Von Robert Reitz

Die Froschkobolde tauchten gegen Mittag in meiner Küche auf. Sie waren nicht viel größer als eine Wodkaflasche, trugen Anzug und Krawatte, hatten Mobiltelefone und Laptops dabei und fielen über meinen Kühlschrank her. Ich war wegen des lauten Gepolters aufgewacht, stand verkatert in der Küchentür und beobachtete zwei oder drei Minuten lang das Treiben der Horde.

 

Schon seit Tagen hatte ich meine Wohnung nicht mehr verlassen und war damit beschäftigt, mich täglich umzubringen, indem ich Hardenbergs Weizenwasser in mich hineinschüttete, bis mein Kopf sich anfühlte wie ein Eimer voll Tapetenkleister.

Vor etwa ein oder zwei Wochen hatte ich mein zweihundertstes Bewerbungsgespräch gehabt – es ging um den Job in einer Bratwürstelbude – und seit der Absage die Zeit zu Hause mit Fernsehen und Schlafen oder Fernsehen und Saufen oder Fernsehen und Kotzen verbracht. Schon seit ich zwölf Jahre alt war, fühlte ich mich auf diesem Scheißplaneten unwohl, aber erst mit vierundzwanzig begann ich, das mit Schnaps und anderen Drogen abzumildern. Nur Schnaps und Drogen machten es mir möglich, fernzusehen. Sogar Nachrichten, Talkshows und Werbespots überstand ich, ohne juckende Pickel auf dem Gehirn zu bekommen.

Jetzt stellte ich fest, dass sich in meiner Küche eine Klappe im Boden geöffnet hatte, aus der diese Kreaturen gekrochen sein mussten.

 

Es war ohnehin nicht leicht, in meiner Wohnung zu existieren. Ich lebte im Dachgeschoss im neunten Stock und unter mir hauste eine Speedmetalband, die es mir unmöglich machte, Pflanzen zu züchten. Wenn diese Band mit ihrer wöchentlichen Session fertig war, konnte auch die stundenlange Beschallung mit Mozartplatten nichts mehr wiedergutmachen. Die Cannabispflanzen, die ich mir zugelegt hatte, hauchten einfach ihr Chlorophyll aus, und das war es dann; die Plantage hatte sich selbst das Leben genommen.

 

Die Froschkobolde räumten meinen Kühlschrank aus, begannen alles zu verschlingen und tauschten dabei lauthals Zahlen aus: „8, 88 Prozent!“ – „20 Millionen!“ – „Achtundachtzig-plus!“ – „Bei 30-4 Übernahme!“ – „Neuntausend entlassen!“

Trotz ihrer geringen Größe wirkten sie muskulös und kräftig. Von mir nahmen sie keine Notiz, als ich mich vorsichtig zur Klappe im Boden begab. Da führte eine Leiter drei Meter nach unten und endete in etwas, das wie ein Bergwerksstollen aussah. Jedenfalls war es nicht die Wohnung der Speedmetalband unter mir, das war sofort klar. Es lagen weder leere Whiskyflaschen noch bewusstlose, nackte Weiber herum.

Ich starrte auf die Klappe, dann wieder zu den Froschgestalten und schlug mir ein paarmal selbst ins Gesicht. Ich überlegte, ob ich etwas an der Situation ändern konnte. Zum Beispiel, indem ich ein Glas Hardenberg trank und mich wieder hinlegte. Aber diese Scheißkobolde machten einen solchen Radau, sie waren nicht zu ignorieren. Deshalb holte ich den Regenschirm mit Eichenholzgriff aus dem Flur, ein Erbstück meines Vaters. Keinen Schimmer, wer oder was diese Frösche waren, aber ich wollte sie dorthin zurückzutreiben, wo sie hergekommen waren.

 

Als ich mit dem Schirm auf den Tisch haute, stoben sie mit lautem Gequake nach allen Seiten auseinander. Ich jagte hinter ihnen her und ließ den Regenschirm durch die Luft kreisen. Bei ihrer Flucht durch die Zimmer schmissen die Kobolde Regale um (die mich in der Verfolgung behinderten) und warfen mit dreckigem Geschirr und leeren Weizenwasser-Flaschen nach mir, die ich mit dem Schirm abwehrte, während ich die Biester gleichzeitig durch die Räume trieb. Sie installierten sekundäre Kampfschauplätze, indem sie die Wasserhähne in Bad und Küche aufdrehten oder kleine Feuer anfachten, um die ich mich zwischendrin kümmern musste. Sowie sie merkten, dass sie Oberwasser bekamen, gingen ihre Schreie in triumphierendes Gelächter über und ihre Lurchgesichter strahlten. Sie fingen damit an, mich gezielt zu attackieren, indem sie mir blitzschnell Bücher an den Kopf warfen und dann wieselflink weghüpften – eine Scheißmethode, die bei Age of Empires Shoot’n’Run heißt. Außerdem schienen es immer mehr zu werden, und mit einem Mal waren auch weibliche Frösche darunter, Froschfrauen, die in Kostüme gekleidet waren und Aktenkoffer trugen oder wie Krankenschwestern aussahen. Außerdem fielen mir derweil in dem Tohuwabohu Bauarbeiter- und Soldatenkobolde auf. Die Bauarbeiter hatten gelbe Helme auf, die Soldaten feuerten die Bilder an den Wänden herunter. Viele der Eindringlinge hatten inzwischen Hämmer und Äxte in den Händen und kleine Teams gebildet, die sich über die Möbel hermachten. Sie riefen: „Alles muss verbessert werden!“, und wuselten um mich herum und an mir vorbei. Froschkobolde mit Schubkarren transportierten die Einzelteile meiner auseinander gehauenen Stühle, Tische und Schränke zum Loch im Boden. Rettungsfroschmännchen und Froschfrauärztinnen versorgten (offenbar verletzte) Froschkoboldarbeiter, wozu sie in deren Rücken kleine Klappen öffneten und da drin herumschraubten. Geschrei, Gelächter und Lärm vermischten sich.

