Von Björn D. Neumann

»Es ist mir einen Silver-Dollar wert, Caleb. Das ist fast mehr, als ich für den Nigger bezahlt habe, aber ich will ihm die Haut abziehen. Nicht, dass einer von seinen Brüdern auf ähnliche Gedanken kommt.«

Ein Silver-Dollar war eine Menge. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Wenn das Handeln meines Kunden von Emotionen bestimmt war, war es umso besser für mein Geschäft. Ich, Caleb Earl Ray, war einer der meistgefragten Sklavenjäger im Raum der konföderierten Staaten. Vor dem Bürgerkrieg war ich Trapper, aber ob das gejagte Tier nun ein Grizzly oder ein schwarzer Zweibeiner war, konnte mir egal sein. Ein Schwarzer war weniger gefährlich, aber brachte weniger Geld ein. Dafür waren es aber weiß Gott mehr, als einem lieb sein konnte. »Wie lange ist er schon weg?«, wollte ich wissen.

»Er muss diese Nacht geflohen sein. Gestern war er noch hier. Mehr weiß ich nicht. Und Mary, dieses Miststück, wollte nichts verraten.« Mit der Peitsche in seiner rechten Hand wies der Aufseher in Richtung des Platzes in der Mitte der Sklavenunterkünfte. Erst jetzt bemerkte ich die Gestalt, die leblos in den Ketten eines Pfahls hing. Es war eine junge schwarze Frau. Das zerlumpte Kleid gab, heruntergerissen bis zur Hüfte, ihren Oberkörper frei. Blut rann aus unzähligen Striemen auf ihrem Rücken. Ringsum knieten Weiber und heulten bittere Tränen. Ich hatte schon viel gesehen und wusste, dass, wenn sie nicht schon tot war, sie es nicht überleben würde. Ich ließ mir meine Abscheu nicht anmerken. Widerlich grinsend blickte mich Jacob Mahoon an. »Also, sein Name ist Nathan. Sie haben eine Woche Zeit, ihn zurückzubringen.« Ich nickte nur und spuckte aus. Dann gab ich meinem Pferd die Sporen und machte mich auf die Fährte.

Menschen auf der Flucht sind unvorsichtig. Sie hinterlassen mannigfaltig Spuren. Ich rede nicht nur von Fußabdrücken. Hier etwas niedergetretenes Gras. Dort ein abgeknickter Zweig. Abgerissene Blätter. Man merkt, dass wir Menschen nicht mehr im Einklang mit der Natur leben. Eine Rothaut von den Lakota brachte mir alles bei, was man über die Spurensuche wissen musste. Er wurde fast so etwas wie ein Freund, bis er mich beim Verkauf der Felle versuchte, übers Ohr zu hauen. Die Prämie für seinen Skalp glich den Verlust wieder aus. Jedenfalls dauerte es nicht lange, bis ich unweit der Plantage die Fährte aufnehmen konnte. Ich schätzte, dass er ungefähr einen Tag Vorsprung hatte. Da ich beritten war und meine Beute unerfahren mit dem Überleben in der Wildnis, sollte es ein Kinderspiel sein. Schon am Nachmittag des zweiten Tages fand ich frische Spuren. Die Bruchstelle eines abgeknickten Zweigs war noch feucht. Ich rieb die Flüssigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger und sah mich um. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Rascheln im Gebüsch. Ich drehte mich um, ging einen Schritt vor und … Verdammt! In meiner Unvorsichtigkeit war ich in eine Bärenfalle getreten. Das Geräusch des berstenden Knöchels erinnerte an einen trockenen Zweig, der in der Mitte durchgebrochen wurde. Die eisernen Zähne der Falle gruben sich tief in mein Fleisch. Dann verlor ich die Besinnung.

