Von Simone Tröger

1. Januar

„Liebes Tagebuch“ – klingt wie aus dem Munde eines verliebten 15-jährigen Teenagers mit Rüschenbluse und Ballettschuhen.
Dabei bin ich schon im höheren Alter von fast 26… Aber verliebt mit Blubberblasen im Bauch. Naja, nicht wirklich. Es ist ne Wette mit Marissa. Wir wollen sehen, ob ich ihn rumkriegen kann. Irgendwie ist da ein ehrliches Gefühl. Vielleicht tut er mir leid, weil wir ihn verarschen. Habe ich auch noch nie gemacht. Ist selbst mir fremd.
Mein oranges Haar glänzt wie neu, ebenso die Zähne (so porentief rein sind sie selten – haha), sogar dezenteren Lippenstift habe ich mir aufgelegt und meine Augen nur seicht geschminkt. Üblicherweise trage ich dicker auf. Warum ich hellen Lippenstift in meinem Schrank habe, weiß ich nicht. Vermutlich zum Grundieren. Ich werde mir demnächst ein seriöses Outfit zulegen. Gar nicht mein Stil; diese Klamotten. Was hat der Mann mit mir gemacht?
Ich höre schon meine Freunde „… ziemlich unwahrscheinlich, dass…“ No matter…

Alles deswegen:
Gestern war ich auf einer Silvesterparty. Ging bis zum Morgen! Klar! Ich habe viele bekannte Menschen getroffen und neue Leute kennengelernt. Mit den meisten habe ich smalltalk gemacht, mit Eric habe ich mich längere Zeit unterhalten, wir haben „Standard“ getanzt (das heißt, er hat es mir beibringen wollen, und das war widersinnig bei dem Publikum) und angestoßen haben wir auch. Warum der mich, MICH, zum Tanzen aufforderte, kann ich mir nicht vorstellen. Ich passe doch nicht in seine Welt mit meinen bunten Hosen und dem noch bunteren Pulli. Er war im gepflegten kackbraunen Ensemble (nennt man das so?). Aber der Mann hat was, was an meiner Seite noch kein Mann hatte. Stil! Ich glaube, das nennt man Stil. Mich hat das voll gereizt. Anfangs sind es mein Spieltrieb und die Wette gewesen, dann der Ernst des Abends. Ich kann es immer noch nicht glauben! Ein Wunder, dass er sich diese location ausgesucht hat, um jemanden kennenzulernen.
Ich habe keinen Kuss zum Jahreswechsel bekommen. Haben uns umarmt. Schön, die Umarmung zu spüren. Was anderes spürte ich nicht…
„Old school“ hat er mich zu „Small town boy“ aufgefordert. Den Song kenne ich von meiner Mutter aus den 80ern.
Jedenfalls züchtet er Bonsais, diese japanischen Kleinwüchsigen. Überhaupt liebt er Pflanzen, insbesondere Blumen. Er ist Gärtner von Beruf. Seine Fingernägel sehen weder schmutzig noch beschädigt aus. Möglich, dass er jeden Tag eine Maniküre erhält (haha). Ich habe so getan, als bin ich voll der Orchideenfreund. Ich muss mir welche zulegen, damit es auch danach aussieht. Fünf Stück dürften fürs erste reichen. Ich kann immer noch sagen, in meiner kleinen Bude gibt es nicht viel Platz für mehr. Ich hoffe sehr, dass mehr aus unserer Begegnung wird und er mein kleines Reich hier bald kennenlernt! Das hat sich zu mehr entwickelt als nur zu einem kleinen Flirt. Zumindest bei mir!
Niemals hätte ich gedacht, mich in so einen Normalo zu verlieben. Beim Lachen hat er Grübchen in den Wangen, die aussehen wie die Landschaft in Patagonien.
Was ist bloß mit mir los? Eine Art Vodoo-Zauber von ihm?

7. Januar

Er hat mich angerufen, und ich bin verzückt und aufgeregt, kann es nicht erwarten, ihn zu sehen. So viel Enthusiasmus kenne ich von mir nicht. Dem Sternzeichen „Widder“ sagt man eher Impulsivität nach.
Er hat mich zu einer session einer irischen Tanzgruppe eingeladen.
Ein Grund für meine neue Bluse, die Marlene-Hose und den Mantel. Das habe ich diese Woche erstanden.
Oh Gott – Schuhe!

7. Januar

Sein Haar ist übrigens so blond wie Dünensand an der Nordsee.

21. Januar

Nicht schlecht, diese irischen Klänge. Eric kann bestimmt auch steppen. Der hat den Rhythmus absolut im Blut. Ich muss einmal nach seinem Nachnamen fragen. Vielleicht heißt er irgendwas mit „´o“. ´O Wilde. Oder so.

3. Februar

Wir haben heute zusammen gekocht. Bei ihm. Er teilt sich die Küche (und das Bad) mit Mutti.
Geht gar nicht! Wo bin ich hier hingeraten?

3. Februar

Selleriecremesüppchen, Feigen mit Mozarella und Honig, Muscheln in Tomaten-Sugo, Campari-Sorbet, dazu Champagner.
Da ich nicht kochen kann, hat er das übernommen. Er hat mir aufgeschrieben, wie das Essen heißt. Ich kenne Pizza und Hamburger…
Gegessen haben wir ohne Mutti (zum Glück).
Aber passiert ist trotzdem nix. Nicht einmal ein Kuss. Mir geht das zu langsam. Ich will wissen, was der Mann noch alles kann.

