Von Kornelia Wulf

Ein kalter Schauer in Lores Nacken. Die Schultern hoch zu den Ohren gezogen, fliegt ihr Blick zu den Apfelbaumzweigen, durch die feiner Niesel auf den Scheitel tropft. Fröstelnd stellt sie den Kragen auf, streift feuchtes Laub von den Zinken der Harke, bevor sie den Haufen in den Biomüll stopft. Das Grau der Wolken ballt sich zusammen. Jetzt einen Earl Grey und – ach ja, etwas Süßes für den frostigen Magen. Rasch schüttelt sie die Tropfen vom Regenmantel, stapft in den Flur und fühlt sich von der Wärme mit streichelnden Armen empfangen. Vor der Garderobe streicht sie das alte Stück auf dem Bügel glatt, dreht dann den Kopf zur Seite, drei Haken weiter. Dort wartet seine Jacke auf ihre Wange, die sich fast fallen lässt in den weichen Stoff. Lore atmet tief ein. Schmeckt Brombeere und Vanille auf ihrer Zunge – noch ragt aus der Tasche der Pfeifenkopf – als habe das Leder den Duft gespeichert. Und irgendwo schlummert da sein spicy Seifenduft.

Lore öffnet die Tür zum Untergeschoss, umfasst leise stöhnend den Stiel der Harke. Geschafft, das letzte Mal in diesem Jahr, denkt sie. Die darf nun ihren verdienten Winterschlaf halten, ein stilles Lachen, sich vorsichtig über die Stufen zum Keller hinabtastend. Das Licht in den dunklen Räumen flackert schon lange. Wann wirst du dich endlich um das passende Leuchtmittel kümmern, hört sie sich mahnen mit strenger Stimme.

Ihre Schuhe hallen auf hartem Beton. Gerade will sie die Harke zwischen Besen und Kanne platzieren, als die Arme in Ruder verwandelt im letzten Moment ein Straucheln abfangen. Ein angebissener Apfel. Vor ihren Füßen. Ihre Augen wandern. Da – ein zweiter. Und vor der Astschere. Ein dritter. Wer hat nur von dem guten Boskoop gegessen. Stundenlang hat sie nebenan gesessen, jeden einzelnen von ihnen verlesen. Morgen muss sie unbedingt eine Falle kaufen, mit Ein und Ausgang zum Rein und Rauslassen, das Vieh dann hinaus auf die Wiese tragen. Genug Vorrat angefressen hat die sich ja, murmelt sie lächelnd, als der Schreck den Atem einzwängt. Ein schwarzer Fleck. Lore reibt die Augen. Er wächst und wächst – verdammtes Licht! Musst du so heftig flackern – bis sie eine vage Gestalt erkennt, fast nur ein Schatten, versteckt in der Ecke unter der Biegung des Abflussrohres. Dunkel vermummt steht er da. Bestimmt vom prallen Leben vergessen, Lore wiegt den Kopf, in dem jeder an sich als den Nächsten denkt. Ein Luftzug wischt über den Nacken mit eisigem Lappen. Sie hängt sich an den Griff des Kellerfensters. Das klemmt schon so lange. Ihr Blick streift die schattenhafte Kontur.  

Ja, durch diese schmale Wandöffnung würde er passen. Mein Gott, wie entsetzlich mager – bestimmt liegt es am Flackern – als habe das Vieh nicht nur am Fruchtfleisch genagt.

***

Lore verliert sich ihren Gedanken.

Wie lange mein Gast es schon da unten aushält. Warum ist er nicht zu mir hinaufgekommen? In die Behaglichkeit der oberen Räume, in denen ihn die Wärme streichelt und klares Licht scheint.

So viele Bilder rotieren im Hirn. Bleiben wieder und wieder an der ersten Begegnung hängen.

Wie er da stand, als sie ihn fand.

In der Ecke verharrend, den Kopf gesenkt, den Finger Richtung Apfelbutz ausgestreckt. Und diese Geste verriet es ihr. Nein. Kein Tier. Es war der Hunger, der ihn bis zum tiefsten Kern nagen ließ. Tag für Tag hatte sie Suppe hinunter geschleppt, bis ihr Fuß beinahe auf den Stufen ausglitt. Die Idee holte sie ein, als der Schreck sie verließ.

