Von Andreas Schröter
Seit dem verkorksten Interview mit dem Rockstar Meat Loaf hatte ich in der Redaktion wenig zu lachen. Ich habe sein breites Texanisch schlicht nicht verstanden. Hatte er nun gesagt, dass er Germany mag, oder dass es ihm am Allerwertesten vorbeigeht? Mein Chefredakteur meinte daraufhin: „Schneider, so geht es nicht weiter. Ich habe Ihnen eine dreimonatige Hospitanz bei einer Zeitung in England besorgt – plus Englisch-Intensivkurs. Das ist ja peinlich, was Sie hier abliefern.“
Ich machte ein betretenes Gesicht, doch innerlich veranstaltete ich zugleich Jubelsprünge. Drei Monate raus aus dem Puff! Was konnte es Schöneres geben?! Ich sollte nach Exeter in die Grafschaft Devon, weil mein bekloppter Chef dort einen Bekannten hatte, der mich beim „Express & Echo“, einer dortigen lokalen Zeitung, unterbringen konnte. Aber nur vormittags. Nachmittags wäre dann Englisch pauken bis zum Abwinken angesagt.
***
Exeter empfing mich mit dem berühmten englischen Nebel. Viel weiter als 20 Meter konnte ich nicht gucken. Hinzu kam, dass meine Hospitanz in die Wintermonate fiel, es also morgens lange nicht hell, dafür aber nachmittags früh dunkel wurde. Mein England-Klischee erfüllte sich vom ersten Moment an: dunkel, regnerisch, kalt, nebelig und trüb. Der „Bekannte“ meines Chefs ließ sofort durchblicken, dass er alles andere als erfreut war, mich an der Backe zu haben. Es ging wohl um irgendeine alte Geschichte um Spielschulden, in die er mit meinem Chef aus Germany verwickelt war, weswegen er diesem Deal überhaupt zugestimmt hatte.
Auch die anderen Kollegen in der Redaktion empfingen mich nicht eben herzlich. Der Lokalchef sagte bei der Begrüßung frei heraus: „Passen Sie auf, Mister Schneider, wir haben hier gerade richtig Stress, weil erstens drei Kollegen krank sind und zweitens ein Serienmörder herumläuft, der schon drei Kinder getötet hat. Ich möchte bei dem Thema nicht ins Hintertreffen geraten, nur weil wir uns um einen Kraut mit schlechten Sprachkenntnissen kümmern müssen. Versuchen Sie einfach, nicht im Weg zu stehen.“
Das tat ich und erlebte fortan die langweiligsten drei Wochen meines bisherigen Lebens. Für die anderen Redaktions-Mitglieder war ich schlicht Luft. Erst in der vierten Woche änderte sich die Situation: Einer der Redakteure hatte einen anonymen Hinweis bezüglich der Adresse des mutmaßlichen Mörders erhalten. Doch was sollte man mit einer solchen Information machen? Hingehen und klingeln? „Guten Tag, Express & Echo, sind Sie der gesuchte Massenmörder?“ Nach langem Hin und Her entschied der Chef, dass wir trotz unserer klammen Personaldecke eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung des Hauses starten sollten. Und da kam endlich ich ins Spiel: Ich sollte in den ersten Tagen die Nachtschicht übernehmen. Dafür durfte ich dann an den Vormittagen zu Hause bleiben – eine Win-Win-Situation. Mich wunderte ja, dass die Redaktion nicht umgehend die Polizei informierte, aber offenbar badete der Chef in der Genugtuung, etwas vor der Polizei zu wissen, und er sah überhaupt keinen Grund, an diesem für ihn angenehmen Zustand etwas zu ändern. Widerling! Irgendwie glich er meinem Chef zu Hause.
