Von Irmi Feldman

 

Die Zeichen waren überall. Seit Tagen, ja sogar Wochen konnte jeder sie sehen. Und doch beachtete sie niemand. Die toten Kühe am Berghang? Vom Blitz getroffen. Die schwefelhaltige Luft? Gewitter im Anzug. Die wie verrückt kreischenden Vögel? Bussard auf der Jagd. Ja, nicht einmal dem Tod eines Schäfers, den man wie friedlich schlafend auf der Hochweide fand, maßen die Bewohner Pompejis Bedeutung zu. Zu lange lag der letzte Ausbruch des Vesuvs zurück.

 

Das Erdbeben, das die Stadt fast zerstört hatte, lag nun auch schon wieder siebzehn Jahre zurück. Der Mensch vergisst schnell, und dass, obwohl Pompeji noch nicht wieder ganz aufgebaut war und viele Häuser, Tempel und Markthallen noch in Schutt und Asche lagen. Trotz allem ging es mit Pompeji aufwärts, denn der Boden rund um die Stadt war fruchtbar und der immer noch andauernde Wiederaufbau schaffte Arbeit für alle. Die Reichen wurden reicher, und die Armen hatten ihr spärliches Auskommen.

 

Der jährliche Wahlkampf näherte sich dem Ende. Nur drei Bewerber auf das Amt des Stadtoberhauptes waren übriggeblieben. Ihre Botschaften schmückten oder verunzierten, je nachdem auf welcher Seite man stand, die Wände der Häuser und Stadtmauern. Wie es aussah, würde Justinus wohl gewinnen. Nicht, weil er die beste Botschaft hatte. Oh, nein, gemäß althergebrachter Gewohnheit waren die Versprechen der Amtsanwärter eher vage. Man wollte sich schließlich nicht festlegen. Daraus könnte einem später ein Strick gedreht werden, wenn man die versprochenen niedrigen Brotpreise oder die Reparatur des wasserversorgenden Aquädukts nach Wahlgewinn nicht vorantreiben konnte, oder, was eher wahrscheinlich war, nicht vorantreiben wollte. Denn einmal gewonnen, interessierte sich keiner mehr für das, was er im Wahlkampf versprochen hatte.

 

Justinus, der der alteingesessenen Oberschicht der Samniter angehörte, würde gewinnen, weil er das meiste Geld aufbringen konnte, nicht zuletzt, weil er die Reichen und Einflussreichen auf seiner Seite hatte. Denen, nämlich, hatte er in privaten Fressgelagen versprochen, ihre Steuern gewaltig zu senken. Von diesen Gelagen war die Allgemeinheit selbstverständlich ausgeschlossen, denn den dreckigen Pöbel ließ man nicht in seine mit herrlichen Mosaiken ausgeschmückten Häuser. Dass Informationen wie diese trotzdem an die Öffentlichkeit drangen, war den Sklaven zu verdanken, die natürlich bei solchen Gelagen servierten. Sklaven wurden von jeher von der Obrigkeit eher als Möbelstück angesehen, vor denen man selbstverständlich kein Blatt vor den Mund nehmen musste.

 

Justinus rieb sich die Hände. Er stand im Atrium seines herrschaftlichen Hauses, das eines der größten in Pompeji war und eher einem Palast als einem Bürgerhaus glich. Nur noch eine Woche bis zur Wahl am 24. Oktober. Und danach. Der Sieg. Endlich.

 

***

Hoch oben auf seinem Vulkan saß Gott Vesuvius, und starrte missmutig auf Pompeji hinab. Wenn die sich heuer wieder so knauserig zeigen wie letztes Jahr, dachte er beleidigt, dann kracht’s aber. Denn letztes Jahr, an seinem Festtag, hatten sie ihm nur ein lächerliches Schaf geopfert. Dachten diese eingebildeten Pompejaner etwa, dass ein Schäfchen sie vor einem Ausbruch beschützen könnte?

