Matthias Herrmann
„Papa hätte es erlaubt!“, schrie Marius seine Mutter Bianka an. Bianka mischte gerade einen Salat durch. Marius sah, wie sie innehielt, in die Schüssel starrte, als würde sie etwas suchen, dass in den Salat gefallen war, dass sie aber nicht wiederfinden würde, weil es sich bei der Berührung mit Essig und Öl auflöste. Spurlos.
„In dein Zimmer“, sagte sie nur und Marius hatte gelernt, dass es besser war, den Streit an dieser Stelle abzubrechen.
Er kletterte auf sein Hochbett, legte sich auf den Rücken und starrte in das Universum, dass ihm sein Vater an die Zimmerdecke gepinselt hatte, als er damals, das letzte Mal, auf Heimaturlaub aus Afghanistan hier gewesen war. Auch wenn es nur gelb-orange Farbspiralen auf einer schwarzblau gefärbten Raufasertapete waren, konnte Marius mit Überlichtgeschwindigkeit sein Zimmer verlassen und durch die Milchstraße Richtung Alpha Centauri verduften. Spurlos. Doch heute funktionierte es nicht. Es war klar, dass er seine Mutter verletzt hatte. Er fing an, es zu bereuen. Nicht nur aus schlechtem Gewissen, sondern auch weil er ahnte, dass er es bezüglich der Erlaubnis für den Klassenausflug vermasselt hatte.
„FC Bayern – Stern des Südens!“ meldete sich sein Smartphone. Immerhin das hatte sie ihm nicht verbieten können, auch wenn sie gegen die IT-Konzerne wetterte, ihm WhatsApp untersagt hatte und er als einziger in der Klasse Signal verwenden musste.
Es war Luki.
„Und hat sie es erlaubt?“
Marius schwieg.
„Nein? Oh, Mann! Versteh mich nicht falsch, aber deine Mutter – wenn es nicht deine Mutter wäre, würde ich sagen, sie hat einen Knall!“
„Du verstehst das nicht.“
„Ich weiß, was mit deinem Dad passiert ist. Das ist lange her! Wie lange will sie dich noch einsperren?“
„Was soll ich machen?“
„Er hätte nichts dagegen gehabt.“
Die Lösung war dann ganz einfach. Und wenn seine Mutter davon gewusst hätte, hätte ihn sein Cousin Free an dem Wochenende bestimmt nicht besuchen dürfen. Free war gerade wieder mit seinen Eltern aus Griechenland zurückgekehrt. Doch an der Freien Schule, die er besuchte, nahm man es mit den Fehlzeiten nicht so genau. Marius fragte sich, warum ihn seine Mutter nicht auch an so einer Schule anmeldete, an der man selbst entschied, wann man lernte und wann nicht.
Frees Eltern hatten ihren Sohn am Freitagabend bei seiner Tante Bianka und Cousin Marius abgesetzt. Sie fuhren weiter zu ihrem Schamanen. Sie würden erst am Montag oder Dienstag wieder auftauchen, um ihren Sohn mitzunehmen.
Jetzt fläzten sich Marius und Free auf dem Hochbett und überlegten, wie sie das Wochenende verbringen sollten. Heute Abend wollte Bianka zuerst mit ihnen kochen. Außerdem war im Ort Kirmes und sie könnten mit einem Mutti-Zettel bis 23 Uhr im Festzelt bleiben.
„Und was machen wir morgen?“, fragte Free. „Freibad?“
Marius zuckte mit den Schultern. Eine seltsame Traurigkeit überkam ihn.
„Keine Lust?“
„Keine Ahnung.“
„Dann schlag was vor!“
„Ach, das hat Bianka verboten.“
„Was?“
Free richtete sich auf und sah seinen Cousin konzentriert an. Er war ein bisschen neidisch auf den Flaum auf dessen Oberlippe. Er selbst träumte von einem kleinen Schnauzer, aber das würde noch dauern, fürchtete er.
„Morgen ist meine Klasse in die Kaserne eingeladen“, sagte Marius.
„Vom Panzerbatallion?“
„Ja. Der Vater von einer aus meiner Klasse ist dort auch stationiert. Sie machen ein Paintball-Spiel.“
„Wie geil ist das denn!“, rief Free und hüpfte auf dem Hochbett herum, dass die Latten nur so krachten.