Die Campingmöbel. Genau. Zwischen dem alten Plunder. Gegenüber im Kellerraum. Auch den Zweitplattenkocher – noch tadellos brauchbar – hatte sie dort verstaut.

Lore beäugt den Plastikklapptisch. Den hat sie mit einem Wachstuch aufgehübscht. Sie streicht über die glatte Fläche, üppig bedruckt. Mit einem weißen Lilienmuster. An dem sitzen sie nun gemeinsam vor vollen Schüsseln, eine warme Mahlzeit genießend. Heute gibt es Fisch. Danach brüht sie den Kaffee auf. Süß mag er den. Und stark.

Nach der Siesta in den oberen Räumen huscht Lore ins Bad. Richtet das graue Haar vor dem Spiegel, kneift in die Wangen, greift nach dem Rouge mit ihrer Linken, nach dem sie ewig gesucht hatte,  zwischen Pillen, Salben, Hühneraugenpflaster, bis sie es unten im Schränkchen fand. Längst vergessen, dass es dort lag. Lore eilt hinüber zum Schreibtisch. Ganz vorn in der Lade liegen die Karten. Sie streichelt die glatte, speckige Fläche, atmet den Duft ein. Brombeer-Vanille – aus jedem Spielblatt.

Dann kann sie es nicht mehr erwarten, balanciert Fuß vor Fuß die Stufen hinunter, so rasch sie es schafft. Lore lässt sich auf die Polster des Kissens fallen, die das Sitzen auf hartem Plastik erträglicher machen. Mit bebenden Händen mischt sie den Stapel. Legt fünf Karten ab. Auf einem Lilienblatt. Und sie sitzen zusammen, ein Spiel nach dem anderen.

Lore reibt die gereizten Augen, vor denen der Raum zu schwimmen beginnt, versucht sie krampfhaft aufzuhalten. Dieses verflixte Licht! Morgen muss ich endlich das passende Leuchtmittel kaufen, herrscht sie sich an, als König und Dame ihr Blatt verlassen, die Herzen in den Ecken zu pochen anfangen, als seien sie zum Leben erwacht.  

Aber nein – ein heftiges Zwinkern- bestimmt nur ein Sekundenschlaf.

Lore wiegt den Stapel in ihrer Hand. Kann einfach nicht lassen von den diesen Karten. Eigentlich wollte sie heute ihm das Radio vorschlagen, die Mondscheinsonate, im Kulturkanal. Vielleicht geeignet, um die gereizte Stimmung zu salben. Gestern hatte etwas an ihrer Hutschnur gezerrt. Wie ein Phantom umschlingt sie ein drückender Schmerz. Sie hatte ihre Fäuste auf das Wachstuch prasseln lassen, ihn mit Karten beworfen. Und schlimmen Worten.

Dieses verdammte Licht. Und immer nur dieses Schattengesicht …

In jedem Spielblatt ein Royal Flash – eigentlich unfassbar.

Die Furcht wühlte in ihr, die ganze Nacht. Sie hatte kein Auge zugemacht. Bestimmt ist er zurück durch das Fenster gekrochen. Merkwürdig, denkt sie, er passt immer noch hindurch. Kein einziges Gramm hat er zugenommen trotz nährender Kost. Doch als Lore den Keller betrat – ihre Nerven zappelten wie der Aal, der mittags in die Pfanne kam – winkte er ihr zu. Versteckt in seiner Ecke saß er noch da unter der Biegung des Abflussrohres.    

***

Sie umfasst das Glas mit beiden Händen, pustet am Glühwein. Warm rinnt der Schluck durch ihre Kehle. Zimt und Nelken erobern den Raum. Auf ihrer Zunge ein Hauch Vanille. Auch eine herbe Brombeernote. Seltsam, nicht mein Rezept, Lore schüttelt den Kopf, woher die nur kommt. Den Rücken an das Polster gedrückt, seufzt sie laut auf. So viele Stufen. Erst hatte sie den Tannenstrauß hinuntergeschleppt, dann den Karton mit Kugeln gefüllt, die sie an die Zweige hängte. Lore hört ein feines Knistern. Wie behutsam seine Hände das Geschenkpapier glätten, staunt sie, wie Schatten über den Campingtisch schwebend, bevor sie das Wollcape um seine Schultern legt. Gestern im Kaufhaus am Markt besorgt, als erster Schnee den Weg benetzte. Nachdenklich knabbert sie an einem Kipferl.

