Von Irmi Feldman

Kurt Borag, der einstmals weltberühmte, seit vielen Jahren jedoch ins Nichts versunkene Filmemacher hatte nach 40 Jahren, sich urplötzlich entschieden ein Interview zu geben. Die Filmindustrie war zuerst erstaunt, dann begeistert, zuletzt hingerissen. Doch warum gerade jetzt? 

 

Nachdem sein damals 7-jähriger Sohn Henrik im Schwimmbad von Borags Strandvilla am Großen Wannsee ertrunken war und seine Frau daraufhin Selbstmord begangen hatte, war Borag nicht nur aus der Filmindustrie, sondern auch aus dem öffentlichen Leben ausgeschieden.

 

Er habe sich in sein Berliner Stadthaus in Grunewald zurückgezogen, hieß es, und lebe dort allein mit seinem einzigen Freund und Diener, Kolbar. Damals habe er nicht einmal seinen fast fertiggestellten Film ‚Rache‘ zu Ende gedreht. Es sei zu schmerzhaft, hieß es, den Film zu beenden, der direkt mit dem Tod seiner geliebten Familie zusammenhing.  

 

Kolbar im Hause Borag war Mädchen für alles: Er kochte, putzte, kaufte ein, übernahm jede Korrespondenz, jeden Termin, obwohl es deren nicht mehr viele gab. Seine Hauptaufgabe bestand jedoch darin, Borag vor der Welt abzuschirmen. Eine Welt, die anfangs noch volles Mitgefühl gezeigt hatte, doch als er selbst nach Jahren alle Filmangebote strikt ablehnte, habe man aufgegeben. Nun, nach 40 Jahren, hatte außer Filmstudenten und Film-Aficionados keiner mehr Ahnung, wer der weltberühmte Filmemacher Borag war. 

 

Kolbar hatte sich in den letzten Jahren begeistert dem Internet gewidmet. Die schier endlose Informationsflut hatte es ihm angetan. Mit Akribie, Geduld und natürlich Geld konnte man, wie ein Puzzle, ein Detail nach dem anderen zusammensetzen, bis die tiefsten Geheimnisse eines Menschen bloßgelegt waren. Die dunkelsten Ecken des Internets boten zudem all das an, was man im regulären Netz nicht erwerben konnte.

 

Sobald die Nachricht von Borags Interview publik geworden war, setzte das ehemalige Borag-Fieber wieder ein. Die Welt, wie es schien, habe ihn nicht vergessen. Seine Filme, in der Zwischenzeit zu Klassikern geworden, wurden wieder überall gezeigt. Man gründete Fangruppen, um seine besondere Filmtechnik erneut zu diskutieren. Nicht nur Filmstudenten, nein, die Allgemeinheit wurde wieder auf den alten Meister der Filmkunst aufmerksam.

 

Ein einziges Interview werde er gestatten, hieß es. Man solle eine Liste auserwählter Journale erstellen. Borag werde dann seine Entscheidung treffen. Lang war die Liste. Jedes Medium, das etwas auf sich hielt, ließ sich einschreiben.  

 

Zuletzt wurde Peter Messner, einem jungen Reporter einer kleinen unbedeutenden Zeitung, das Interview zugesprochen. Die Filmwelt war entsetzt. Diese kleine Zeitung? Wie das?

 

Und das kam so: Kolbar, dem sein Alter auch schon etwas zusetzte, war vor einem Lebensmittelgeschäft im Zentrum der Stadt mit dem Fuß umgeknickt und hatte sich den Knöchel verstaucht. Wie es der Zufall wollte, war Peter gerade aus dem Geschäft gekommen und hatte Kolbar auf die Beine geholfen und sogar angeboten, ihn nach Hause zu fahren.  Auf der Fahrt hatte Kolbar ihm von dem Interview erzählt, das Borag geben werde. 

 

Wer Borag sei, habe Peter gefragt, denn auch er gehörte zu einer Jugend, die mit amerikanischen Reißern und nicht mit alten deutschen Filmklassikern aufgewachsen war. Geduldig weihte Kolbar ihn ein. 

 

Was für ein Zufall! Ein Wink des Schicksals! Ein gutes Omen, jubelte Kolbar, als er erfuhr, dass Peter Reporter war. Sogleich bot er ihm das Interview an. 