16. Februar

Mensch… Der lässt sich Zeit…
Wir haben telefoniert, und er hat mich ins Kino eingeladen.
Man kann einmal hoffen…

20. Februar

Wir waren im Kino bei „Pretty Woman“ (ein Film aus den 90ern – da war ich noch nicht einmal geboren).
Sonst nix.
Meine orangenen Haare haben nicht mehr die Farbe wie eine Apfelsine.
Oh Mann; der Mann!

20. Februar

Der muss erst Mutti fragen, ob er mit mir schlafen darf. Oder?

2. März

Einen Schwimmbadbesuch habe ich vorgeschlagen, aber das möchte er nicht. Wir haben uns zum Essen verabredet. Er ist nicht gekommen. Passt überhaupt nicht zu diesem perfekten Mann. Mich! Versetzen: wo gibt’s denn sowas?
Viel Geld habe ich ausgegeben, um mich äußerlich diesem Mann anzupassen… Selbst meine Haarfarbe ist dahin. Mein Kopf ist so braun wie sein Anzug. Alles nur wegen ihm!
Keine telefonische Nachricht! Meinen Anruf hat er nicht entgegengenommen. Ich habe auf die mailbox gesprochen – keine Reaktion. Ich fühle mich dabei wieder wie der Teenie, der seinem „Opfer“ hinterherläuft. Daheim ist nie Licht, und die Klingel ist abgestellt.

3. März

Ob er im Krankenhaus ist?

4. März

Die sagen nix. Aus Datenschutzgründen.

5. März

Er ist schon 43. Ältere Männer kriegen doch öfter einen Herzinfarkt…?

7. März

Vielleicht hat er die mailbox nicht abgehört. Trotzdem muss er sich doch melden. Oder er hat sein Handy verloren oder meine Nummer. Persönlich vorbeikommen könnte er dann schon!

10. März

Ich lasse es!
Möglicherweise will er auch nicht viel mehr. Wir passen äußerlich nicht zusammen, und kommunikativ reicht es ihm sicher nicht. Seine Welt ist nicht meine Welt.
Weiteres kann ich mir abschminken. Die Wette habe ich verloren, obwohl es mir längst nicht mehr ums Wetten ging.

19. März

Der Mann ist immer noch in meinen Gedanken. Aber ich habe es doch nicht nötig, mich aufzudrängen.

19. März

Keine Reaktion von ihm. Eventuell macht er Langzeiturlaub? Eine Dienstreise? Als Gärtner?

27. März

Ein ganzer Monat vergeudete Zeit. Ich kann mich auf nix konzentrieren.
Schreibe übrigens zum ersten Mal Tagebuch. Finde ich eigentlich Nonsens für mich. Sollen das andere machen!

4. April

Ich werde wohl nie erfahren, weshalb er mich ausgewählt hat. Er will nichts von mir wissen.

22. April

Nichts.

30. April

Heute gehe ich feiern. War vorhin beim Friseur. Bunte Streifen habe ich jetzt. Wie die Flagge der Seychellen.

17. Mai

Ich habe heute eine Vorladung zu einem Notar erhalten für nächste Woche. Ich weiß nicht, um was es geht.

24. Mai

Hammer! Den Brief lege ich gleich hier mit rein. Hammer! DER Hammer!!!

Liebe Nora,
diese Zeilen habe ich dem Notar übergeben, weil ich nicht mehr unter den Lebenden weile. Auch meine Mutter ist nicht gesund – und so wie ich es war – öfter im Krankenhaus. Zu Beginn: über meine Krankheit möchte ich nichts sagen bzw. schreiben. Aber keine Sorge!
Du wunderst dich jetzt! Stimmts?
Kannst du dich erinnern, dass du vor unserem Besuch im Kino nach deiner Haarbürste gesucht hast? Ich brauchte nur noch deine DNA. Beobachtet habe ich dich schon längere Zeit. Nicht gestalked!
Wie ich darauf komme? Nun: Deine Tante ist die Freundin einer Arbeitskollegin meiner Mutter.
Üblicherweise interessiert mich dieser Tratsch nicht. Nachdem sich die Damen einmal bei uns daheim trafen und ich den Grillmeister spielte, habe ich so einiges mitbekommen, dann Eins-und-Eins zusammengezählt.
Ich war 17, als ich deine Mutter kennenlernte. Du warst auch einmal 17, also weißt du, wie man sich da verhält. Ich fühlte mich zu jung, um Vater zu werden. Du wolltest bestimmt mit 17 auch nicht Mutter werden… Du willst es doch auch jetzt noch nicht?
Ans Herz gewachsen, bist du mir auf jeden Fall. Zu spät! Ich hatte auch nicht den Mut, es dir auf andere Weise mitzuteilen. Wie hättest du wohl reagiert?
Grüß mir deine Mutter, es tut mir leid, wie alles kam.
Du bist meine Alleinerbin, denn auch ich bin verwitwet (besser „war“) und habe keine weiteren Kinder.
Dein Papa Eric
PS.: Der Vaterschaftstest liegt dabei. Eine neue Haarbürste hast du dir sicher schon
besorgt…?

 

 

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