Von Volkmar Klundt

 

Hatte sich das Leben von ihr oder sie sich vom Leben zurückgezogen? Es war vorbei und nun würde alles besser? Der Gedanke tat vertraut, hatte sich plumpdreist Zutritt erschlichen, sich zu ihr gesetzt wie ein ungebetener Gast, log ihr kalt ins Gesicht. Doch dadurch schimmerte in ihren Augen wieder eine Spur falsche Verräterhoffnung, die auch damals, als Ärzte die Diagnose stellten, den Arm kumpelig um sie gelegt hatte, als wäre alles nur ein Irrtum und Klaus die Ausnahme von der Regel.

 

Ihre schmalen Lippen, die sich nun ständig aufeinanderpressten, verkündeten stumm vor Enttäuschung die Bitterkeit ihres Scheiterns.

Alle eine Lüge. Alles wurde immer nur schlimmer.

 

Sie öffnete den Browserverlauf, folgte den Spuren, die sie im Netz hinterlassen hatte, fand die Seite, die sie suchte, die sich gestern als “Warum nicht” zwischen ihre Gedanken gesetzt hatte.

Das Haus lag idyllisch auf einer hellen, weitläufigen Lichtung.  Sie öffnete die Homepage des Vermieters und startete eines der Videos, das ein „Refugium der Stille“ versprach.

Die Kamera schwenkte über das helle Rund hinunter auf den Rasen. Sonne und Wind ließen, umstellt von dunkelgrünen Nadelbäumen, Blätterschatten tanzen. Wie mit einer Schlinge fing die Kamera nun die beiden Birken, die mit ihrer weißen Rinde schräg ins Blau wuchsen.

 

 „Na, was meinst du?“, Tim schaute von unten herauf.

Die Miete war erstaunlich günstig. Viel zu rasch hatte sie den Karton beiseite geschoben, in dem sie eben noch in alten Fotos nach seinen vertrauten Zügen gestöbert hatte.

 

Bevor sie der Mut verlassen konnte, wählte sie die Nummer und flüsterte wie ein Verräter, so dass der Vermieter zweimal nach dem Namen fragte.

Ja, versicherte er, das Haus sei noch frei, es läge wunderschön auf einer Lichtung, inmitten ausgedehnter Wälder. Es sei zwar etwas spät im Jahr, die Saison vorbei, doch er gebe gerne Rabatt. Genau das Richtige, wenn Sie die Abgeschiedenheit suchen. Und ja, es gibt auch WLAN.

 

„Nein”, erwiderte sie rasch und viel zu laut, „der Termin ist kein Problem. Im Gegenteil.”

 

Sie hatte sich darauf gefreut, die Wintermonate eingeschneit zu verbringen. Sie würde mit Tim lange Spaziergänge im Schnee unternehmen, abends ein Glas Rotwein in der Hand, ins Kaminfeuer starren.

Und nun?  WLAN-Anschluss tot. Handy ohne Netz. Tagelang Regen, untätig zwischen abgewohnten Möbeln hocken, die der Vermieter zu diesem nutzbringenden Zweitleben verurteilt hat. Tim wirkt deprimiert. Wenn sie ihn hinaus lässt, damit er sein Geschäft erledigt, geht er nur wenige Schritte auf die Lichtung und kehrt dann, so schnell wie möglich, den Schwanz eingekniffen, auf die Veranda zurück.

 

Klaus ist tot und begraben, aber noch immer atmet sie in seinem Rhythmus. 

Um jeden Atemzug hatte sie mit ihm gerungen. Ihn gedreht, so gut sie konnte die wunden Stellen gepolstert. Sie holte mit ihm zusammen Luft, wenn er mit reißendem Atem aus dem Dämmer der Schmerzmittel schreckte. Sie war es, die ihm die Medikamente gab. Wasser, solange er es schlucken konnte. Sie lebte das Restleben, das ihm zugestanden war, nach seinen Regeln.

Dann wurde der Platz im Hospiz frei und obgleich er einwilligte, weil er fühlte, wie es um sie stand, spürte sie sein Widerstreben.

