Von Christiane Labusga

„Eigentlich“, sagte der Mann am Nebentisch, „eigentlich gibt es außer Vakuum gar nichts. Wenn man bedenkt, dass die Entfernung zwischen dem Atomkern und der ersten Elektronenschale das 100.000fache des Durchmessers des Atomkerns bemisst, dann bestehen Atome eigentlich nur aus Vakuum.“ Er blickte sich um: „Eigentlich dürften wir gar nicht als Objekte bestehen, eigentlich müssten wir alle hier durcheinander fließen oder durch unsere Stühle hindurch wabern.“

 

„Wenn“, er hob die rechte Hand und streckte den Zeigefinger nach oben, „wenn es keine elektrische Anziehungskraft gäbe“, irgendetwas war mit dem Licht im Raum geschehen, der Mann wirkte wie durch einen Weichzeichner aufgenommen, „wenn es keine van-der-Waals-Kräfte gäbe“, ich musste mir die Augen reiben, so undeutlich wurde der Mann, „dann könnten wir durch Wände gehen!“

 

Der Mann stand auf, blickte in die Runde. „Stellt euch vor, ohne diese Kräfte könnte ich nicht einmal hier auf diesen Tisch klopfen!“ Er ballte eine Faust und hieb auf den Tisch. Das Geräusch war, als hätte er auf eine Lage Watte geschlagen. Begann ich jetzt auch schlecht zu hören?

 

„Wir könnten durch Wände gehen!“, schrie der Mann, dessen Umriss ich kaum noch sehen konnte, er kam mir wie eine Nebelwand vor. Nun wankte er zwischen den Tischen in Richtung Ausgang. Die vielen Biere, die er im Lauf des Abends genossen hatte, bewirkten, dass er immer wieder an Tische und andere Gäste stieß, aber das schien ihn nicht aus der Bahn zu bringen. Als wären diese Luft, folgte er unbeirrt seiner Schlangenlinie zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und schrie in den Raum zurück:

 

„Aber es gibt sie nun mal, diese Kräfte, und wir sind in ihnen gefangen!“

 

Dann drehte er sich ruckartig um, schwankte kurz und ging durch die Tür, ohne sie zu öffnen.

 

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