***
Ja. Ich geb’s zu: Ich hatte in der ersten Nacht eine Scheiß-Angst. Das betreffende Haus lag an einem Weg, für den sowas wie Straßenbeleuchtung offenbar pure Science-Fiction war. Es war stockdunkel. Auch trieben Nebelschwaden vom nahen Ärmelkanal immer wieder über die Landschaft, was die Sicht weiter erschwerte. Ich hatte die Aufgabe, bewaffnet mit einem Fernglas, das Haus zu überwachen und Verdächtiges zu notieren. Ansonsten hatte ich die strikte Anordnung, mich zurückzuhalten. Zunächst tat sich rein gar nichts. Mir kroch die Kälte in die Knochen, und ich begann, diesen Job doch nicht so toll zu finden, wie anfangs geglaubt. Gegen 1 Uhr wurde es dann aber spannender: Die Eingangstür wurde von innen geöffnet, und der Verdächtige trat heraus. Es war ein relativ kleiner Mann mit weichen Gesichtszügen. Der sollte ein Kindermörder sein? Er hatte einen Beutel dabei, den er nun zur Mülltonne trug. Dort angekommen, warf er den Inhalt hinein. Dann riss er ein Streichholz an und steckte den Mülltonnen-Inhalt in Brand. Ich zog mich etwas zurück, denn plötzlich war es wegen der Flammen gar nicht mehr so dunkel. Das Feuer brannte 20 Minuten. Erst dann begab der Bewohner sich zurück in sein Haus. Mein Puls hatte schon lange rekordverdächtige Werte erreicht. Sollte ich …? Eigentlich hatte es der Chef ja verboten. Egal – auf allen Vieren und möglichst jedes Geräusch vermeidend krabbelte ich Richtung Mülltonne, nachdem im Haus das Licht gelöscht worden war. Ich spähte hinein. Nichts als stinkende und immer noch leicht kokelnde Asche. Auf die Gefahr hin, von innen gesehen werden zu können, schaltete ich das Licht meines Handys an, schirmte es mit der Hand so gut es ging ab und leuchtete hinein. Verdammt, waren das in der rechten Ecke vielleicht die Reste eines Kinderschuhs? Vor Schreck stieß ich mit dem Knie gegen die Blechtonne, was einen höllischen Schmerz verursachte und außerdem einen Ton ergab, der dazu führte, dass im Haus das Licht wieder anging. Heilige Scheiße.
Zwei Minuten später stand der mutmaßliche Kindermörder mit einer Schrotflinte in der Tür und rief: „Ist da jemand?“ Ich hatte mich flach auf den Boden geworfen und hoffte inniglich, dass mich die Büsche neben der Mülltonne vor seinem Blick verbargen. Wenn er jetzt näherkäme, wäre es das gewesen. Dann müsste ich mir keine Sorgen mehr um mein schlechtes Englisch machen. Er kam nicht näher. Nach einer gefühlten Ewigkeit murmelte er, soweit ich es übersetzen konnte: „Scheiß-Waschbären. Ich werde die Viecher ausrotten.“
***
Am nächsten Morgen überlegte ich, ob ich den Kollegen von meinen nächtlichen Erlebnissen berichten sollte. Ich entschied mich dagegen. Ich hätte mir eine ganze Reihe von unangenehmen Fragen gefallen lassen müssen. „Hast Du ein Foto von dem Kinderschuh gemacht?“ Hatte ich in meiner Panik nicht. „Wieso hast Du Dich in Gefahr begeben? Das war doch strengstens verboten.“ Und so weiter. Ich beschloss, das Foto in der kommenden Nacht nachzuholen.
***
Gegen 2 Uhr – das Licht im Haus war seit etwa einer Stunde aus – schlich ich erneut zur Mülltonne …
… hob den Deckel an …
… schaltete die Handylampe an …
… leuchtete hinein …
… und sah:
nichts.
Die Tonne war leer.
