten muss verschwinden. Nichts soll mehr an ihn erinnern. Dieser Raum soll das Gegenteil meines Vaters sein – mit freundlichen Farben, einladenden Fensterläden und einer stets offenen Tür.
Während sich draußen die Wolken verdichten und die Sonne verschwindet, trete ich über die Schwelle. Es fühlt sich an wie ein Sprung aus großer Höhe. Die alte Zeit zieht mich förmlich hinein. Fast wie von selbst schrumpfe ich, werde zum Kind. Den Kopf gebeugt und abwartend, was als Nächstes kommt.
Hilflos. Orientierungslos.
Dieser Tisch aus dunklem Eichenholz- ausreichend groß für einen Diktator. Regale, die bis zur Decke mit Büchern gemauert sind. Der Gong der Wanduhr erinnert daran, wann er heraustritt, um seine Mahlzeiten einzunehmen. Sein Blick zur Tür, weil ihm nichts entgehen soll. Der abgestandene Tabakgeruch, der mir aus dem Aschenbecher beißend in die Nase steigt. Das Gemüt meines Vaters spiegelt sich in allen Facetten wieder.
Das Kind in mir ist haltlos, der Gürtel über dem Stuhl mahnt noch immer an die Vergangenheit. Wie weit bin ich gerade von seinen Regeln entfernt, hier, in seinem Raum?
Wer klopft draußen an der Tür? Es ist mir gleichgültig, denn ich bin in meiner Welt. In der Ferne dröhnt Donnerhall.
Die bleierne Schwere wird unerträglich, als ich an seinen Schreibtisch trete.
Eine Stimme verbietet mir, auf diesem Stuhl Platz zu nehmen, doch ich überhöre sie.
Der platzierte Brief auf dem Tisch ist an mich gerichtet. Mit zitternden Fingern öffne ich den Umschlag.
„Flaubert. Ich weiß, ich sollte Dich mit ´mein Sohn´ ansprechen, aber Du warst dieser Rolle nie würdig. Selbst jetzt hast du vermutlich die Regel gebrochen und sitzt an meinem Schreibtisch.
Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr am Leben. In gewisser Weise warst auch Du an meinem Tod beteiligt, denn Du hast mir nie Deine Liebe gezeigt. Doch wisse: Dein Vater ist DER Mensch, der über dich bestimmt. Über den Tod hinaus. Niemand außer mir kann über Dich richten.
Verkaufe dieses Haus und allen Inhalt und spende es dem Armenhaus, so wie ich es all die Jahre schon in kleinen Beträgen getan habe. Man schätzt meine Großzügigkeit und rechnet verlässlich mit der Unterstützung. Lass dies wenigstens eine gute Tat in Deinem Leben und als mein Erbe sein. Leb wohl und wage es nicht, meinen Ruf zu schänden. V.“
Seine Zeilen rauschen durch mich hindurch. Ich beuge mich nach vorn. Ziehe ein leeres Blatt aus dem Stapel und antworte. Zum ersten Mal wage ich Widerspruch und teile ihm mit, was ich tun werde. Seine Forderungen ziehen an mir vorbei. Triumphierend füllt sich eine Zeile nach der anderen. Ich schreibe und schreibe, entzünde seinen Kerzenstumpen, nehme das Prasseln des Regens draußen wahr, ohne die Feder abzusetzen.
Von nun an entscheide ich.
Er hat keine Macht mehr über mich.
Ich bin, wer ich sein will.
Beim dritten Klopfen an der Tür, fordere ich zum „Herein“ auf. Da steht sie – durchnässt im Türrahmen, entschuldigt sich, weil sie wissen will, wie es mir geht nach dem Tod von ihm. Ich eile ihr entgegen und helfe ihr, sich zu trocknen. Während wir Tee trinken, schaut sie sich im Arbeitszimmer um. Wir vergessen uns in Geschichten, lesen aus Büchern vor. Alles braucht seine Zeit.
Als sie zu ihrer kranken Mutter zurückgeht, geleite ich sie zur Tür. Am Horizont zeigt sich ein Regenbogen.
Während die Geister der Vergangenheit davon ziehen, umfängt mich ungeahnte Freude.
Das Leben endet nicht mit dem Tod.
Vielleicht für den Toten selbst.
Doch für den, der ihm am Nächsten steht, kann es der Schritt in ein neues Leben sein.
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