Von Thomas Gärtner
Der Tag war noch gar nicht richtig angefangen, als Hammerschmidt-Wandenga von einem quäkenden Saxophon aus dem Schlaf gerissen wurde. Durch das offene Fenster sprudelte bunter Jazz und versetzte das Zimmer in Schwingungen, dass ihm die Ohren klingelten.
Hammerschmidt-Wandenga überlegte, wie dies mit der Riesenspinne zusammenhing, die ihn eben noch hatte aussaugen wollen. Ganz benommen wankte er zum Fenster und steckte seinen Kopf hinaus.
Der Innenhof dröhnte. Woher die Musik eigentlich kam, war nicht genau auszumachen. Aber im gegenüberliegenden Fenster bewegten sich ein paar Gestalten, zwischen denen trichterförmige Gegenstände hin- und hergingen. Ab und zu knallte es laut auf, dann gab es ein Mordsgelächter. Das war ganz klar Meiers Wohnung.
Er griff zum Feldstecher, der für derartige Fälle bereit lag und besah sich die Szene genauer.
Da tanzten welche. Am frühen Morgen! Meier selbst lag, so weit er erkennen konnte, in einer Hängematte, die zwischen zwei Kokospalmen gespannt war. Im Hintergrund kreisten große, wilde Vögel, die sich ab und zu fallen ließen, wenn sie eine Beute erspäht hatten.
Hammerschmidt-Wandenga setzte erst einmal ab, um seine Wahrnehmung zu überprüfen. Unten im Hof war alles wie sonst, jede Menge Dreck, Öllachen und graue, zerbröckelnde Häuserwände. In der Mitte standen ein paar Mülltonnen zusammen, eine von ihnen war gestürzt, und jetzt machten sich die Ratten über sie her.
Kein Zweifel, er war hellwach.
Durch das Fernglas sah er, wie in Meiers Wohnung hinten am Horizont die Sonne aufging. So ähnlich musste es auf den Bahamas zugehen, das kannte er aus den Prospekten. Er selbst fuhr nicht gern weg. Man hörte in letzter Zeit immer häufiger, dass Leute im Urlaub wahnsinnig geworden waren.
Jemand, der vorn am Fenster stand und offenbar bemerkt hatte, dass Hammerschmidt- Wandenga das ganze Geschehen verfolgte, gab Meier Zeichen. Im nächsten Augenblick gingen die Fensterläden zu, und es wurde schlagartig still.
Das änderte sich auch in den nächsten zwei Stunden nicht, die Hammerschmidt-Wandenga mit dem Fernglas in der Hand am Fenster verbrachte. Die Angelegenheit war für ihn keineswegs abgeschlossen. Die Vorgänge in Meiers Wohnung mussten erst begriffen und verarbeitet sein, bevor er wieder zur Tagesordnung übergehen konnte.
Hammerschmidt-Wandenga verbrachte die Zeit bis zum Abend damit, die Sache von den verschiedensten Seiten her zu beleuchten, ohne dabei allerdings zu einem brauchbaren Ergebnis zu kommen. In der Nacht konnte er nicht schlafen. Rastlos ging er auf und ab, trank gelegentlich eine Tasse Kaffee, um sich zu beruhigen und dachte intensiv über das Gesehene nach. Das hatte er Meier nicht zugetraut! Immer wieder blieb er am Fenster stehen, griff zum Feldstecher und suchte die gegenüberliegende Hauswand ab. Schon bald wurde ihm jedoch klar, dass er auf diese Weise nichts erreichen konnte. Er musste die Sache anders anpacken.
Die Fensterläden zu Meiers Wohnung blieben auch weiterhin geschlossen. Daraus ergab sich zwingend, dass er Meier auflauern und zur Rede stellen musste.. Durch den Spion konnte er den langen Etagenflur, der direkt zu Meiers Wohnungstür führte, vorzüglich überblicken. Er setzte sich auf einen Stuhl und wartete die weitere Entwicklung gespannt ab.
