Von Sabine Rickert
Charlie versuchte, sich auf die linke Seite zu legen, um sein rechtes Bein zu entlasten. Der Schmerz kam langsam zurück, die Wirkung der Tablette ließ allmählich nach.
„Wieso ist mir das passiert?“, fragte er sich verzweifelt.
Er schimpfte vor sich hin, um seinen Frust loszuwerden. Der Schock saß tief.
Vor einer Woche hatte er endlich mal pünktlich Feierabend und gönnte sich einen ausführlichen Spaziergang durch den Wald, um den Kopf frei zu bekommen. Zu viele Überstunden und eine steigende Anzahl von Morgenattacken seiner Katze Tallulah hatte ihn zusehends gestresst. Je weniger Zeit er für sie hatte, umso öfter ließ sie sich etwas Fieses einfallen, um ihn und den kleinen Pinscher Bonifatius auf die Palme zu bringen. Doch nach zwanzig Minuten Waldbaden – peng. Ein Schuss und im gleichen Moment riss es ihn von den Füßen.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, es klopfte an der Zimmertür und seine Schwägerin Margit mit seiner kleinen Nichte Annabelle betraten den Raum.
„Onkel Charlie, ich habe dir ein Geschenk mitgebracht. Ganz viel zum Basteln“, schnatterte die Kleine aufgeregt.
„Danke, Schatz, das ist lieb von dir. Was macht meine Katze, hast du auf sie aufgepasst?“
„Nein, sie ist nie da, aber sie beobachtet uns. Ich passe auf Boni auf, damit sie ihn nicht ärgert.“
„Das ist lieb. Sie belauert dich? Woher weißt du das?“
„Sie hat uns bis zum Krankenhaus verfolgt, ich habe sie gesehen“, Annabelle nickte heftig.
„Hallo Charlie, wie ist es heute?“, fragte seine Schwägerin.
„Besser, die Schmerzen lassen langsam nach. Die Schwester ist gruselig und der Arzt unsichtbar.“
„Du hast ja eine ganze Tasche voll, und die ist schwer“, sagte er zu Annabelle.
„Das ist FIMO, das haben wir in der Vorschule, ist wie Knete. Bastelst du mir ein Pferd, Onkel Charlie? Ein weißes! Mama backt es im Ofen, dann wird es hart, und ich kann damit spielen.“
„Ohne deine Ideen wäre mir total langweilig, mein Schatz, da hätte ich womöglich ein Buch gelesen, aber das brauche ich jetzt nicht, Gott sei Dank“, er lachte.
Annabelle strahlte: „Du veräppelst mich, Onkel Charlie. Lesen ist wichtig, das hilft dem Kopf, sagt Mama.“
„Ach, was macht das Buch mit meinem Kopf? Habe ich dann weniger Schuppen?“
„Nein, Onkel Charlie, das ist doch kein Shampoo. Du wirst ganz schlau.“
„Ein Buch lässt den Unfall vergessen, dann ärgere ich mich nicht so darüber. Also lieber lesen statt basteln?“
„Ich bringe dir meinen Sorgen-Emil mit. Du erzählst ihm alles und bastelst mir ein Pferd. In echt, das hilft wirklich.“ Annabelle nickte heftig mit dem Kopf, um ihrer Aussage nochmal Nachdruck zu verleihen.
„Bist du dir sicher, Liebes? Dann fehlt er dir vielleicht?“
„Ich habe ja Boni, dem erzähle ich alles. Zeigst du mir das Loch in deinem Bein?“, fragte sie aufgeregt.
„Da ist ein Verband drum, den darf ich nicht aufmachen. Sonst bekomme ich hier von der Krankenschwester Schimpfe, die ist streng.“
„Meinst du Schwester Sophie?“, fragte seine Schwägerin Margit. „Hat sie dich nicht im Wald gefunden und den Notarzt gerufen?“
„Ja, sie war zu der Zeit des Unfalls joggen. Seiddem gehöre ich ihr.“
Margit lachte süffisant.