 

Die Sizilianer, ja, die wussten, wie man einen Gott verehrt. Letztes Jahr hatten sie dem Ätna ein Nilpferd aus Ägypten geopfert. Man stelle sich nur vor, ein Nilpferd. Aus Ägypten. Und die auf der Insel Stromboli hatten sogar einen Löwen geopfert. Zugegeben, es war ein ausgedienter Löwe aus dem Kolosseum in Rom gewesen. Billig hatten sie ihn erstanden. Aber immerhin!

 

Der Neid auf seine Mitgötter fraß Vesuvius fast auf. Wie stand er denn da vor den anderen Göttern? Er sah sie schon vor sich, die mitleidigen, die geringschätzigen, die herablassenden Blicke. Gerade der in Sizilien. Der Ätna. Der Angeber. Der Protz, der sich immer damit brüstet, wie sehr die umliegende Bevölkerung ihn schätzte. Warum musste gerade er, Vesuvius, sich mit diesen geizigen Pompejanern herumschlagen? Das hatte er, beim Jupiter, nicht verdient.

 

Doch jetzt hatte er genug. Mit einem mickrigen Schaf würde er sich dieses Jahr nicht zufriedengeben. Daran, dass sie ihm vor fünf Jahren drei kleine Häschen geopfert hatten, dachte er besser nicht. 

 

Schon musste er daran denken. 

 

Er schäumte vor Wut. Er rauchte. Er zürnte. Er kochte. Doch es schien, dass all seine Anstrengungen, mit denen er die Pompejaner auf seinen Zorn habe aufmerksam machen wollen, umsonst gewesen waren. Niemand störte sich an der schwefelhaltigen Luft. Keiner erschrak wegen der aufsteigenden Rauchwolke. Nicht mal den toten Schäfer nahmen sie ernst, diese vermaledeiten Pompejaner.

 

Und so kam es, dass Vesuvius sich eine Woche vor dem Wahltag gezwungen sah, von seinem Berg herunterzusteigen und den zu besuchen, der seiner Meinung nach den größten Einfluss hatte: Justinus, das zukünftige Stadtoberhaupt.

 

Justinus staunte nicht schlecht. Der Besuch eines Gottes! Ein gutes Omen für den Ausgang der Wahl.

 

Vesuvius kam gleich zur Sache. Zum jährlichen Fest des Vesuvs, das dieses Jahr mit dem Wahltag zusammentreffe, wünsche er sich als Opfergabe einen weißen Stier. Auf gar keinen Fall dürfe es wieder ein mickriges Schaf sein wie letztes Jahr.

 

Justinus schluckte. Woher er auf so kurze Zeit einen weißen Stier nehmen solle? Dass die Stadtobersten beschlossen hatten, dem Gott auch dieses Jahr nur ein Schäfchen zu opfern, verschwieg er.

 

Das sei ihm egal, donnerte Vesuvius. Ein weißer Stier müsse es sein. Unbedingt. Wo sie den hernehmen, sei ihm schnurzegal.

 

Justinus versuchte zu feilschen, wie er das gewohnt war. Wie wäre es denn mit einer Wildsau? Einem Elch? Einem Rehbock? Vesuvius blieb stur. Er erzählte vom Stromboli, der im letzten Jahr einen Löwen geopfert bekam. Ganz zu schweigen vom Nilpferd für den Ätna. Da sei ein weißer Stier ja wohl nicht zu viel verlangt. Oder?

 

Als gewiefter Politiker, versprach Justinus, dass er alles tun werde, um Vesuvius‘ Wunsch zu erfüllen. Insgeheim fluchte er. Vielleicht war es an der Zeit mit dieser Vielgötterei aufzuhören. Immer diese teuren Opfergaben. Wo käme man da hin? Und die Götter werden immer aufmüpfiger. Verlangten jedes Jahr mehr. Die Christen, mit ihrer neuen Religion, hatten nur einen Gott. Der verlangte keine Opfer. Justinus überlegte, ob er das Christentum mit in seinen Wahlkampf aufnehmen sollte. Aber gleich darauf verwarf er diesen Gedanken. Nein, er wusste von zu vielen Gegnern hier in der Stadt. Viele Reiche. Die würden ihm sofort ihre Stimme, bzw. ihr Geld entziehen. Nein, entschied Justinus, die Pompejaner waren noch nicht reif für diese neue Religion.