Meier ließ sich Zeit. Den ganzen Nachmittag über war von ihm nichts zu sehen. Nur eine Menge wildfremder Menschen stieg das Treppenhaus auf und ab, es war ein einziges Kommen und Gehen. Hammerschmidt-Wandenga traute sich kaum, den Kaffee aufzusetzen, aus Angst, etwas zu verpassen.
Auch am Abend saß er auf seinem Beobachtungsposten, bereits mit getrübtem Bewusstsein und verschwimmendem Blick. Dann musste er irgendwann eingeschlafen sein.
Am frühen Morgen weckte ihn ein knarrendes Geräusch. Sofort war er hellwach. Endlich tat sich etwas. Die Tür ging auf und Meier kam mit scheinheiliger Miene heraus. Er trug einen sorgfältig gebügelten grauen Anzug mit Schlips und Kragen, und die Haare waren seriös nach hinten gekämmt. Das war im Vergleich zu den Sachen, mit denen er in der Hängematte gelegen hatte, ein vollständig lächerlicher Aufzug. Hammerschmidt-Wandenga konnte er damit nicht täuschen.
“Meier!” zischte er und schoss aus seinem Versteck hervor. “Ich weiß alles, Meier. Da drinnen ist ein Palmenstrand!”
Meier schloss gerade ab. “Na und?” sagte er nur und verschwand dann im Treppenhaus.
Hammerschmidt- Wandenga kehrte nachdenklich in seine Wohnung zurück. Die Verwegenheit, mit der Meier reagiert hatte, imponierte ihm. Damit setzte Meier ganz neue Maßstäbe.
Vom Wohnzimmerbalkon aus sah er ihn die Straße überqueren und in einen schäbigen, heruntergekommenen Fiat 500 einsteigen. Es war nicht zu fassen, dass diese Modelle in der Wirklichkeit überhaupt noch vorkamen. Er schrieb sich das auf, denn in diesem Fall war vielleicht jede Einzelheit von Bedeutung.
Dem Postboten hatte er einmal geistesgegenwärtig ein ganzes Büschel Briefe, die eigentlich für Meier gedacht waren, weggerissen, war damit in seine Wohnung geflohen und hatte den Inhalt gründlich untersucht. Aus der Korrespondenz ging hervor, dass Meier vollständig sinnlose Briefe erhielt und offenbar auch solche schrieb. Das las sich etwa so:
“Lieber Meier!
Mir geht es gut. Ich hoffe, dir geht es genauso gut wie mir. Vor einer Woche ging es mir nicht so gut. Aber jetzt geht es mir schon wieder besser. Auf Deine Anfrage wegen Felsenheimer kann ich sagen: Felsenheimer geht es gut. Das wundert mich jedoch nicht, denn Felsenheimer ging es immer schon gut. Er meint, dass das vorerst auch nicht nachlassen werde. Felsenheimers Frau geht es übrigens auch gut….”
In diesem Stil setzte sich das über fünf lange Seiten fort. Hammerschmidt-Wandenga konnte sich gar nicht vorstellen, dass es so vielen Leuten, wie sie hier in diesem Brief genannt wurden, so ausgezeichnet gehen sollte. Dass es Meier gut ging, wusste er aber.
Am Wochenende kam Meier aus seiner Wohnung nicht heraus. Hammerschmidt-Wandenga hatte am Fensterbrett ein riesiges Teleskop installiert, um im Ernstfall nichts zu verpassen. Die Hoffnung auf einen wie immer auch bescheidenen Erfolg war immer noch nicht erloschen.
Meier aber gab ihm keine Chance, die zweifelsohne außergewöhnlichen Ereignisse in seiner Wohnung einzusehen. Die Fensterläden blieben geschlossen, und je länger dieser Zustand anhielt, desto ungeduldiger wurde Hammerschmidt-Wandenga. Seine Gedanken kreisten jetzt nur noch um die Frage, wie er Meiers Wohnung unter seine Kontrolle bringen konnte, und selbst nachts beschäftigte ihn dieses Problem in seinen Träumen.