Sucht nach seinem Schattenblick.

Im Wachskerzenlicht.  

„Heute habe ich einen Wunsch frei.“, flüstert sie schnurrend, als die Flammen zu flackern beginnen. Und wieder dieser Luftzug mit eisigem Lappen. Mit der gehöhlten Hand wärmt Lore den Nacken.

Sie hatte das Fenster doch fest verschlossen.

 ***

Ihr Blick gleitet über den Ganzköperspiegel. Sie befeuchtet die Kuppe mit der Zunge. Streicht mit dem Finger ein Härchen glatt, das aus der Braue tanzt. Lore öffnet den dritten Knopf an der Bluse, aus der ein Stück schwarze Spitze lugt. Das Dessous hatte sie im Fenster des Lädchens entdeckt, direkt neben dem Kaufhaus. Aus dem Augenwinkel schaut sie auf die Armbanduhr. Was – schon elf? Er hatte es fest versprochen. Schlag Acht wollte er in die oberen Räume kommen. Sie prüft die Häppchen im Kühlschrank, wischt imaginäre Flecken von Spüle und Küchenschrank. Am liebsten würde sie den Zeiger vom Zifferblatt reißen. Die Zeit hetzt vorbei, die kann sie nicht einfangen. Um zwölf lässt sie Kopf und Arme hängen. Die Kraft scheint aus allen Poren zu rinnen. Vielleicht hättest du ihn nicht drängen sollen, rufen die Gedanken in ihrem Kopf. Lore greift nach dem alten Flanellhemd im Schrank, in dem sie gar nicht mehr nicht aufwachen mag. Ungeduldige Finger an der Knopfleiste, sie wollen die Bluse vom Körper reißen, als Lore den hellen Schimmer wahrnimmt. Sie tritt vor das Fenster, starrt in den Himmel. Der Mond scheint sein Licht in die Schwärze der Nacht zu gießen, wie Milch in Wolkenschichten zu fließen. Lore lässt ihren Blick in den Garten hinabsinken. Da, auf der Wiese – sie schreckt zusammen – dunkle Spuren durchbrechen die weiße Fläche. Vorbei an den Apfelbaumzweigen, die sich unter der schweren Last bucklig biegen – den Zaun überwindend, geradeaus an der Straße entlang. Lore wirft sich den Mantel über, schlüpft in die Lammfellstiefel, gesellt ihre Schritte zu den Eindrücken, beinahe knöcheltief im Schnee versinkend. Keuchend sieht Lore vor ihrem Mund ein Wölkchen schweben, das in der eisigen Luft fast gefriert. Los, du Weichei! herrscht sie sich an. Und weiter führt der Weg Richtung Stadtrand. Schon bald sieht es kommen.  Weit geöffnet empfängt sie das Eisentor unter den Eichen, die auch in der Nacht nicht schlafen. Im blattlosen Geäst hört sie ihr feines Wispern. Auf dem Hauptweg tiefe Spuren – Lore folgt ihnen wie ein Roboter – die in den dritten Pfad rechts einmünden. An der Abbiegung pfeift ein kleiner Schelm, der sich auf seiner Grabplatte rekelt. Lore ringt mit dem Atem. Hat der Engel ihr gerade zugezwinkert? Ein paar Ruhestätten weiter verlässt sie die Kraft. Sie sinkt auf der alten Holzbank zusammen. Spürt nicht die Kälte der dicken Schneeschicht, die durch jede Faser der Wäsche in ihre Poren kriecht.

Alle Jahre wieder, stimmt Lore mit dünner Stimme an.

Starrt auf die Lederjacke, die ordentlich über den Kanten des Grabsteins hängt.

Warum hast du sie wieder nicht mitgenommen?

 

V3 9893 Z.