Im selben Moment ertönte hinter mir eine schneidende, unangenehm schrille Stimme: „Was treibst Du an meinem Haus, Du Bengel?“
Mit lautem Scheppern fiel der Deckel auf die Mülltonne. Ich erschrak in einem Maße, das man nur mit der sprichwörtlichen Gänsehaut beschreiben kann, die mir unverzüglich über den Rücken kroch. Ich fuhr herum und erblickte den Hausbewohner, der mit der Schrotflinte auf mich zielte. Ich weiß bis heute nicht, wie es mir gelungen ist, dem nachfolgenden Schuss auszuweichen, der mit ohrenbetäubendem Lärm gegen die Blechtonne knallte.
Nun sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich früher in der Schule ein Leichtathletik-As war. Ich konnte ziemlich gut rennen. Und das tat ich nun. Seltsam war, dass mir der Schrotflinten-Mann nicht folgte. Auch feuerte er keinen weiteren Schuss ab. Stattdessen hörte ich ein Geräusch, das nicht minder unangenehm war. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll: eine Art Winseln, gepaart womöglich mit so etwas wie einem dumpfen Lachen, falls das irgendeine Art von Sinn ergibt. Nein, und ich gebe es zu, es ergibt keinen Sinn. Danach:
Stille,
absolute, allumfassende Stille.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich an meinem Standort verharrte, schlich ich mich zurück zum Haus. Woher ich den Mut oder die Verrücktheit dazu nahm – ganz wie Sie wollen –, weiß ich nicht. Die Haustür stand einen Spalt breit offen, ansonsten fand ich nichts Außergewöhnliches vor – außer einem unscheinbaren, aber durchaus sonderbaren Detail: Vor der Mülltonne, wo wir eben noch gestanden hatten, befand sich im Schlamm ein einzelner Abdruck, wie ihn ein Hufeisen hinterlässt. In diesem Moment setzte starker Regen ein, und schon nach wenigen Minuten war in der entstehenden Pfütze nichts mehr von dem Abdruck zu sehen. Ich machte, dass ich in meine Unterkunft kam, auch wenn ich dabei den Rest der angeordneten Überwachung schwänzen würde. Für diese Nacht hatte ich genug.
***
Am nächsten Tag hatte sich die Stimmung in der Redaktion gewandelt. Der Chef hatte plötzlich allerbeste Laune. Er hatte sich doch dazu entschieden, die Polizei zu informieren. Offenbar hatte die Angst gesiegt, später gerichtlich für sein Schweigen belangt werden zu können. Unterlassene Informationspflicht oder wie auch immer dafür der juristische Fachausdruck war. Die Polizei hatte das Haus des mutmaßlichen Mörders bereits am frühen Morgen durchsucht und allerlei Kleidungsstücke gefunden, die zu den getöteten Kindern passten. Im Keller machten die Ermittler einen grausigen Fund: Drei zum Teil bereits skelettierte Kinderleichen waren notdürftig von einem Abfallberg bedeckt. Nur von dem Mann selbst fehlte jede Spur.
Zur Freude des Chefs hatte „Express & Echo“ die Story exklusiv. Er meinte grinsend: „Wahrscheinlich hat der Teufel den kranken Wichser geholt – wie damals 1855.“ Das ganze Team lachte und stieß mit dem eilig herbeigeschafften Sekt an. Ich konnte mir die gute Laune nicht recht erklären. Schließlich war der Mörder noch nicht gefasst. Aber die Zeitungsfritzen – überall auf der Welt – dachten offenbar lediglich an ihre Storys. Alles andere war nachrangig.
Ich horchte dennoch auf. 1855? Google informierte mich über Folgendes: Die sogenannten Teufelsspuren von Devon waren mysteriöse Hufabdrücke, die im Februar 1855 nach einem Schneesturm über viele Kilometer schnurgerade durch die englische Grafschaft Devon verliefen. Sie führten über Dächer, Mauern und andere Hindernisse hinweg …
———–
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Fu%C3%9Fspuren_des_Teufels
V2 – 9998 Zeichen