„Ich glaube, da bahnt sich etwas an. Würde mich für dich freuen, wenn mal ein Mensch in dein Leben treten würde. Nicht immer nur Tiere um dich herum, bei der Arbeit im Zoo und bei dir zu Hause. Lauter Katzen, die dir auf dem Kopf herumtanzen. Da wäre doch so ein Karbolmäuschen, die deinen Körper schon inspiziert hat, mal eine Veränderung.“
„Mama, was ist ein Karbolmäuschen? Kann ich auch eins haben?“
„Nein, Annabelle, das ist kein Tier.“
Margit hatte wenig Lust, es zu erklären, und die Kleine war sofort wieder abgelenkt durch das Projektil, das auf dem Klapptisch am Bett lag.
„War die Kugel in deinem Bein, Onkel Charlie? Ich soll dem Papa nachher sagen, welche … hm … Glieber die hat“, Annabelle kratzte sich am Kopf.
„Du meinst Kaliber“, verbesserte er.
„Wenn er mich besucht, zeig ich sie ihm.“
An Margit gewandt sagte Charlie: „Schwester Sophie hat mir eine Reha besorgt, die haben hier im Nebengebäude ein Reha-Zentrum. Sie hat mich zu ihrem Hauptprojekt erkoren. Ich bin ihr gewiss dankbar für die Rettung im Wald, aber ich hoffe inständig, es ist nichts Psychotisches wie in Misery.“ Sie lachten beide.
„Hat sich denn die Polizei oder der Schütze schon bei dir gemeldet?“, fragte Margit.
„Ja, die Ordnungshüter waren hier und haben alles aufgenommen, was ich aus meiner Sicht zu dem Unfall zu sagen hatte. Es ist aber schon klar, wer der Schütze war. Sie hatte sich sofort bei der Polizei gemeldet und ist die hiesige Försterin. Sie wird sich bei mir ebenfalls melden, sagten die Beamten. Ein Anwalt wäre ratsam, um Schadenersatzansprüche zu erheben, etwa eine Rente, falls die Verletzung einen bleibenden Schaden hinterlassen sollte.“
„Zwei Frauen in deinem Leben, die Unfallverursacherin und die Retterin?
Wer die Qual hat, hat die Wahl. Was wird nur Tallulah davon halten?“ Margit amüsierte sich.
Nachdem beide gegangen waren, schnellte Schwester Sophie ins Zimmer, sie ließ ihm keine Zeit zum Verschnaufen.
„Mein Lieber, morgen ist es uns erlaubt, einige Schritte auf dem Flur zu laufen.“
„Super, jetzt sind wir schon bei uns“, spöttelte er in Gedanken.
Am anderen Morgen stürmte Sophie um 6.30 Uhr in Charlies Zimmer.
„Die scheint ja immer Dienst zu haben“, dachte er.
„Heute hätte ich gerne ein wenig länger geschlafen. Ich war erstmalig für ein paar Stunden schmerzfrei“, sagte er zu Sophie.
„Unser Training fängt gleich an. Vorher habe ich reichlich Aufgaben zu erledigen.“
„Habt ihr keinen Physiotherapeuten?“
„Der kommt erst nächste Woche, Personalprobleme.
*Ich bin dein größter Fan. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es wird alles gut. Ich werde gut auf dich aufpassen.“
Ihm wurde mulmig, das hatte er doch schon irgendwo gelesen.
Nach der Morgentour über den Krankenhausflur mit einem Rollator und der Schwester, motiviert wie eine Nationaltrainerin mit dem Befehlston einer Truppenführerin, war Charlie froh, wieder im Zimmer angekommen zu sein. Sophie öffnete die Tür, in dem Moment fiel ihm die Kinnlade herunter. Mit offenem Mund starrte er auf sein Bett, auf dem seine Katze lag.