 

Am nächsten Tag beriet Justinus sich mit den Stadtobersten. Ein weißer Stier? War Vesuvius übergeschnappt? Viel zu teuer. Da waren sich alle einig. So einer koste mindestens 3000 Sesterze. Hiragatus meldete sich. Sein Bruder wohne nicht weit von hier außerhalb der Stadt. Der besitze einen Stier. Einen Schwarzen zwar, doch den könne man schon für 500 Sesterze haben.

 

„Perfekt!“, rief Justinus und zeigte, ohne zu zögern, auf den Kübel mit der weißen Farbe, mit der er und seine Helfer schon seit Wochen seinen Namen an die Wände der Stadt pinselten.

 

Noch am selben Tag schickte Hiragatus einen Boten zu seinem Bruder aufs Land, um den Stier zu kaufen. In der Nacht vor dem Wahltag wurde, klammheimlich, aus dem schwarzen Stier ein Weißer.

 

Der 24. Oktober im Jahre 79 n.Chr. ließ sich gut an. Die Menge zog in einer langen Prozession zum Tempel des Vesuvs, um der Opferung des weißen Stiers beizuwohnen. Danach würde man auf dem Forum wählen. Wie jedes Jahr, würde der Priester das Opfertier töten, es ausbluten lassen, danach die Eingeweide herausschneiden und mit der Eingeweideschau beginnen. In der Unversehrtheit der Organe würde der Priester erkennen, – natürlich total unbeeinflusst vom Wunsch der Obrigkeit -, dass Vesuvius das Opfer annimmt und den Pompejanern für ein weiteres Jahr gut gesinnt sei.

 

Alles hätte gut ausgehen können. Vesuvius auf seinem Berg sitzend, hatte wohlwollend den weißen Stier betrachtet.

 

Doch sie hatten die Rechnung ohne Tempesta, der Göttin des Sturmes, gemacht.

 

Tempesta war heimlich in Vesuvius verliebt, doch der hatte sich nie sehr für sie interessiert. Ja, er hatte sie einmal sogar vor anderen Göttern verhöhnt, was Tempesta ihm nie verzieh. Sie wusste nicht, dass der weiße Stier eigentlich ein Schwarzer war, aber wenn es galt, Vesuvius den Tag zu versauen, war sie dabei. Der sintflutartige Regen aus dem Nichts erschreckte alle. Doch nicht so sehr wie die Verwandlung des weißen Stieres in einen Rabenschwarzen.  

 

Vesuvius traute seinen Augen kaum. Die Pompejaner hatten ihn hereingelegt. Hatten sich über ihn lustig gemacht. Diese Schmach. Diese Blamage. Diese Beleidigung. Sein Fass lief über. Die Explosion war gewaltig. Eine riesige Rauchwolke, gefolgt von Steinen und Lava ergoss sich kilometerweit in den Himmel, der sich sogleich verdunkelte.

 

Es regnete Bimssteine. Faustgroß prasselten sie auf Pompeji herab. Die Panik war immens. Viele flüchteten in ihre Häuser, was ein großer Fehler war, denn die Steine schlugen Dächer ein und füllten die Straßen, so dass die Bewohner in ihren Häusern gefangen waren. Andere wiederum liefen, ihre Köpfe mit Kissen oder Decken vor den herabfallenden Steinen schützend, hinunter zum Hafen in der Hoffnung einen Platz in einem Boot zu ergattern. Anders als die Armen, die nur ihr Leben zu retten hatten, versuchten die Reichen nicht nur Leben, sondern auch Hab und Gut zu retten.

 

Stundenlang wütete Vesuvius. Wer nicht vom Gestein erschlagen wurde oder an den Schwefelgasen erstickte, wurde zuletzt von der gewaltigen Glutlawine überrollt.

 

Auch Justinus fiel Vesuvius zum Opfer. Mit vollgestopften Taschen hatte er versucht, sich einen Weg aus der Stadt zu bahnen. Natürlich vergeblich. Sterbend am Boden liegend, kam er zu der Erkenntnis, dass ein 3000 Sesterze teurer weißer Stier am Ende doch billiger gewesen wäre.

 

Aber hinterher ist man ja immer klüger.

 

V2; 9972z