Als ich erwachte, sah ich verschwommen die Flammen eines Lagerfeuers. Langsam stellten sich meine Augen scharf. Erst erkannte ich nur schemenhaft die Konturen, dann sah ich klar, dass mir schräg gegenüber ein schwarzer Junge saß. Ängstlich an einen Felsen gedrückt, hielt er mit beiden zitternden Händen meinen Colt auf mich gerichtet. Weit aufgerissene Augen sahen mich schreckerfüllt an. Mein Mund war staubtrocken und so kamen mir nur krächzende Laute über die Lippen. »Hey, hey, vorsichtig Junge! Ganz ruhig!«

»Bewegen Sie sich nicht, Mister! Sonst muss ich schießen!«

Ich lachte auf, was meinen Schmerzen, die ich bis jetzt ignoriert hatte, einen Schub gab, der mir den Atem nahm. Mein Bein brannte wie ein Höllenfeuer. Ich wusste, wenn sich die Wunde entzündete, wäre es verloren und ohne Hilfe in der Wildnis, hätte eh mein letztes Stündlein geschlagen. »Junge …«

»Nennen Sie mich nicht Junge«, unterbrach er mich. »Ich habe einen Namen. Ich heiße Nathan.«

»Ich weiß. Also Nathan. Schön.« Er nickte stumm. »Ich bin verletzt. Die Wunde muss versorgt werden. Verstehst du?«  Wieder ein Nicken. »Ich kann es dir nicht übelnehmen, wenn du mich hier verrecken lässt. Weiß Gott. Aber ich kann dir helfen.« Verzweifelt suchte ich nach Gründen, mich leben zu lassen, und immerhin hätte er mich ja auch in der Falle liegen lassen können. »Ich kenne die Wälder wie meine Westentasche.« Ich sah immer noch Zweifel. »Ich kann dich zur ‚Underground Railroad‘ führen.« Die ‚Underground Railroad‘ war eine Schleuserorganisation für entflohene Sklaven. Und auch, wenn ich ihn dafür verfluchte, gehörte mein Bruder John zu ihnen. Der Gedanke an diese Ironie ließ mich erneut auflachen. »Nathan, die Wunde muss gereinigt werden. In der Satteltasche ist eine Flasche Whisky.« Ich sah auf meinen blutenden Stiefel. »Du musst meinen Fuß da rausholen und den Whisky über die offenen Stellen gießen. Dann besorgst du ein paar stabile Äste und schienst damit den gebrochenen Knöchel.« Nathan tat, wie ich ihm geheißen hatte. Und ich schrie wie ein Baby. Bevor er das Bein endgültig schiente, legte er noch ein paar Blätter auf die Wunde. »Was soll das? Ist das Voodoo?«, schimpfte ich.

»Ich bin Christ!« Er zog ein schlichtes Holzkreuz an einer Schnur unter seinem Hemd hervor. »Das sind Blätter der Bärentraube. Meine Schwester Mary hat mir das beigebracht.«

Ich zuckte. ‚Mary, dieses Miststück, wollte nichts verraten.‘ Das zu Tode gepeitschte Mädchen war seine Schwester. Ich schwieg und ließ mich weiter behandeln.

So vergingen einige Tage. Verbände wurden gewechselt, wir aßen gemeinsam meine wenigen Vorräte und unterhielten uns, wenn ich zwischen meinen Fieberträumen klar war. Er fragte mich direkt, wieso ich so einem abscheulichen Beruf nachginge. Ich antwortete, dass es für mich keinen Unterschied mache, ob ich ein Tier oder einen Menschen jagte. Auf die Frage, ob ich denn auch keinen Unterschied in der Hautfarbe machen würde, wusste ich in meiner Verlegenheit keine Antwort. Trotzdem kümmerte sich der Junge fürsorglich um mich. Ob es jetzt an der versprochenen Fluchtmöglichkeit lag, spielte in dem Moment keine Rolle. Er berief sich auf seine christliche Pflicht, wenn ich misstrauisch nachfragte. Nathan erzählte vom Leben als Sklave. Wie er und seine Schwester als kleine Kinder von der Mutter getrennt wurden. Dem Sadismus Mahoons und wie seine Schwester Mary ihn immer wieder davor schützte. Und jedes Mal versetzte der Name Mary mir einen Stich ins Herz. 

»Nathan, ich muss dir etwas sagen.« Mir stockte die Stimme. »Deine Schwester Mary …« Nathan riss die Augen auf. 