Er schrie: „Tallulah, raus, sofort!“
Befehle brachten nichts, das war ihm klar, aber er fühlte sich in dem Moment völlig hilflos.
Schwester Sophie versuchte, die Main Coon von seinem Bett zu verscheuchen, damit sie durch das geöffnete Fenster wieder zurück in den Park sprang. So war der Plan, der dann so ganz anders ablief. Die Katze setzte zum Frontalangriff an und steuerte Sophies langen geflochtenen Zopf an. Dort festgekrallt, baumelte die Riesenkatze, bis die Schwester endgültig zu Boden fiel. Ihr Auftrag war erfüllt, und sie ließ sich empfehlen, indem sie durch das Fenster zurück in den Park sprang.
„Was war das?“, wetterte Sophie.
„Meine Katze“, sagte Charlie stolz und fügte schnell hinzu, „wir leben zusammen und sind unzertrennlich.“ Er nutzte die Chance, die ihm Tallulah auf dem Silbertablett serviert hatte.
Diese Nacht schlief er wie ein Baby. Sophie war erst einmal einen halben Tag aus seinem Dunstkreis verschwunden, er hoffte, dass es so bliebe und ihr Interesse an seiner Person nachließ.
Am Nachmittag des nächsten Tages klopfte es an Charlies Krankenzimmertür. Er war sofort gefesselt von der Frau, die durch die Tür schritt. Rotblonde Haare sowie ein blasser Teint mit feinen Zügen. So schwebte sie langsam auf sein Bett zu.
„Wie eine Waldfee“, dachte er.
„Ich bin Melanie Schulz, sind sie Charlie Hofer?“
„Ja, es ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen. Ich nehme an, Sie sind die Frau, die mich im Wald niederstreckte.“
„Ja, wenn sie das so ausdrücken wollen. Ich bin so froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Es war ein fürchterlicher Unfall. Ladehemmung! Bevor ich das Gewehr sichern konnte, löste sich ein Schuss. Es tut mir unendlich leid.“ Sie sah mitgenommen aus.
„Also keine Verwechselung mit einem Hirsch?“, beide lachten. Das Eis war gebrochen. Es bahnte sich ein vergnüglicher Nachmittag an.
Melanies Besuche wurden regelmäßig. Sie hatten allerlei Gemeinsamkeiten und verstanden sich auf Anhieb. Beide teilten die Liebe zu den Tieren, und Charlie erzählte viele lustige Geschichten von seiner Katze. Und in der wenigen freien Zeit arbeitete er an seinem FIMO-Projekt. Das Pferd verursachte Umarmungsattacken und Küsse von Annabelle.
In der letzten Reha-Woche spazierten Charlie und Melanie öfter durch den Park.
An einem Nachmittag sah er seine Katze aus dem Augenwinkel. Es wurde ihm mulmig. Sie verfolgte die beiden bis zur Parkbank, auf der sie sich mit einem Eis niederließen. Tallulah eilte heran und setzte sich in ihrer erhabenen Art vor Melanie und starrte sie mit ihren großen Augen unverhohlen an.
„Ich denke, das ist deine Katze“, sagte sie leise.
Charlie nickte nur und wartete auf die Aktionen, die sich anbahnten. Er hielt die Luft an und betete inständig: „Versaue mir das hier nicht, Tallulah.“
Die Katze starrte Melanie gebannt an und schlich sich, als sie damit fertig war, gemächlich davon.
„Ich glaube, wir haben ihren Segen“ , sagte er erleichtert und küsste sie.
Nachdem Charlie die Reha verlassen hatte, stand auf dem Fensterbrett seines Zimmers eine kleine Gruppe von Fröschen aus FIMO. Ein Jäger, ein Rentner mit Rollator und eine Krankenschwester, die einer gewissen Sophie ähnlich sah. Er hatte seinen Unfall dort auf der Fensterbank des Reha-Zentrums zurückgelassen.
* Zitat von Annie Wilkes aus Misery von Steven King
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