Am nächsten Morgen wunderte sich Bianka, als ihr Sohn und sein Cousin den Frühstückstisch abräumten, das Hochbett klar machten und sogar das Zimmer lüfteten.
„Ihr werdet langsam erwachsen!“, sagte Bianka und lachte. Marius hatte sie lange nicht mehr so fröhlich gesehen. Er warf Free einen Blick zu, doch der lächelte seine Mutter an.
„Viel Spaß im Freibad, Jungs!“
Als sie die Kaserne erreichten, bedeutete der Posten am Tor ihnen anzuhalten. Eine Maschinenpistole baumelte vor seinem Bäuchlein. Frees Augen leuchteten.
„Wo wollt ihr Hippies denn hin?“
„Zum Klassenfest.“
Nachdem sie ihre Namen aufgesagt hatten, ging der Soldat eine Liste durch. Als er Marius Namen gefunden und gelesen hatte, blickte er kurz auf und murmelte : „Oh.“
Zu Free sagte er: „Du stehst hier nicht drauf.“
Free strich sich seine lange Strähne aus der Stirn, sagte nichts.
„Das ist mein Cousin. Er ist zu Besuch.“
„Wartet mal.“
Der Posten schlenderte in sein Pförtnerhäuschen. Marius blickte Free an. Wenn der jetzt seine Mutter anrief? Free nickte ihm unmerklich zu. Endlich winkte der Mann sie durch.
„Alles klar. Immer geradeaus. Dann findet ihr die anderen schon!“
Als sie ankamen, war das Klassenfest schon im Gange. Im Schatten der Panzerhalle waren Bierbänke und -tische aufgebaut. Die Tische waren mit Kids aus Marius Klasse und ihren Eltern besetzt. Es gab ein Büffet. Maries Vater, Major Horstmann, stand in Uniform am Grill. Er begrüßte Marius und Free mit einem Wedeln seiner Grillzange. Marius tippte sich mit dem Finger an die Basecap. Free lächelte ihn an. Außerdem parkten noch vier Rollcontainer mit der Paintball-Ausrüstung im Hintergrund: Overalls, Helme, Schutzbrillen, Markierer und Farbpatronen.
„Hey, da seid ihr ja endlich“, rief jetzt sein Freund Luki und kam auf sie zugeschossen. Luki und Free kannten sich schon von Frees letztem Besuch. Da hatte Free Zigaretten dabeigehabt. Sie waren in den Wald geradelt und hatten zum ersten Mal geraucht. Gepafft. Lungenzüge hatten sie sich nicht getraut.
„Was geht, Alter?“, begrüßte Marius seinen Freund. Luki strahlte sie an. Er trug bereits Overall, Helm und Schutzbrille.
„Was grinst du?“
„Ich bin mit Marie im Defence-Team!“
„Echt?“
Free blickte die beiden fragend an. Doch Marius sagte nichts und Luki fixierte irgendeinen Punkt oberhalb des Ehrenhains im blauen Sommerhimmel.
„So, bitte, macht euch fertig. Auch ihr, Marius und…? Wie heißt du gleich?“ rief jetzt der Major.
„Free“, sagte Free.
Der Major stutzte kurz, schien ein Grinsen zu unterdrücken und fuhr dann fort: „Und auch du, Free. Geiler Name. Zieht euch an. Schutzbrille nicht vergessen. Wenn ihr fertig seid, bekommt ihr die Markierer und die Munition, pardon, die Farbkugeln von mir.“
Und leiser dann zu Marius: „Wenn du willst, können wir nachher noch zum Ehrenhain gehen. Aber nur wenn du willst.“
Marius und Free bildeten einen „Sturmtrupp“, wie der Major sie nannte. Insgesamt gab es fünf Sturmtrupps. Die restlichen neun Kids bildeten das Defence-Team. Unter anderem mit Luki und Marie, Horstmanns Tochter.
„Wer am Torso oder am Kopf getroffen wird, ist raus!“
Free meldete sich, wartete jedoch nicht, bis er vom Major aufgerufen wurde, sondern quatschte gleich los: „Was meinst du mit Torso?“
Marius gab ihm einen Stoß in die Seite.