»Nein, sag‘ das nicht! Ich warne dich!« Nathan las in meinen Augen, was passiert war und zitterte vor Wut. Er griff nach einem Messer und setzte es mir an die Kehle. Ich spürte, wie ein Blutstropfen mir warm den Hals hinunterlief. Ich sah in hasserfüllte Augen, in die nach und nach Tränen stiegen. Dann ließ er das Messer einfach fallen und lief in den Wald.

»Nathan! Bleib hier! Das ist zu gefährlich da draußen!« Ich weiß nicht mehr, ob ich mehr um Nathan oder doch um mich besorgt war. Mühsam rappelte ich mich auf und stützte mich auf eine Krücke, die ich mir selbst gebastelt hatte. Humpelnd folgte ich Nathan in den Wald. Lange musste ich nicht suchen. Er war direkt in die Arme von drei offenbar desertierten Rebellen gelaufen, die ihn im Dreieck umher schubsten. 

»Wo kommst du denn her, du Nigger?« »Sollen wir dich gleich hier aufknüpfen oder eine Belohnung kassieren?« »Schwarze Drecksau!«

Ich spannte meinen Revolver. Durch das Klicken aufmerksam drehte sich einer der grau Uniformierten zu mir. Ich streckte ihn mit einem gezielten Schuss nieder. Jetzt bemerkten mich auch die anderen beiden. Bevor sie ihre Waffen ziehen konnten, erschoss ich den Zweiten, während Nathan sich vom Dritten losriss und ihn zu Boden stieß. Ich richtete meine Waffe auf den Rebellen. Auf allen Vieren versuchte er rückwärts, auf dem Hosenboden sitzend, vor mir wegzukrabbeln. »Bitte, Sir! Lassen Sie mich leben!«

»Tut mir leid, Bruder«, sagte ich nur und drückte ab. 

Nathan erstarrte. Ich riss ihn aus seiner Trance. »Nathan, wir müssen verschwinden! Jetzt!« Mit Hilfe von dem Jungen und meiner Krücke erreichten wir unser provisorisches Lager. Wir verstauten unsere Siebensachen in den Satteltaschen und verließen den Wald. 

Spät in der Nacht erreichten wir eine abgelegene Blockhütte. Ich hämmerte gegen die Tür. Nach einiger Zeit öffnete ein Mann. »Caleb? Was willst du zum Teufel? Ich habe dir nichts zu sagen!«, schimpfte mein Bruder gedämpft. Ich gab ihm den Blick auf Nathan frei. »Gütiger Jesus! Caleb …« Er sah mich fragend an.

»Das ist eine lange Geschichte. Sieh zu, dass mein Freund Nathan in Freiheit gelangt.« Bei dem Wort ‚Freund‘ blickten sich erst Nathan und John an, dann richteten sich ihre Blicke auf mich. Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich zu meinem Pferd. »Ich werde versuchen, die Spuren zu euch zu vertuschen.«

»Caleb, warte!«, hörte ich Nathan und drehte mich um. Am ausgestreckten Arm hielt er mir sein Holzkreuz entgegen. »Danke!«, sagte er leise. Ich nahm es an mich, nickte ihm kurz zu und stieg in den Sattel.

»Viel Glück!«, wünschte ich und ritt in die Nacht hinein, ohne mich noch einmal umzudrehen. 

*

Der Krieg ist inzwischen vorbei. Die Sklaverei wurde in den ganzen Vereinigten Staaten abgeschafft. Oft denke ich an Nathan, berühre das Kreuz um meinem Hals, streiche mit dem Daumen über das eingeritzte Wort ‚King‘ und frage mich, ob Schwarz und Weiß eines Tages in Frieden und Freundschaft leben können. Ich bin Caleb Earl Ray und das ist meine Geschichte. Die Geschichte eines ehemaligen Sklavenjägers. Die Spuren, die wir hinterlassen, liegen in uns selbst und unseren Taten. Nicht in dem Namen, den wir tragen. Nicht in der Farbe unserer Haut.

*

»Grandpa, Grandpa, erzählst Du uns eine Geschichte?«

»Nun Martin, dein Urgroßvater Nathan und seine Schwester Mary lebten einst als Sklaven auf einer Plantage …«

 

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