 

Er müsse erst seinen Verleger fragen, erklärte Peter. Er könne das nicht allein entscheiden. 

 

Habeganz, Peters Boss und Besitzer der Bittelburger Stadtzeitung, sei fassungslos gewesen, als Peter ihm erzählte, dass er ein Interview mit Borag haben könne. Peter sprach auch von der Liste, von der Habeganz natürlich schon wusste, es aber nicht gewagt habe, seine unbedeutende Zeitung darauf setzen zu lassen. 

 

Auf jeden Fall müsse Peter das Interview annehmen. Gar kein Zweifel.

 

Habeganz erinnerte sich an den tragischen Borag Fall. Ein aufsteigender junger Filmemacher, dessen Sohn im Schwimmbad seiner Strandvilla ertrunken sei, und dessen Frau danach Selbstmord begangen habe. Er wisse es noch wie gestern. Borag war an jenem Sonntag nach Berlin zurückgerufen worden. Es gebe Schwierigkeiten mit dem Filmschnitt. Als Borag spätabends zurückgekehrt sei, habe er seine Frau Katherina mit aufgeschnittenen Pulsadern vorgefunden; ihren toten Sohn in den Armen haltend.

 

Irgendwelche Froschfiguren im Schwimmbad seien genannt worden. Auch Borags damaliger Regieassistent, der bei den Borags ein- und ausging, habe was damit zu tun gehabt. Zuletzt sei das Ganze aber als unglücklicher Unfall abgetan worden. 

 

Habeganz schüttelte sich. Die Erinnerung an den Fall hatte wieder alle Einzelheiten aufgewühlt. Dass er es gewesen war, der damals Borags Filmcrew angehört und Borag an jenem Sonntag nach Berlin zurückgerufen hatte, verschwieg er. 

***

 

Am Tag des Interviews stand Peter Messner vor Borags Stadtvilla. Kolbar ließ ihn ein. Vorbei an Filmplakaten alter Filme führte er Peter einen langen Gang entlang zum Wohnzimmer. 

 

Was der Knöchel mache, erkundigte sich Peter. 

 

„Knöchel?“, Kolbar stutzte einen Augenblick. „Viel besser“, sagte er dann.  

 

Borag empfing Peter auf einem Sofa sitzend. Groß, hager, und mit schlohweißen Haaren, bot er Peter einen Platz an. 

 

Ungeniert schaute der sich im Wohnzimmer um. Auch hier waren die Wände und Regale voll mit Fotos, Filmplakaten und Memorabilia vergangener Zeiten. 

 

Auf einer Kommode stach eine ungewöhnliche Anordnung ins Auge. Es waren drei Froschfiguren. Die Kleinste, ein gebrechlich aussehender Frosch auf einen Rollator gestützt, bildete den Mittelpunkt. Rechts daneben stand eine Froschkrankenschwester mit erhobenem Zeigefinger, so als wolle sie uns vor dem dritten Frosch warnen, der links von ihr mit einem Gewehr auf den Frosch mit Rollator zielte.

 

Was diese Frösche zu bedeuten haben, wollte Peter wissen.  

 

Borag schüttelte traurig den Kopf. Das sei eine lange Geschichte, meinte er. Bevor er Fragen beantworten werde, solle ihm Peter doch ein wenig von sich selbst erzählen. Von seiner Familie. 

 

Peter stutzte, denn sowas war bei Interviews normalerweise nicht üblich. Da er jedoch nicht unhöflich erscheinen wollte, begann er. Seine Mutter sei bei seiner Geburt gestorben. Sein Vater habe lange im Ausland gelebt. Er glaube Frankreich, sei sich aber nicht sicher, denn sein Vater rede nie von der Vergangenheit. Nach dem Tod seiner Mutter, sei er, Peter, von seiner Großtante mütterlicherseits aufgezogen worden. Erst vor ein paar Jahren sei sein Vater wieder in sein Leben getreten. Seither hätten sie engen Kontakt, was ihn, Peter, sehr freue.

 

Ob sein Vater in Berlin lebe? fragte Borag.

 

Peter verneinte. Sein Vater lebe in der Lüneburger Heide in dem kleinen Örtchen Wilsede. Er lebe total zurückgezogen, habe nicht mal Telefon oder Fernsehen. 