 

„Du weißt es genau“, hatte sie gedacht, „ich bin auch wichtig.“

 

Gesprochen aber hatte sie davon, ihn nachher gleich zu besuchen. Jetzt nur einen Moment lang auszuruhen. Hatte vorsichtig, um ihm nicht weh zu tun, seinen dünnen Körper umarmt und in die Augen geschaut, die viel zu groß waren für sein ausgemergeltes Gesicht. Sie hob den Arm zum Abschied, als wollte sie winken, und noch bevor sie erleichtert war, ging sie rasch ins Haus zurück.

Verschlafen hatte sie. Den Wecker überhört. In der Nacht klingelte das Handy, leuchtete ihr den 10. Mai ins Gesicht.

„Ja?“

 

„Frau Heider, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass..“

 

Am Morgen hat der Schnee endlich eine weiße Decke über die Lichtung gebreitet.

 

Manchmal sieht sie ihn noch. Er betritt ihre Träume, als gehörten sie ihm, lächelt:

„Na meine Verräterin…“

 

Ja, es hat geschneit, aber der Schnee ist in feucht plusterigen Flocken in eine warme Morgendämmerung gefallen. Fake Schnee, den Niedergang bereits in sich, der, kaum geboren, grau unter dem blassen Himmel liegt, es nur mit Mühe schafft, weiße Flecken auf die dunklen Tannen zu legen, von denen er jetzt in nassen Fladen herunter rutscht, als duldeten sie seine feuchte Berührung nicht.

 

„Auf geht’s Tim“, sie steckt die Füße in die Winterstiefel und schlüpft ungeduldig in ihre Daunenjacke.

 

Auf der Veranda stützt sie die Arme aufs Geländer, schaut über die Lichtung, atmet tief in die Morgenluft. Die Holzstufen knarren, als sie vorsichtig hinunter auf den matschweichen Boden steigt.

 

Fußspuren ziehen vom Waldrand quer über die Lichtung hin zur Treppe, als habe genau hier jemand gestanden und das Haus betrachtet.

 

Jemand, der mit großen Schritten tiefe scharfe Stiefelabdrücke dunkel in den Schnee gestempelt hat, so dass ihr der Hals eng wird. Eine Spur, die ihre Blicke mit sich nimmt zum Wald.

 

Wie kann es sein, dass einige der Tannen mit Zweigen winken, obgleich andere reglos in der Stille stehen?

„Hallo?“, ruft sie zaghaft in das Schweigen.

 

„Dir gefällt es nicht, was Tim?“

 

Der Retriever war zum Auto gelaufen und sah sie über die Schulter an.

Als lieferte der Postbote Briefe und Erklärungen, stapft sie hinauf zur Straße. Sie öffnet den Briefkasten und steckt die Sonderangebote, zusammen mit der nun fertigen Deutung, in die Tasche: Klar, jemand brachte Werbung. Sie lächelt hinunter. „Na Tim, Hunger?”

Später zieht sie das Frühstück in die Länge. Mit jedem Bissen verschwindet auch ein Teil des Tages. Sie zieht das Buch heran, liest den Satz ein zweites und ein drittes Mal. Die Worte wollen nicht zusammen finden.

 

„Du solltest nicht hier sein”, sagt Klaus, leichthin, „Du solltest jemanden kennen lernen.”  Spricht in dem Ton, den sie schon früher nicht ausstehen konnte. Als käme er von einer Reise und der Vorschlag sei ein Mitbringsel.

„Als ob das einfach wäre”, sagt sie und dreht seine Worte unentschlossen hin und her, als wäre das Präsent ein Herrenparfüm, dunkel, glatt, scharfkantig verpackt, mit goldener Schrift und völlig daneben.

Vielleicht sollte sie in die Stadt fahren.

 

Die Daunenjacke hat sie über die Lehne gehängt, tastet nach dem Werbezettel, streicht ihn glatt.

Liest zwischen Teller und Tasse das angepriesene Sondersortiment des heimatlichen Edeka vom letzten Winter, sucht nach einem anderen Zettel und der Erklärung, die es geben muss.

 

Heute würde sie es nicht mehr schaffen. Schnee rieselt in feinen dünnen Flocken vom Himmel, legt einen dichten Vorhang vor die Lichtung. Marla dreht die Heizung höher, sieht hinaus, wo der Schnee Schicht auf Schicht legt und das Licht der Dämmerung weicht. Sie nimmt das Buch und geht zu Bett.