„Was ist denn?“, zischte ihn Free an.
„Du musst ihn siezen!“
„Ah, okay. Tut mir leid. Was meinen Sie mit Torso?“
Horstmann nickte.
„Wer kann unserem Gast Free erklären, was mit Torso gemeint ist.“
Marie meldete sich und fuhr mit einer kreisenden Handbewegung über ihren Ober- und Unterkörper. Free nickte eifrig und zwinkerte Luki zu.
„Alles klar!“
Schließlich waren alle instruiert und das Defence-Team zog mit der Fahne des Pionier-Bataillons los, um ihren Hügel zu besetzen und ihre Verteidigungsstellungen auszubauen. Marius und Free untersuchten ihre Markierer. Jeder hatte eine Box mit 500 Schuss.
„Gut, dass Bianka uns nicht so sieht“, erklärte Marius.
„Besser ist es“, pflichtete Free ihm bei.
„So, überlegt, wie ihr vorgehen wollt. Hier an dem Flipchart könnt ihr auch eure Angriffe aufzeichnen“, dozierte der Major.
Free gähnte.
„Können wir nicht einfach drauf gehen? Komm, lass uns los!“
Doch trotz Frees Ungeduld baldowerte das Team eine Taktik aus, um die Fahne zu erobern. Vier Sturmtrupps würden die Verteidiger direkt angreifen. Das würde sie ablenken. Der fünfte Sturmtrupp würde sich von hinten anpirschen und zuschlagen. Spurlos. Marius und Free bildeten dieses fünfte Team. Der Major nahm seine Trompete und blies eine Fanfare.
Alle klatschten sich ab und marschierten los. Zunächst überquerten Marius und Free eine Wildwiese mit mannshohen Gräsern, dann quetschten sie sich durch Brombeergestrüpp, schließlich erreichten sie ein Birkenwäldchen. Auch hatte sie Horstmann vorher gewarnt: „Und passt auf die Bombentrichter im Wald auf, dass ihr da nicht in reinfallt! Die sind vom letzten Krieg. Da wurde die Kaserne hier richtig unter Feuer genommen.“
Sie hatten zwar nicht genau verstanden, was er mit letztem Krieg gemeint hatte, aber irgendwie klang es aufregend und gefährlich. Endlich erreichten die beiden eine Lichtung, an die sich auf der gegenüberliegenden Seite Fichtenwald anschloss, der sich zum Hügel mit der Fahne des Bataillons hinaufzog. Auf der Lichtung stand ein Panzer. Marius schloss seine Augen und spürte, wie seine Lider flatterten.
„Sollen wir?“, flüsterte Free.
Marius blickte auf die Karte und zuckte mit den Schultern, als sein Smartphone klingelte. Es war das andere Angreifer-Team.
„Wo seid ihr?“
„An der Lichtung mit dem Panzer.“
„Seid ihr schon am Hügel?“, mischte sich Free an.
„Fiiiisch!“, rauschte es da an Marius Helm vorbei, klatschte gegen Frees Brust und zerbarst blutrot.
„Oh, shit!“, heulte Free auf und schrie: „Ich will nicht aufhören!“
Er sprang auf, rannte auf die Lichtung, drehte sich im Kreis, stellte seinen Markierer auf Dauerfeuer. Farbpatronen klatschten gegen Baumstämme und den Panzer.
„Hör auf, Free!“, schrie Marius. „Das sind die Regeln!“
„Du spinnst wohl!“
Free zielte auf Marius und drückte ab.
„Schon raus? Wer hat euch erwischt?“, begrüßte sie der Major, der gerade dabei war, die Biertische abzuräumen.
„Wenn ihr euch umgezogen habt, könnt ihr mir bei der Kaffeetafel helfen.“
Und gerade als Marius die letzte Papierserviette gefaltet und auf den Teller gestellt hatte, kamen die restlichen Spieler zurück. Manche rot verschmiert, andere unversehrt – so wie Luki und Marie. Die beiden gingen Hand-in-Hand. Sie trug die Fahne des Bataillons. Er lachte und winkte Marius zu, der am liebsten verschwunden wäre. Spurlos.
Version 2