 

Borag nickte zufrieden. Er sei bereit. Er werde jetzt Fragen beantworten. 

 

Die Frösche hätten seinem Sohn gehört. Der Film ‚Rache‘, den er damals in Arbeit hatte, habe von einem Mafiaboss gehandelt, der seine letzten Tage geruhsam in einem Sanatorium verbringen wollte. Er sei jedoch von dem Sohn seines Erzfeindes, den er vor 20 Jahren hinterlistig hat ermorden lassen, dort aufgespürt worden. 

 

Kein Thema für ein Kind, natürlich nicht, aber sein Sohn Henrik habe großes Interesse an seiner Filmarbeit gezeigt. Deshalb habe er, Borag, die Hauptfiguren des Films für seinen Sohn als Frösche schnitzen lassen. Henrik liebte Frösche. Überallhin habe er seine Glücksfrösche, wie er sie nannte, mitgenommen. Leider sei Henrik ertrunken, als er diese Frösche aus dem Schwimmbad retten wollte. 

 

Warum die Frösche im Schwimmbad gewesen seien, wollte Peter wissen. 

 

Ob ihm der Name Roland Gerber was sage, fragte Borag stattdessen. 

 

Peter verneinte. 

 

Roland Gerber sei Borags Regieassistent, aber auch Freund, gewesen. Beide hatten an der Berliner Filmakademie studiert. Beide machten Filme, wobei Borag mit jedem Film weiter aufstieg, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Hollywood. Dagegen seien Gerbers Filme, einer nach dem anderen, Flops gewesen. Da Gerber bald keine Angebote mehr bekam, habe er, Borag, ihn als Regieassistenten eingestellt. Auch in seine Familie habe er ihn aufgenommen. Das sei ein Irrtum gewesen. Ein fataler Irrtum, denn Gerber habe sein Leben zerstört. 

 

Es sei Gerber gewesen, der die Frösche ins Schwimmbad geworfen habe, um Henrik ins Wasser zu locken, obwohl sein Sohn nicht schwimmen konnte. Gerber habe das gewusst. Doch Gerber sei auf ihn eifersüchtig gewesen: auf seinen Erfolg, auf seine Frau, auf seinen Sohn Henrik. 

 

„Die Frösche bringen Unglück“, stieß Borag aus. „Tod und Verderbnis.“

 

Peter solle sie nicht zu lange ansehen. Und auf keinen Fall berühren, warnte Borag. Er solle sie nicht berühren. Nicht berühren. Auf keinen Fall berühren. 

 

Peter entwich ein Lächeln. Das sei doch Aberglaube.

 

Kurz darauf stand Borag auf und bedeutete Peter, dass das Interview beendet sei. Er sei müde und müsse sich ausruhen. Borag rief nach Kolbar, und verließ sogleich den Raum. Allein zurückgeblieben, hob Peter einen der Frösche auf. Eine simple Holzfigur, dachte er. Sonst nichts. Lächelnd stellte er den Frosch zurück. Erst da bemerkte er die klebrige Substanz auf seinen Fingern. 

 

Kolbar trat ein und brachte ihn zur Haustür.  

***

Der Verkehr war brutal. Was für ein komischer Kauz dieser Borag doch sei. Und dieser Aberglaube mit den Fröschen? So ein Quatsch! Peter lachte. Dann nicht mehr. Sein Kopf schmerzte. Er hatte Mühe, sich aufs Fahren zu konzentrieren. Er konnte kaum atmen. Er fühlte sich schwach. Seine Finger waren immer noch klebrig. Dann klamm. Dann steif. Er versuchte zu bremsen, doch sein Fuß gehorchte ihm nicht mehr.

 

Peters letzter Gedanke galt den Fröschen, als er, unfähig, sich zu bewegen, in den abendlichen Verkehr hineinsauste.

***

 

In der Villa toasteten Borag und Kolbar sich zu. Vergeltung. Nach 40 Jahren. Kolbars Idee mit dem Interview. Brilliant! 

 

„Peter Messner ist wirklich Roland Gerbers Sohn?“, fragte Borag.

 

Kolbar schaute auf seine Uhr. 

 

„War“, sagte er dann. „Peter war Gerbers Sohn.“

 

ENDE

 

© Irmi Feldman, 2024; V2; 9997 Zeichen