 

Inzwischen stand ich nur noch da, außer Atem, der Regenschirm war aus meiner Hand zu Boden gefallen, als das Telefon klingelte. Der Würstelbudenbetreiber war am Apparat (wumm! traf mich Kafkas Prozess am Hinterkopf), um mit mir über den Job zu sprechen, für den ich mich beworben hatte: „Sie wissen schon, letzte Woche …“. Er war jetzt doch an mir interessiert (wumm! Schillers Räuber), aber ich konnte mich nicht auf das Gespräch konzentrieren. Daran waren nicht nur die Tolstoi- und Dostojewskigeschosse schuld, die jetzt regelmäßig gegen meinen Kopf krachten, sondern auch, dass die Frösche damit angefangen hatten, mit vereinten Kräften meine Wohnungseinrichtung aus dem großen Mansardenfenster zu schmeißen. Soeben kippte meine Waschmaschine nach draußen. Ich brüllte: „Jetzt wartet nur!“, und forderte den Würstelmeier auf, kurz in der Leitung zu bleiben, bis ich die Scheißviecher alle umgebracht hatte. Er sagte: „Kein Problem.“ Ich warf das Telefon auf den Boden, griff nach meinem Schirm, holte aus und ging erneut auf die Froschkobolde los, die aber taktisch klug auseinander liefen, um die Richtung meines Angriffs zu zersplittern. nicht lange und ich stand ich wieder keuchend da; mein Blick fiel auf die Klappe – oh Gott! Es strömten immer noch mehr dieser grünen Teufel da herein! Sie schafften jetzt schweres Gerät herauf, neben den Spitzhacken auch Motorsägen, elektrische Meißel und schwere Schlagschrauber. Eine Handvoll der Eindringlinge hatte begonnen, mit einem Presslufthammer die Wand vom Schlaf- zum Wohnzimmer durchzubrechen. „Alles muss verbessert werden!“, riefen sie im Chor, während sie arbeiteten.

 

Ding-dong. Es klingelte. Wahrscheinlich ist das jetzt auch noch mein Vermieter, dachte ich, riss die Tür auf und blaffte: „Was ist?“

Draußen stand Dave, der Schlagzeuger der Metalband, ein massiger Typ in Lederklamotten, und fragte mich vorsichtig, ob ich es leiser stellen könnte. Ich bat ihn herein und bot ihm an, es doch einfach selbst leiser zu stellen. Er bekam große Augen, als er in meinem Wohnzimmer die Felder von Austerlitz erblickte, auf ihnen die Frösche, die kreischten, quakten und herumwuselten und dabei auseinander bauten, schlugen oder sägten, was in ihren Radius geriet. Ein halbes Dutzend von ihnen hieb synchron mit langstieligen Äxten auf meinen Kieferschrank ein. „Alles muss verbessert werden!“, riefen sie im Chor.

„Mann, gleich gibt’s Rock’n’Roll!“, sagte Dave und legte mir seine Pranke auf die Schulter. „Ich hol die anderen!“ Er verschwand nach unten.

 

Sie kamen alle – Dave, Pit, Mike und Tom. Nur Minuten später hatte die Band ihre Anlage im Wohnzimmer aufgebaut und dröhnte die Kreaturen tausendwattstark mit Iron Maidens Die With Your Boots On gegen die Wände. Das war der Soundtrack für das Finale! Ich packte die nach allen Seiten kopflos fliehenden Frösche, sobald sie begannen, konvulsivisch zuckend zu torkeln, und deaktivierte sie mit wenigen Handgriffen (denn ich hatte längst kapiert, dass sie keine echten Frösche, sondern Roboterdrohnen waren). Vielleicht waren sie mit Bluetooth untereinander verbunden und so etwas wie ein hyperdimensionaler Virusangriff, aber was sie auch immer sein mochten, ihre Schwachstelle waren jedenfalls die Akkus – wenn man die entfernte, erlosch ihre Lebensenergie. Die Nadelgestreiften wählten dann noch verzweifelt ein paar Nummern mit dem Handy, erkundigten sich, wie der DAX stand, zappelten zuletzt kurz und wild herum – und erstarrten dann. Zehn Minuten Metal-Sound, und die Schlacht war vorbei. Tom ließ seine Gitarre fallen und schaute sich um.

 

Die Wohnung sah aus, als wäre ein Asteroidenschwarm durchgeflogen; verschiedene Brandstellen rauchten vor sich hin. Dazwischen lagen die Einzelteile meiner Möbel, die Werkzeuge, die ausgeschalteten Froschinvasoren und deren Handys, welche polyfon klingelten, piepsten, summten, rappten, quakten oder rülpsten.

Mein Blick fiel auf mein Telefon. Ich hob es auf, nahm es ans Ohr. Der Würstelbrater war natürlich nicht mehr in der Leitung. Hätte mich auch gewundert, fantasielose Arschgeige. Und dann zeigte Dave auf das Fenster und rief: „Scheiße, Mann!“

Ich spähte nach draußen. Über die Stadt. Die Straßen wimmelten von … kleinen, korrekt gekleideten Froschrobotern. Dann entdeckte ich die Klappen. Dutzende. Dutzende und Aber-dutzende von geöffneten Klappen.

 

(c) Robert Reitz, v2, ca. 9400