 

„Bleib stehen!“

Er holt sie ein, zieht sie herum, blickt ihr mit großen toten Augen ins Gesicht:

 

„Marla, Du musst hier weg.“

 

Hundegebell! Sie schreckt hoch, ist hellwach. Draußen knarzen schwer die Stufen, tappen feste Schritte über die Veranda. Marla springt aus dem Bett, hinüber zur Küche, greift ein Messer, hält es spitz vor ihre Angst.

Tims Bellen wird zu tiefem Knurren. Als der Knauf sich dreht, weicht er, Nacken gesträubt, Zähne gefletscht, geduckt und sprungbereit zurück.

Schnellt plötzlich vor, bellt laut und aggressiv, als Schritte sich entfernen.

 

Sie dreht die Heizung höher. Tim legt sich vor die Tür. Neuschnee, vom Wind in sanfte Form gebracht, die Spur zum Waldrand nur noch flache Mulden. Das Messer nimmt sie mit, duscht heiß und lang.

Vor dem Frühstück packt Marla zusammen. Was sie braucht, ist im Schuppen hinterm Haus. Entschlossen schlägt sie den Schieber in den Schnee, der pulverig nachgibt und fast nichts wiegt. Wind geht über ihre Spur und Schneekristalle schmirgeln ihr Gesicht. Tim schaut mit schmalen Augen von der Veranda. Sie gräbt den Zettel aus, der gestern fehlte. Dem Auto lässt sie einen Hut aus Schnee, legt eine Fahrspur hoch zur Straße.

Sie dreht den Schlüssel, quält den Anlasser, mühsam springt der Motor an, hustet in die kalte Luft. Das Auto wühlt sich die Einfahrt empor, bricht durch und biegt nach rechts.

 

In sanftem Bogen schwingt die Straße über eine Kuppe, verläuft oberhalb des Waldes, so dass die Wipfel wie kleine Tannenbäume wirken. Spuren führen nach rechts, die Böschung hinunter. Einsatzfahrzeuge stehen qualmend in der Nacht. Blaues und gelbes Licht tanzt auf dem Schnee. Unten haben sie die Stelle ausgeleucht, hantieren mit der Rettungsschere.

 

“Und?”

 

Der Feuerwehrmann, tritt mühsam atmend, von der Böschung auf die Straße. Stampft sich Schnee von seinen Schuhen. Nimmt erhitzt den Helm ab, gräbt ein Tuch aus seiner Tasche und wischt sich die Stirn.

 

„Ist eingeklemmt. Die Lenksäule drückt auf ihr Becken. Vorhin hat sie noch versucht, sich aufzurichten.”

 

Larsson schüttelt den Kopf, blickt auf die Uhr, „immer zu schnell. Denken, wenn sie ein SUV fahren, gilt die Physik nicht.“

 

„Ein Hund lag tot zwischen den Bäumen.“

 

„Drei Einbrüche letzte Woche“, sagt Larsson darüber hinweg, „ich hoffe, ihr bekommt sie schnell raus. Muss dringend schlafen.“

 

Der Schmerz, der sich durch ihr Becken wühlt fragt nach Geduld. Sie antwortet „Ich mag dich nicht“. Schmunzelt dünn und wird bestraft, so dass sie scharf die Luft einsaugt.

 

Sie hört ihn schon. Gleich wird er hereinkommen, sie sanft und vorsichtig in den Arm nehmen und auf die andere Seite drehen, so wie sie es früher mit ihm tat. Das wird es leichter machen. Dann wird er ihr wieder mit dem Hospiz kommen in das sie ihn begleiten soll. Heute will sie sich gut präsentieren, mit Hoffnung und Erleichterung schminken. Kälte schlägt ihre Zähne aufeinander. Wo ist Tim? Sie versucht die Drehung selbst und schafft es nicht. Hände greifen. Befehlen „Ruhe!“.

 

Sie zieht ein Lächeln hervor und bringt es aufs Gesicht.

„Hallo Schatz“, und obgleich ihr ein gedämpftes Stöhnen in die Parade fährt, erkennt er ihr Bemühen und stellt das Frühstück ab. Viel zu große Augen schauen vertraut aus seinen toten Zügen. Er küsst ihre Stirn. Sagt „Hallo Liebes.“

 

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