Kaum war er im Treppenhaus, da wurde auch schon die Tür heruntergelassen wie eine mittelalterliche Zugbrücke. Dann sah er Meier, der mit aufgekrempelten Hemdsärmeln an der Kurbel stand und schwitzte. Hammerschmidt-Wandenga stürzte an ihm vorbei in den offenen Wohnungsflur, der sich immer mehr ausweitete und direkt aufs Meer zuführte. Die Bahamas-Menschen hatten sich unter einer Kokospalme versammelt, da musste Hammerschmidt-Wandenga selbstverständlich zuerst hin…
Unerfreulicherweise brachen die Träume immer an den besten Stellen ab. Als Fehlschlag hatte sich auch das Palmenpflänzchen erwiesen, das er sich zugelegt hatte, um mit Meier gleichzuziehen. Schon nach wenigen Wochen intensivster Pflege war es eingegangen.
Frustrierend kam dann noch das Erlebnis mit Sulzfisch hinzu, der ein Stockwerk tiefer wohnte, und den er eines Abends mit Sonnenbrille, geblümtem Hemd und Shorts Meiers Wohnung betreten sah. Hammerschmidt-Wandenga kochte vor Wut. Tatenlos musste er mit ansehen, wie sich dieser Wicht in Meiers Wohnung entspannte.
Die nächste Woche brachte eine unerwartete Wende. Ihm fiel auf, dass Meier von Tag zu Tag schwächer wurde. Verließ er frühmorgens die Wohnung, so wankte er mehr als dass er ging, die Krawatte war nachlässig geknüpft, die Frisur zerstört, und das Jackett hatte grässliche Knitterfalten. Hammerschmidt-Wandenga genoss es, wie Meier das Treppenhaus hinunter stolperte; der Aktenkoffer glitt ihm oft aus der Hand, es war sehr sehenswert. Wenn Meier dann am Spätnachmittag zurückkam, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten, es war ein Wunder, dass er es überhaupt bis oben hin schaffte.
Freute sich Hammerschmidt-Wandenga auch über die raschen Fortschritte, die Meiers Verfall machte, so spürte er doch gleichzeitig, dass eine eigenartige Veränderung in Gang war. Vor dem Spiegel bemerkte er, wie sich seine Gesichtszüge allmählich verwandelten. Er wurde Meier immer ähnlicher.
Wenige Tage später kam Meier auf allen Vieren die Treppe hoch gekrochen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er an seiner Wohnungstür angekommen war. Dort sackte er zusammen und begann sich erst wieder nach einer langen Weile zu regen. Stück für Stück zog er sich am Türgriff hoch, rutschte dann aber wieder ab und versuchte es aufs Neue. Hammerschmidt-Wandenga assoziierte bei dieser Szene auf Anhieb die Mathematikaufgabe mit der Schnecke, die in einen Brunnen gefallen war und sich nun zwanzig Meter an der Wand hoch tasten musste. Am Tag machte sie drei Meter, in der Nacht rutschte sie zwei Meter zurück. Die Frage war, am wievielten Tag sie oben ankam.
Nach einer halben Stunde hatte sich Meier so weit hochgearbeitet, dass er zum ersten Mal den Schlüssel ansetzen konnte. Es gelang zwar nicht sofort, aber schließlich sprang die Tür doch auf, und er krabbelte in den Flur hinein.
Hammerschmidt-Wandenga war zufrieden. Meiers Ende war in greifbare Nähe gerückt.
Es war ein Samstagmorgen, als er spürte, dass er Meier jetzt nicht mehr beobachten brauchte. Vor dem Spiegel bot sich ihm ein Bild, das ihn nicht überraschte. Es bestand nun kein Zweifel mehr, er war Meier, und ihm war unklar, was er in dieser Wohnung, die ihm längst fremd geworden war, eigentlich noch wollte.
Im Treppenhaus herrschte große Stille. Er griff in die Jackentasche und zog den Schlüssel hervor, der jetzt ihm gehörte.
So gut wie heute war es ihm lange nicht gegangen.